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Alles ist bei Eichendorff nicht vordergründig, sondern metaphorisch zu lesen. Mensch,
Tier, pflanzliche Natur, alles faltet sich bei ihm zu vielfacher Bedeutung auf.
Waldeinsamkeit, Morgenröte, das Blitzen eines Auges, die dem Blick sich zeigende
schlanke Mädchengestalt": sie allesamt sind nicht, was sie scheinen. Der
verborgene Sinn ist jeweils erst zu entbergen. Aus genau dem gleichen Grund kann der
Taugenichts zum Beispiel keine pikareske Novelle sein, wie von Koopmann vorgeschlagen
wurde, weil in dieser Gattung Schelmereien, wenn auch noch so unterhaltsam,
ausschließlich von der Oberfläche her erzählt werden. So ist manches bei Eichendorff
noch geheimnisvoll, lockt zu tieferem Verstehen und bezieht eben daraus seine Spannung.
Das gilt auch für die Stadt Rom, die in seinem Werk wiederholt Erwähnung findet.
Römische Spiegelungen
In der Taugenichts-Erzählung (1826) kommt der nicht so recht sein Wanderziel kennende
Held eines Tages in die Nähe Roms. Unterwegs erfuhr ich, daß ich nur noch ein paar
Meilen von Rom wäre. Da erschrack ich ordentlich vor Freude" (S. 56). Offensichtlich
berührt Rom in dem Wandersmann Innerstes, nämlich seine christlich geformten
Kindheitsvorstellungen von der heiligen Stadt, wie sie in seiner Phantasie abgelagert
sind: ... dachte ich mir Rom wie die ziehenden Wolken über mir, mit wundersamen
Bergen und Abgründen am blauen Meer, und goldnen Thoren und hohen glänzenden Thürmen,
von denen Engel
in goldenen Gewändern sangen" (S. 56).
Eichendorff war nie in Rom und so kommt es, dass weniger die Geographie Roms und der
römischen Landschaft zum Tragen kommt als vielmehr das innere Rom, wie es in der
Phantasieerinnerung gespeichert war. Rom liegt am Meer wie in Shakespeares Wintermärchen
Böhmen am Meer liegt. Das Meer leuchtete von weiten, der Himmel blitzte und
funkelte unübersehbar mit unzähligen Sternen, darunter lag die heilige Stadt" (S.
56). Je mehr sich der Taugenichts ihr nähert, desto mehr wird sie zum goldenen,
himmlischen Jerusalem der Offenbarungsverheißung. Die hohen Burgen und Thore und
goldenen Kuppeln glänzten so herrlich im hellen Mondschein, als ständen wirklich die
Engel in goldenen Gewändern auf den
Zinnen und sängen durch die stille Nacht herüber" (S. 57).
Auch der Dichter Fortunat, der Held von Eichendorffs Roman Dichter und ihre Gesellen
(1834), kommt bei Sonnenuntergang in ein ganz ähnliches Phantasie-Rom: Nur ein
Streifen des Meeres in der Ferne und das Kreuz der Peterskuppel brannten noch im
Widerschein, dazwischen der Klang unzähliger Abendglocken, und Gärten, Paläste und
einsames Gebirg unten wunderbar zerworfen - es war ihm, als zöge er in ein prächtiges
Märchen hinein" (S. 121). Dass es sich dabei um zwei verschiedene Roms, das der
Phantasie und das gegenwärtige (das seinerseits Eichendorffs Phantasie entstammt)
handelt, begreift der Dichter Otto in demselben Roman in angenehmer Abendstimmung:
,Wunderbar`, sagte er zu sich selbst, ,schon in meiner Kindheit, wie oft bei stiller
Nacht im Traume hört' ich der fernen Roma Glocken schallen, und nun, da ich hier bin,
hör' ich sie wie damals wieder aus weiter, weiter Ferne, als gäb' es noch eine andere
Roma weit hinter diesen dunkelen Hügeln`" (S. 150).
Tatsächlich gibt es bei Eichendorff noch ein weiteres Rom neben den zwei bisher
betrachteten. Es ist das antike oder, mit Eichendorff zu sprechen, das heidnische. Denn
der Italienfahrer Taugenichts muss noch, bevor er die goldene Stadt betritt, durch
eine große, einsame Haide, auf der es so grau und still war, wie im Grabe" (S.
