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Eichendorffs Rom 

 

 

 

Offizieller Bericht zum DAV-Kongress ´98 in Heidelberg

 

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Alles ist bei Eichendorff nicht vordergründig, sondern metaphorisch zu lesen. Mensch, Tier, pflanzliche Natur, alles faltet sich bei ihm zu vielfacher Bedeutung auf. Waldeinsamkeit, Morgenröte, das Blitzen eines Auges, die dem Blick sich zeigende „schlanke Mädchengestalt": sie allesamt sind nicht, was sie scheinen. Der verborgene Sinn ist jeweils erst zu entbergen. Aus genau dem gleichen Grund kann der Taugenichts zum Beispiel keine pikareske Novelle sein, wie von Koopmann vorgeschlagen wurde, weil in dieser Gattung Schelmereien, wenn auch noch so unterhaltsam, ausschließlich von der Oberfläche her erzählt werden. So ist manches bei Eichendorff noch geheimnisvoll, lockt zu tieferem Verstehen und bezieht eben daraus seine Spannung. Das gilt auch für die Stadt Rom, die in seinem Werk wiederholt Erwähnung findet.

Römische Spiegelungen

In der Taugenichts-Erzählung (1826) kommt der nicht so recht sein Wanderziel kennende Held eines Tages in die Nähe Roms. „Unterwegs erfuhr ich, daß ich nur noch ein paar Meilen von Rom wäre. Da erschrack ich ordentlich vor Freude" (S. 56). Offensichtlich berührt Rom in dem Wandersmann Innerstes, nämlich seine christlich geformten Kindheitsvorstellungen von der heiligen Stadt, wie sie in seiner Phantasie abgelagert sind: „ ... dachte ich mir Rom wie die ziehenden Wolken über mir, mit wundersamen Bergen und Abgründen am blauen Meer, und goldnen Thoren und hohen glänzenden Thürmen, von denen Engel
in goldenen Gewändern sangen" (S. 56).

Eichendorff war nie in Rom und so kommt es, dass weniger die Geographie Roms und der römischen Landschaft zum Tragen kommt als vielmehr das innere Rom, wie es in der Phantasieerinnerung gespeichert war. Rom liegt am Meer wie in Shakespeares Wintermärchen Böhmen am Meer liegt. „Das Meer leuchtete von weiten, der Himmel blitzte und funkelte unübersehbar mit unzähligen Sternen, darunter lag die heilige Stadt" (S. 56). Je mehr sich der Taugenichts ihr nähert, desto mehr wird sie zum goldenen, himmlischen Jerusalem der Offenbarungsverheißung. „Die hohen Burgen und Thore und goldenen Kuppeln glänzten so herrlich im hellen Mondschein, als ständen wirklich die Engel in goldenen Gewändern auf den
Zinnen und sängen durch die stille Nacht herüber" (S. 57).

Auch der Dichter Fortunat, der Held von Eichendorffs Roman Dichter und ihre Gesellen (1834), kommt bei Sonnenuntergang in ein ganz ähnliches Phantasie-Rom: „Nur ein Streifen des Meeres in der Ferne und das Kreuz der Peterskuppel brannten noch im Widerschein, dazwischen der Klang unzähliger Abendglocken, und Gärten, Paläste und einsames Gebirg unten wunderbar zerworfen - es war ihm, als zöge er in ein prächtiges Märchen hinein" (S. 121). Dass es sich dabei um zwei verschiedene Roms, das der Phantasie und das gegenwärtige (das seinerseits Eichendorffs Phantasie entstammt) handelt, begreift der Dichter Otto in demselben Roman in angenehmer Abendstimmung: „,Wunderbar`, sagte er zu sich selbst, ,schon in meiner Kindheit, wie oft bei stiller Nacht im Traume hört' ich der fernen Roma Glocken schallen, und nun, da ich hier bin, hör' ich sie wie damals wieder aus weiter, weiter Ferne, als gäb' es noch eine andere Roma weit hinter diesen dunkelen Hügeln`" (S. 150).