56). Altes Gemäuer ist dort. Nachtvögel schwirren durch die Luft. Es ist ein
verwunschener Ort. Sie sagen, daß hier eine uralte Stadt und die Frau Venus
begraben liegt, und die alten Heiden zuweilen noch aus ihren Gräbern heraufsteigen und
bei stiller Nacht über die Haide gehn und die Wanderer verwirren" (S. 57). Aber der
Held lässt sich von dieser versunkenen Welt nicht anfechten und geht in seiner so
schönen Geradlinigkeit jenseits jeder Hegelschen Subjekt/Objektspaltung, die auch seine
vom Dichter so gewollte Undifferenziertheit ausmacht, durch dieses nicht ungefährliche
Haidegelände des unerlösten Heidentums auf das helle Glockengeläute christlicher
Heilshoffnung zu.
Besonders die Göttin Venus scheint Eichendorff Unheil zu symbolisieren und nach wie vor
jedem Jüngling und jeder jungen Frau, trotz jahrhundertelanger christlicher Lehre,
gefährlich werden zu können, nämlich als Versuchung irdischen Glücks, sinnlichen
Glanzes, betörender Geschlechtlichkeit, die mit der echten Liebe nichts gemein hat. War
Venus auch Eichendorffs Versuchung, da er sie so oft in seinen Dichtungen (Juanna, Annidi
und andere) geradezu körperlich sinnfällig gestaltet? Der vielfach gefährdete und
tragisch endende Dichter Otto (in Dichter und ihre Gesellen), der in Rom einer
versucherischen Venusgestalt erlegen ist, träumt: Als er recht hinsah, regte sich
das Venusbild und stieg langsam von dem marmornen
Fußgestell herab. Mit Grauen erkannte er seine Annidi, sie kam gerade auf ihn zu, eine
Marmorkälte durchdrang plötzlich alle seine Glieder, daß er erschrocken aufwachte"
(S. 154/5). Auch der Taugenichts wird durch eine römische Gräfin in eine
Verführungssituation gebracht. Aber er entkommt, wie immer geleitet von höheren
Mächten, dieser Venus und wahrt seiner schönen gnädigen Frau" die Treue.
Oftmals locken versucherische, das Sexuelle in den Vordergrund stellende Frauengestalten
bei Eichendorff die Männer, letztlich zu Untergang und Tod. Alle haben sie dunkle
Attribute, glühend schwarze Augen und Locken, während die engelgleichen, treu liebenden
Frauen mit blonden Haaren geziert sind und ihre hellen Augen in unklaren Situationen
niederschlagen.
Die heidnischen Götter, von Eichendorff als Naturkräfte verstanden, sind nach wie vor
lebendig. Sie verkörpern das bloß Triebhafte, dem es sich durch Vergeistigung zu
christlicher Liebe zu entheben gilt. Noch immer machen, in Fortunats Lied (S. 122),
Um die halb versunkenen Mauern/Die alten Götter die Rund'". Ihre alte
Zaubermacht" lebt vor allem im Frühling wieder auf; denn Frau Venus hört das
Locken, / Der Vögel heitern Chor, / Und richtet froh erschrocken / Aus Blumen sich
empor."
Aber nur, wenn Rom erwähnt wird, drängen sich beide Bereiche, der heidnische und der
christliche, nebeneinander und verwirren die Herzen. Versunknes Reich zu Füßen, /
Vom Himmel fern und nah,/Aus anderm Reich ein Grüßen - / Das ist Italia!"
(Götterdämmerung"). In demselben Gedicht noch wird Frau Venus"
ein andres Frauenbild", nämlich die Jungfrau Maria, die das Kind trägt,
entgegengestellt.
Eine weitere Sinnschichtung zu Rom scheint sich im Taugenichts bemerkbar zu machen. Seine
Bekannten während seines Romaufenthalts sind nahezu ausschließlich deutsche Künstler,
Maler aus der Nazarener-Schule, die geistig den Geniekult des Sturm und Drang und der
Klassik vertreten. Der Maler Eckbrecht vor allem überschüttet den Taugenichts mit seinen
Gedankenbandwürmern voll unsterblicher Ewigkeit" (S. 70) aus der Kunst, die zu
Eichendorffs Kunstideal, der poetischen Verehrung von Gottes Schöpfung, in vollständigem
Gegensatz stehen. Der Taugenichts wird des Geredes zum Kult des prometheisch-klassischen
Genies bald überdrüssig. Als auch noch die Versuchung durch die Venusgestalt der
schwarzhaarigen römischen Gräfin dazukommt, verlässt er Rom, um zu seinem Ideal, seiner
schönen Frau" in Deutschland zurückzukehren. Ich nahm mir nun fest vor,
dem falschen Italien mit seinen verrückten Malern, Pommeranzen und Kammerjungfern auf
ewig den Rücken zu kehren und wanderte noch zur selbigen Stunde zum Thore hinaus"
(S. 73). Sein auf ewig" ist freilich nicht so ernst gemeint. Denn kaum ist er
mit seiner schönen Frau vereint, denkt er wieder an die heilige Stadt: Und gleich
nach der Trauung reisen wir fort nach Italien, nach Rom" (S. 91). Diesmal allerdings
fährt er mit seiner Geliebten, so dass weder die alten Götter noch und insbesondere
Venus sein Vorhaben stören können. Er reist nun in ein einschichtiger gewordenes Rom,
das Rom der hellen Glocken, der strahlenden Kirchen und Paläste, das Sinnbild
dermaleinstiger Glückseligkeit.
Lucius"
In das antike Rom, durchsetzt jedoch mit Eichendorffschen Themen, führt uns seine
Verserzählung Lucius, die im Jahr seines Todes (1857) erschien, mit deren Thematik er
sich jedoch schon seit 1850 beschäftigt hatte. Lucius ist, zusammen mit seinem Freund
Nerva, ein jugendlich strahlender Held der Schlachten, der eben nach Rom zurückkehrt:
Ein Reiterfähnlein durch die blüh'nde Tiefe / Kehrt aus dem Gotenland vom
Schwertertanz / An Ruhm und Wunden reich zur Heimat wieder - / Schaulustig blicken Julia's
Gäste nieder" (S. 678). Julia, ursprünglich ein einfaches und lauteres Mädchen, in
Lucius verliebt und von ihm
wiedergeliebt, war in seiner Abwesenheit zu einer Phryne geworden, einer Venusgestalt so
betörend, dass man aus Eichendorffs üppiger Beschreibung erneut seine Faszination durch
diesen Frauentyp unschwer herauslesen kann. Träumerisch, die Lippen brennend,
bleich die Wangen, / Durch schwarzer Locken wunderbare Pracht / Kostbare Spangen, ringelnd
sich wie Schlangen, / Und aus der dunklen Augen Zaubernacht / Ein Wetterleuchten, das kein
Herz mag schonen, / Der Männer Lust, das Schrecken der Matronen" (S. 677). Als
Lucius von ihrem jetzigen Leben erfährt, wendet er sich von ihr ab.
Mit Nerva hatte er einst geschworen, die alte Roma in ihren strahlenden Tugenden, wie sie
in der res publica libera galten, wiederzuerrichten und dem Senat die Macht
zurückzugeben. Er ist, inmitten der Kaiserzeit Domitians, ein altrömischer Held voll
tatkräftiger Zukunftspläne auf Reform des verrotteten Kaiserregimes. Aufeinmal von
des letzten Berges Gipfel, / O Wunderblick! fernab das ew'ge Rom, / Das Meer aufleuchtend
durch die Waldeswipfel / Und drüber weit des klaren Himmels Dom, / Durch dessen Öde
Adler einsam zogen, / Gleichwie aus alter, größrer Zeit verflogen" (S. 679). Beim
Anblick der Stadt
verwendet der Dichter dasselbe Bild wie im Taugenichts. Rom liegt wie ein schlafender
Löwe zu Füßen des Helden, stark in seiner Kraft, unbändig im Vollbringungswillen.
Sieh', majestätisch auf den sieben Hügeln / Der Löwe ruht, den sie zum Ritt
gezäumt, / Und rückt im Schlafe an des Caesars Zügeln; / Glaub' nur - ich spür's im
Herzensgrund - es träumt, / Träumt immerfort der schlummernd hingestreckte / Noch von
der alten Zeit - o wer ihn weckte!" (S. 680).