Tatsächlich gibt es bei Eichendorff noch ein weiteres Rom neben den zwei bisher betrachteten. Es ist das antike oder, mit Eichendorff zu sprechen, das heidnische. Denn der Italienfahrer Taugenichts muss noch, bevor er die goldene Stadt betritt, durch „eine große, einsame Haide, auf der es so grau und still war, wie im Grabe" (S. 56). Altes Gemäuer ist dort. Nachtvögel schwirren durch die Luft. Es ist ein verwunschener Ort. „Sie sagen, daß hier eine uralte Stadt und die Frau Venus begraben liegt, und die alten Heiden zuweilen noch aus ihren Gräbern heraufsteigen und bei stiller Nacht über die Haide gehn und die Wanderer verwirren" (S. 57). Aber der Held lässt sich von dieser versunkenen Welt nicht anfechten und geht in seiner so schönen Geradlinigkeit jenseits jeder Hegelschen Subjekt/Objektspaltung, die auch seine vom Dichter so gewollte Undifferenziertheit ausmacht, durch dieses nicht ungefährliche Haidegelände des unerlösten Heidentums auf das helle Glockengeläute christlicher Heilshoffnung zu.

Besonders die Göttin Venus scheint Eichendorff Unheil zu symbolisieren und nach wie vor jedem Jüngling und jeder jungen Frau, trotz jahrhundertelanger christlicher Lehre, gefährlich werden zu können, nämlich als Versuchung irdischen Glücks, sinnlichen Glanzes, betörender Geschlechtlichkeit, die mit der echten Liebe nichts gemein hat. War Venus auch Eichendorffs Versuchung, da er sie so oft in seinen Dichtungen (Juanna, Annidi und andere) geradezu körperlich sinnfällig gestaltet? Der vielfach gefährdete und tragisch endende Dichter Otto (in Dichter und ihre Gesellen), der in Rom einer versucherischen Venusgestalt erlegen ist, träumt: „Als er recht hinsah, regte sich das Venusbild und stieg langsam von dem marmornen
Fußgestell herab. Mit Grauen erkannte er seine Annidi, sie kam gerade auf ihn zu, eine Marmorkälte durchdrang plötzlich alle seine Glieder, daß er erschrocken aufwachte" (S. 154/5). Auch der Taugenichts wird durch eine römische Gräfin in eine Verführungssituation gebracht. Aber er entkommt, wie immer geleitet von höheren Mächten, dieser Venus und wahrt seiner „schönen gnädigen Frau" die Treue. Oftmals locken versucherische, das Sexuelle in den Vordergrund stellende Frauengestalten bei Eichendorff die Männer, letztlich zu Untergang und Tod. Alle haben sie dunkle Attribute, glühend schwarze Augen und Locken, während die engelgleichen, treu liebenden Frauen mit blonden Haaren geziert sind und ihre hellen Augen in unklaren Situationen niederschlagen.

Die heidnischen Götter, von Eichendorff als Naturkräfte verstanden, sind nach wie vor lebendig. Sie verkörpern das bloß Triebhafte, dem es sich durch Vergeistigung zu christlicher Liebe zu entheben gilt. Noch immer machen, in Fortunats Lied (S. 122), „Um die halb versunkenen Mauern/Die alten Götter die Rund'". Ihre „alte Zaubermacht" lebt vor allem im Frühling wieder auf; denn „Frau Venus hört das Locken, / Der Vögel heitern Chor, / Und richtet froh erschrocken / Aus Blumen sich empor."
Aber nur, wenn Rom erwähnt wird, drängen sich beide Bereiche, der heidnische und der christliche, nebeneinander und verwirren die Herzen. „Versunknes Reich zu Füßen, / Vom Himmel fern und nah,/Aus anderm Reich ein Grüßen - / Das ist Italia!" („Götterdämmerung"). In demselben Gedicht noch wird „Frau Venus" „ein andres Frauenbild", nämlich die Jungfrau Maria, die das Kind trägt, entgegengestellt.