Die römische Wirklichkeit jedoch ist bestialisch: Hinrichtungen von Menschen im Zirkus;
Mammon beherrscht alle; die Philosophen und Gelehrten sind ruhmerpicht und wenig weise;
ein Dichter macht für schöne Frauen griech'sche Oden" (S. 692); die Römer
beten Götzen, ihre Kaiser, an; Eigensucht und Sinnenlust dominieren; die Menschen sind
sich selbst entfremdet und fühlen sich unbeherrschbaren Mächten, dem Fatum,
ausgeliefert. Lucius' Idee von Rom, die er bei einem Rundgang durch die Gegend um die
Stadt sucht, wird von den Römern selbst kaum geteilt: Ob noch die alten Heldenmale
stehn, / Ob von den Bergen durch des Tag's Geschwätze / Die Wälder noch erfrischend
niederwehn, / Ob bei dem Rauschen Rom, das todeswunde, / Sich heimlich sehne noch, daß es
gesunde" (S. 691).
Domitian wird ermordet, Nerva zum Kaiser ausgerufen. Dieser vergisst, einmal auf dem
Thron, sein Versprechen der Wiederherstellung der Republik und der altrömischen Tugenden.
Lucius' ihm nun verbleibender treuer Freund ist ein im Krieg gefangener Knabe namens
Guido, der ihm, als sie christliche Hirten singen hören, Geheimnisvolles erzählt:
Es geht der Herr durch's Feld in solcher Stunde, / Da bringen sie der Welt die frohe
Kunde" (S. 688). Ihm vertraut Lucius seine Bekümmernisse an Um Roma's
Untergang, vom Vaterlande, / Von seinem Heldenruhm und seiner Schande!" (S. 694).
Guido verweist ihn auf den Unsichtbaren", der Der alten Roma Hoffart hat
zerschlagen! / Da droben ist Dein neues Vaterland" (S. 694). Erstaunt sieht Lucius
In's Aug' ihm, wie in's Himmelblau hinein" (S. 694) und will mehr von der neuen
Lehre erfahren.
Unterdessen zieht der Pöbel, der Domitians Ermordung rächen möchte, gegen die
Katakomben der Christen. Lucius stellt sich dem Mob entgegen. Plötzlich ist Julia, die
ihn immer noch liebt, bei ihm und stürzt sich über den Geliebten, der von Wunden
durchbohrt ist. Christus, Du hast gesiegt! In qualm'gen Flammen / Brach, wo ich sie
gefaßt, mir über'm Haupt / Die faule, wurmzerfreßne Welt zusammen; / Ein Stamm, vom
gift'gen Hauch der Zeit entlaubt, / Hab' ich fortan kein Vaterland hienieden, / Nimm Du
mich auf in Deines Reiches Frieden!" (S. 709). Julia folgt ihm, eine büßende
Magdalena, nach. Lucius ist damit zu einer Gestalt des Lichts" (lux) geworden.
Guido entpuppt sich als Emissär des Himmels, der Lucius' Wege gelenkt hat. Da
stockt die Schar, als ob sie Geister scheuchten, / Denn unverwundbar bei den Toten stand /
Ein Knabe dort, es strahlt mit hehrem Leuchten / Der Locken Gold und sein schneeweiß
Gewand, / Sie konnten seine Blicke nicht ertragen, / Wie Tiger vor des Menschen Auge
zagen" (S. 710).
Der Knabe aber verschwand nach Lucius' Tod. Ein seltsam Leuchten noch ging durch die
Heide, / ... / Im Morgenglanz nur schwirrten Lerchenlieder / Und in den Katakomben sang es
wieder" (S. 711). Rom, der wunde Leu" (S. 711), musste zugrunde gehen, da
die alte Welt und ihre Menschen morsch und böse geworden waren. Die Christenlehre ist ein
geschichtlicher Fortschritt. Das alte macht dem neuen Rom, dem christlichen, Babel dem
himmlischen Jerusalem Platz, das kommen musste, auch wenn die alten Götter, bleibt man
nicht wachsam und munter, noch Unheil dräuen und die Menschen, nach wie vor und
immerfort, in die Irre führen können.
Literatur:
Zu den zitierten Texten wurden folgende Ausgaben verwendet:
Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts". Text, Materialien,
Kommentar, hg. von Carel ter Haar, München 1977.
: Dichter und ihre Gesellen, hg. von Wolfgang Nehring, Stuttgart 1987.
: Lucius. In: Joseph von Eichendorff: Werke in sechs Bänden, hg. von W. Frühwald,
B. Schillbach und H. Schultz, Bd. 1, Frankfurt/Main 1987, S. 677-711.
Literatur zu dem vorliegenden Themenkomplex:
Gertrud Bauer Pickar: Aus dem Leben eines Taugenichts: Personal Landscaping in Perception
and Portrayal. Literatur in Wissenschaft und Unterricht 11, 1978, S. 23-31.
Klaus Köhnke: Homo viator. Zu Eichendorffs Erzählung Aus dem Leben eines
Taugenichts". Aurora 42, 1982, S. 24-56.
Helmut Koopmann: Um was geht es eigentlich in Eichendorffs Taugenichts"? Zur
Identifikation eines literarischen Textes. In: Josef Becker und Rolf Bergmann (Hg.):
Wissenschaft zwischen Forschung und Ausbildung. München 1975, S. 179-191.
Wolfgang Paulsen: Eichendorff und sein Taugenichts. Die innere Problematik des Dichters in
seinem Werk. Bern 1976.
Oskar Seidlin: Versuche über Eichendorff. Göttingen 1965.
Winfried Woesler: Eichendorff und die antike Mythologie. In: Michael Kessler und Helmut
Koopmann (Hg.): Eichendorffs Modernität. Tübingen 1989, S. 203-221.
Franz Strunz, Deisenhofen
Werte" und altsprachlicher Unterricht
Um die Beziehung zwischen den Werten und dem altsprachlichen Unterricht zu erläutern,
darf ich zur Vermeidung von Missverständnissen zunächst mit allgemeinen Feststellungen
beginnen.
Werterlebnis
Der Mensch besitzt von Natur aus die lebensnotwendige Fähigkeit, durch Werterlebnisse
auszuwählen, was er für wertvoll, weniger wertvoll oder für wertlos hält. Würde er
diese Selektionsfähigkeit nicht besitzen, würde er nicht einmal den einfachsten
geistigen Zugang zu dem finden, was die Welt ihm anbietet. Das zeigt sich z. B. beim
Kleinkind in der Auswahl des Spielzeugs, beim Schulkind in der Auswahl der Kinderbücher,
beim Heranwachsenden an seinen Hobbys.
Der Mensch unterscheidet nicht nur zwischen wertvoll und wertlos, sondern innerhalb der
Gegenstände, die er für wertvoll hält, erlebt er wieder Rangunterschiede, so dass sich
schon eine Rangordnung auszudifferenzieren beginnt.
Erst Rangunterschiede befähigen den Menschen, die Welt anzuschauen, natürlich niemals
die Welt in ihrer Totalität, sondern seine Welt, die von ihm ausgewählten Bereiche. Wie
ein Photograph, der ein Gebirge photographiert, nur denjenigen Teil des Gebirges mit
seiner Kamera einfängt, der ihm an seinem Standort zugewandt ist, so vermag auch die
Anschauung der Welt nur einen bestimmten Teil der Welt zu erfassen, solange der Betrachter
an seinem Standort stehen bleibt. Und wie der Photograph denjenigen Teil des Gebirges für
seine Photographie aussucht, den er für den schönsten hält, so sucht der die Welt
Anschauende denjenigen Teil der Welt aus, den er als wertvollsten erlebt. Warum er diesen
als wertvollsten erlebt, das lässt sich genau so wenig beantworten wie beim Photographen
die Frage nach dem schönsten Teil des Gebirges.
Weltanschauung
ist der elementarste Bezug eines Menschen zur Welt, zu seiner Welt. Er ist noch kein Akt
des
rationalen Denkens, sondern ein Akt der Anschauung, aber nicht der teilnahmslosen und
gleichgültigen Anschauung irgendeines beliebigen vor ihm liegenden Gegenstandes, sondern
des interessierten Anschauens der Welt.
Höchster Wert
Das, was eine Weltanschauung als das Wertvollste von allem in der Welt ansieht, was ihr
als höchster Wert gilt, kann z. B. geistiger Art sein (Gott, Kultur, Humanität etc.)
oder materieller Art (Materie, Vermögen, Egozentrismus, Genuss etc.).