Eine weitere Sinnschichtung zu Rom scheint sich im Taugenichts bemerkbar zu machen. Seine Bekannten während seines Romaufenthalts sind nahezu ausschließlich deutsche Künstler, Maler aus der Nazarener-Schule, die geistig den Geniekult des Sturm und Drang und der Klassik vertreten. Der Maler Eckbrecht vor allem überschüttet den Taugenichts mit seinen Gedankenbandwürmern voll „unsterblicher Ewigkeit" (S. 70) aus der Kunst, die zu Eichendorffs Kunstideal, der poetischen Verehrung von Gottes Schöpfung, in vollständigem Gegensatz stehen. Der Taugenichts wird des Geredes zum Kult des prometheisch-klassischen Genies bald überdrüssig. Als auch noch die Versuchung durch die Venusgestalt der schwarzhaarigen römischen Gräfin dazukommt, verlässt er Rom, um zu seinem Ideal, seiner „schönen Frau" in Deutschland zurückzukehren. „Ich nahm mir nun fest vor, dem falschen Italien mit seinen verrückten Malern, Pommeranzen und Kammerjungfern auf ewig den Rücken zu kehren und wanderte noch zur selbigen Stunde zum Thore hinaus" (S. 73). Sein „auf ewig" ist freilich nicht so ernst gemeint. Denn kaum ist er mit seiner schönen Frau vereint, denkt er wieder an die heilige Stadt: „Und gleich nach der Trauung reisen wir fort nach Italien, nach Rom" (S. 91). Diesmal allerdings fährt er mit seiner Geliebten, so dass weder die alten Götter noch und insbesondere Venus sein Vorhaben stören können. Er reist nun in ein einschichtiger gewordenes Rom, das Rom der hellen Glocken, der strahlenden Kirchen und Paläste, das Sinnbild dermaleinstiger Glückseligkeit.

„Lucius"

In das antike Rom, durchsetzt jedoch mit Eichendorffschen Themen, führt uns seine Verserzählung Lucius, die im Jahr seines Todes (1857) erschien, mit deren Thematik er sich jedoch schon seit 1850 beschäftigt hatte. Lucius ist, zusammen mit seinem Freund Nerva, ein jugendlich strahlender Held der Schlachten, der eben nach Rom zurückkehrt: „Ein Reiterfähnlein durch die blüh'nde Tiefe / Kehrt aus dem Gotenland vom Schwertertanz / An Ruhm und Wunden reich zur Heimat wieder - / Schaulustig blicken Julia's Gäste nieder" (S. 678). Julia, ursprünglich ein einfaches und lauteres Mädchen, in Lucius verliebt und von ihm
wiedergeliebt, war in seiner Abwesenheit zu einer Phryne geworden, einer Venusgestalt so betörend, dass man aus Eichendorffs üppiger Beschreibung erneut seine Faszination durch diesen Frauentyp unschwer herauslesen kann. „Träumerisch, die Lippen brennend, bleich die Wangen, / Durch schwarzer Locken wunderbare Pracht / Kostbare Spangen, ringelnd sich wie Schlangen, / Und aus der dunklen Augen Zaubernacht / Ein Wetterleuchten, das kein Herz mag schonen, / Der Männer Lust, das Schrecken der Matronen" (S. 677). Als Lucius von ihrem jetzigen Leben erfährt, wendet er sich von ihr ab.

Mit Nerva hatte er einst geschworen, die alte Roma in ihren strahlenden Tugenden, wie sie in der res publica libera galten, wiederzuerrichten und dem Senat die Macht zurückzugeben. Er ist, inmitten der Kaiserzeit Domitians, ein altrömischer Held voll tatkräftiger Zukunftspläne auf Reform des verrotteten Kaiserregimes. „Aufeinmal von des letzten Berges Gipfel, / O Wunderblick! fernab das ew'ge Rom, / Das Meer aufleuchtend durch die Waldeswipfel / Und drüber weit des klaren Himmels Dom, / Durch dessen Öde Adler einsam zogen, / Gleichwie aus alter, größrer Zeit verflogen" (S. 679). Beim Anblick der Stadt
verwendet der Dichter dasselbe Bild wie im Taugenichts. Rom liegt wie ein schlafender Löwe zu Füßen des Helden, stark in seiner Kraft, unbändig im Vollbringungswillen. „Sieh', majestätisch auf den sieben Hügeln / Der Löwe ruht, den sie zum Ritt gezäumt, / Und rückt im Schlafe an des Caesars Zügeln; / Glaub' nur - ich spür's im Herzensgrund - es träumt, / Träumt immerfort der schlummernd hingestreckte / Noch von der alten Zeit - o wer ihn weckte!" (S. 680).