Von einem solchen höchsten Wert aus vollzieht sich ein weiterer Aufbau der Rangordnung
von Werten, perspektivisch dem höchsten Wert zugeordnet. Diese Rangordnung entwickelt
sich autonom und stellt nicht etwa eine Anleihe bei der Vernunft dar.
Ohne einen höchsten Wert keine vollentfaltete Weltanschauung! Die Geschichte der
Weltanschauungen zeigt uns, dass durch Ausdifferenzierungen der Wertabstufungen eine
Vielheit von Weltanschauungen entstehen kann. Sie alle aber lassen sich auf drei
Grundtypen zurückführen, denen als höchster Wert zugrunde liegt: eine welttranszendente
Idee (z. B. Gott), eine weltimmanente Idee (z. B. Kultur) oder eine Materie (z. B.
Reichtum). Von einer dieser Ideen hat nicht nur jede Weltanschauung, sondern auch jedes
philosophische System seinen Ausgang genommen.
Ein subjektiv wie auch ein intersubjektiv überzeugender höchster Wert hat nicht etwa
vorübergehenden hypothetischen Charakter, sondern ist erschaut aus der innersten
Überzeugung des die Welt Anschauenden heraus, weil er in ihm zugleich den Grund alles
Seins und die Richtschnur alles Handelns erblickt. Es ist eine dauerhafte Weltanschauung,
da wir ja von Überzeugungen leben und sie nicht so leicht wechseln. Man kann diesen nicht
mit ,richtig` oder ,falsch` begegnen. Sie gehören nicht zum Bereich der formalen Logik.
Ein höchster Wert und seine Wertordnung sind auch der Maßstab für jede weitere, noch zu
vollziehende Wertung, für jedes Wünschen und Verlangen, aber auch für jedes Ablehnen
und Verwerfen. Sie sind also damit erkenntnisleitend und handlungsleitend. Deshalb gilt
auch umgekehrt: Wenn ich etwas erkennen will, wenn ich etwas tun will, muss das erhoffte
Ergebnis Bedeutsamkeit für mich haben. Wirkliches Erkennen und Handeln sind nicht ohne
vorausgehendes Werturteil denkbar. Wenn jemand aufgefordert wird, etwas zu erkennen oder
etwas zu tun, muss ihm der Wert seiner Aktivität einleuchten, er muss motiviert sein.
So weit die allgemeinen Feststellungen, die den Lernenden im altsprachlichen Unterricht
betreffen. Wir haben erkannt, dass die Entfaltung der Weltanschauung eines Menschen ein
langer Prozess ist, ein langer Prozess der geistigen Menschwerdung. Er ist die Grundlage
eines jeden ganzheitlichen Bildungsprozesses, über die rationalistische
Lernzielbegründung nur zum irreversiblen Schaden der Lernenden und zu ihrer eigenen
Erfolglosigkeit hinwegsehen kann.
Prägung des Wertebewusstseins" ist etwas ganz anderes und meint eigentlich das
Norm-bewusstsein". Es gibt auch nicht - wie W. Vossenkuhl ferner meint -
schlechthin die Welt".
Altsprachlicher Unterricht
Dieser elementare und entscheidende Prozess geistiger Menschwerdung erfährt nun seine
Förderung im altsprachlichen Unterricht. Denn wir stellen bei Lesestücken des
Übungsbuches und bei der Lektüre fest, dass antike Menschen Stufen der Entfaltung ihrer
Weltanschauungen in Texten niedergelegt haben. Die Rangordnung von Werten kennzeichnet
ihren Träger und zeigt sich in allem, was er denkt und tut. Die Lektüre bietet uns also
auch hierin ein Spiegelbild ihres Autors. Wir stoßen mit ihr auf seinen Wesenskern. (Für
detaillierte Ausführungen kann ich in diesem Rahmen nur auf den Beitrag verweisen:
,Subjektive
Wertungen und philosophisches Denken in der Interpretation antiker Texte` mit
Literaturhinweisen, in: Anregung, Heft 6, 1997, S. 394-403.) M. a. W.: Der Schüler lernt
den Entfaltungsprozess der verschiedenen Weltanschauungen kennen und setzt sich mit ihnen
auseinander. Er hat die Gelegenheit, sich daraufhin zu prüfen, welche ihm aufgrund seines
Nacherlebens zusagt, von welcher er sich distanziert und
welche er modifizieren würde. Es geht um ihn, sein Wesen und seine Veranlagung. Er wird
nicht indoktriniert, unterliegt keinem passiven Prägungsprozess, sondern er entfaltet in
aktivem Tun mit der Begleitung des Lehrenden seine Anlagen und spürt: Tua res agitur!
Im Werterlebnis erfährt der Lernende die Bedeutsamkeit und Werthaltigkeit eines
Gegenstandes der Welt. Er hält den Gegenstand für so bedeutsam, dass er ihn näher
kennenlernen will, ihn erforschen will, evtl. wissenschaftlich ergründen will.
Weltanschauung ist die Motivation zur Welterkenntnis". Der rationalen
Erkenntnis geht also dieses Erlebnis motivierend voraus (Max Scheler u. a.).
Im Werterlebnis findet der Mensch auch den Sinn seines Lebens. Es genügt allerdings für
die Sinnfindung nicht, sich in einer ziemlich konstanten, aber auch ebenso kühlen
Beziehung zu Gott, Mensch und Welt zu befinden, sondern diese Beziehung muss von einer
Werterfüllung getragen sein. (Rationale Diskussionen führen in der Regel zu nichts). Die
Gestaltung dieser Beziehung muss ein junger Mensch selbst vornehmen. Was hier nicht
Eigenleistung und eigenes Wachsen ist - natürlich nicht ohne Vorbilder, die durch ihr
Leben Werte aufleuchten lassen - wird nie zu einem reifen Ergebnis.
Gerade das scheint zur Zeit von sehr großer Bedeutung zu sein. Denn was suchen
diejenigen, die zu den Sekten flüchten, anderes als diese Sinnerfüllung, die ihnen sonst
(nach ihrer Meinung) nicht geboten wird? Zeigt sich hier nicht wieder das existentielle
geistige Verlangen, das wir sehr ernst zu nehmen haben? Der Mensch kann nicht ohne
elementare Werterfüllung leben! Das zeigen die Folgen ihrer Vernachlässigung in einer
allzu deutlichen Sprache. Wollen wir diese Folgen abwenden, dann sind namentlich die
Erziehungs- und Bildungsinstitutionen gefordert.
Es kann natürlich kein Zweifel daran bestehen, dass die optischen und akustischen
Erlebnisse der sinnlichen Welt heute sehr großen Reiz ausüben, leicht zugänglich sind
und andere seelische Bereiche zu überlagern drohen. Durch ihre Leerheit vermögen diese
Reize es aber niemals, einen Ersatz darzustellen, und signalisieren sehr bald ihre
Grenzen. Kennzeichnend ist ja schon ihre Beschränkung auf gewisse Altersstufen.
Was nach solchen Altersstufen an eigenem Wertempfinden beginnt, setzt sich in den
nächsten Jahren fort. Ein Oberstufenschüler ahnt schon, dass ein Kunstwerk über die
Text- bzw. Bildanalyse hinaus etwas zum Ausdruck bringt, was tieferen Sinn hat. Die
schöpferische Kraft des Künstlers hat ein Material so geformt, dass etwas Immaterielles
durch die Formung des Materials Transparenz gewinnt. Geist bedarf dieses Ausdrucks im
Material - sei es Stein, Farbe, Klang oder Wort - um sich mitteilen zu können. Das
Werk der Kunst ist nicht das Abbild eines Dinges, das hier und jetzt ist, seine Zeit und
seinen Ort im Ablauf unseres empirischen und endlichen individuellen Daseins und einen
Verweisungszusammenhang zu
dessen Belangen, Zwecken und Bedürfhissen hat, sondern es ist Idee, ewige Urform des
Seienden, es ist gleichsam ein Fenster ins Absolute, es ist das Wesentliche und Bleibende
der Erscheinungen." (Lersch, 276)
Vom emotionalen Bereich geht schließlich unsere gesamte Motivation aus. Goethe drückte
das einmal so aus: Lust und Liebe sind die Fittiche zu großen Taten". Das, was
uns erfüllt, weckt in uns die Sehnsucht nach Erneuerung oder gar nach Gestaltung in
Formen. In der umgekehrten Richtung betrachtet: Das Lernen in der Schule bedarf der
Motivation. Der Erlebnisgehalt einer Unterrichtssequenz ist das, was dem (vermeintlich
trockenen) Lernstoff nicht nur Eingang verschafft, sondern ihm auch seine Bedeutsamkeit
gibt. Wenn ein Sachzusammenhang um den Erlebnisgehalt herum gelagert ist, gibt er einen
Sinnzusammenhang kund und findet eigentlich erst so seinen ihm bestimmten Ort.
Man bedenke ferner, dass die Werterfüllung steigerbar ist und aus einer gesteigerten
Wert-erfüllung wieder stärkere Motive erwachsen. So entsteht eine sich nach oben
entwickelnde Qualitätsspirale durch gegenseitige Beeinflussung von Werterfüllung und
Motivation.
Werterfüllung und Wissenschaftlichkeit
Wissenschaft hat ihren Ort im Bereich des Erkennens, sie ist aber keine Panazee. Das Wort
von der Verwissenschaftlichung der Welt" bedeutet heute keinen Stolz mehr,
sondern die Feststellung einer bedauerlichen Tatsache und legitimiert nicht
Grenzenlosigkeit. Wir sind auf die Wissenschaft angewiesen, solange es um komplizierte und
nur durch wissenschaftliche Methoden zu erkennende Sachverhalte geht. Wert- und
Sinnzusammenhänge des Lebens fallen aber nicht in ihr Forschungsgebiet, weil sie dazu
keine Aussagen machen kann. Dass nun das, was wissenschaftlicher Methode (wegen deren
Inadäquatheit) nicht unterliegen kann, darum auch von geringerer oder gar keiner
Bedeutung sei, das ist eine immer noch hier und da anzutreffende, aber darum nicht minder
längst überholte, weil durch ihre erschreckende ideologische Einseitigkeit völlig
irrige Behauptung. Die Methoden bestimmen nicht den Gegenstand, sondern logischerweise
bestimmt der Gegenstand die Methoden.
Und wenn es für den Gegenstand gar keine Methoden gibt, bedeutet das für ihn nicht die
geringste Disqualifikation. Werte, die der Mensch nicht selbst erlebt, sondern die er bei
anders veranlagten Menschen zu verstehen sucht, lassen keine Methodik ihrer Erforschung
zu, sondern nur eine Annäherung durch das Einfühlungsvermögen. Dieses
Einfühlungsvermögen kennt in seinen Aussagen keine Verallgemeinerungen im Sinne einer
Gesetzlichkeit. Der positivistische Blickwinkel des verwissenschaftlichten Denkens sieht
darin ein Defizit. Jedoch: Wertphänomenologie und Phänomenologie des emotionalen
Lebens ist als ein völlig selbständiges, von der Logik unabhängiges Gegenstands- und
Forschungsgebiet anzusehen" (M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die
materiale Wertethik, Bern 1980, S. 83).
Gerade die Tatsache aber, dass dieses Einfühlungsvermögen individuellen Charakter
besitzt und nicht zu gleichmachenden Verallgemeinerungen führen kann, weist auf die
erfreuliche Vielfalt unserer Kultur hin. Wenn die Wertordnungen der Menschen allerdings
voneinander grundverschieden wären, würden diese Zeilen hier gar nicht entstehen. Denn
es gäbe dann keine Kommunikation unter Menschen, keine Gemeinschaftsbildung. In
Wirklichkeit sind aber viele Werterlebnisse der Menschen intersubjektiv. Sie erst machen
Gemeinschaft möglich. Nur so ist eine Kultur denkbar. (Vgl. Nic. Hartmann, Th. Litt, E.
Rothacker u.a.)
Schluss
Werterfüllung in integrierendem Zusammenhang mit rationaler Erkenntnis und rationale
Erkenntnis im integrierenden Zusammenhang mit Werterfüllung - das ist unter Ausschluss
jeder Vereinseitigung ein unabdingbarer, weil lebensentscheidender Anspruch, der zwar der
Schule, hauptsächlich aber wie diese dem Leben dient.
Herbert Zimmermann, Jülich
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