Die römische Wirklichkeit jedoch ist bestialisch: Hinrichtungen von Menschen im Zirkus; Mammon beherrscht alle; die Philosophen und Gelehrten sind ruhmerpicht und wenig weise; ein Dichter „macht für schöne Frauen griech'sche Oden" (S. 692); die Römer beten Götzen, ihre Kaiser, an; Eigensucht und Sinnenlust dominieren; die Menschen sind sich selbst entfremdet und fühlen sich unbeherrschbaren Mächten, dem Fatum, ausgeliefert. Lucius' Idee von Rom, die er bei einem Rundgang durch die Gegend um die Stadt sucht, wird von den Römern selbst kaum geteilt: „Ob noch die alten Heldenmale stehn, / Ob von den Bergen durch des Tag's Geschwätze / Die Wälder noch erfrischend niederwehn, / Ob bei dem Rauschen Rom, das todeswunde, / Sich heimlich sehne noch, daß es gesunde" (S. 691).

Domitian wird ermordet, Nerva zum Kaiser ausgerufen. Dieser vergisst, einmal auf dem Thron, sein Versprechen der Wiederherstellung der Republik und der altrömischen Tugenden. Lucius' ihm nun verbleibender treuer Freund ist ein im Krieg gefangener Knabe namens Guido, der ihm, als sie christliche Hirten singen hören, Geheimnisvolles erzählt: „Es geht der Herr durch's Feld in solcher Stunde, / Da bringen sie der Welt die frohe Kunde" (S. 688). Ihm vertraut Lucius seine Bekümmernisse an „Um Roma's Untergang, vom Vaterlande, / Von seinem Heldenruhm und seiner Schande!" (S. 694). Guido verweist ihn auf den „Unsichtbaren", der „Der alten Roma Hoffart hat zerschlagen! / Da droben ist Dein neues Vaterland" (S. 694). Erstaunt sieht Lucius „In's Aug' ihm, wie in's Himmelblau hinein" (S. 694) und will mehr von der neuen Lehre erfahren.

Unterdessen zieht der Pöbel, der Domitians Ermordung rächen möchte, gegen die Katakomben der Christen. Lucius stellt sich dem Mob entgegen. Plötzlich ist Julia, die ihn immer noch liebt, bei ihm und stürzt sich über den Geliebten, der von Wunden durchbohrt ist. „Christus, Du hast gesiegt! In qualm'gen Flammen / Brach, wo ich sie gefaßt, mir über'm Haupt / Die faule, wurmzerfreßne Welt zusammen; / Ein Stamm, vom gift'gen Hauch der Zeit entlaubt, / Hab' ich fortan kein Vaterland hienieden, / Nimm Du mich auf in Deines Reiches Frieden!" (S. 709). Julia folgt ihm, eine büßende Magdalena, nach. Lucius ist damit zu einer Gestalt des „Lichts" (lux) geworden. Guido entpuppt sich als Emissär des Himmels, der Lucius' Wege gelenkt hat. „Da stockt die Schar, als ob sie Geister scheuchten, / Denn unverwundbar bei den Toten stand / Ein Knabe dort, es strahlt mit hehrem Leuchten / Der Locken Gold und sein schneeweiß Gewand, / Sie konnten seine Blicke nicht ertragen, / Wie Tiger vor des Menschen Auge zagen" (S. 710).

Der Knabe aber verschwand nach Lucius' Tod. „Ein seltsam Leuchten noch ging durch die Heide, / ... / Im Morgenglanz nur schwirrten Lerchenlieder / Und in den Katakomben sang es wieder" (S. 711). Rom, der „wunde Leu" (S. 711), musste zugrunde gehen, da die alte Welt und ihre Menschen morsch und böse geworden waren. Die Christenlehre ist ein geschichtlicher Fortschritt. Das alte macht dem neuen Rom, dem christlichen, Babel dem himmlischen Jerusalem Platz, das kommen musste, auch wenn die alten Götter, bleibt man nicht wachsam und munter, noch Unheil dräuen und die Menschen, nach wie vor und immerfort, in die Irre führen können.

Literatur:

Zu den zitierten Texten wurden folgende Ausgaben verwendet:

Joseph von Eichendorff: „Aus dem Leben eines Taugenichts". Text, Materialien, Kommentar, hg. von Carel ter Haar, München 1977.

— : Dichter und ihre Gesellen, hg. von Wolfgang Nehring, Stuttgart 1987.

— : Lucius. In: Joseph von Eichendorff: Werke in sechs Bänden, hg. von W. Frühwald, B. Schillbach und H. Schultz, Bd. 1, Frankfurt/Main 1987, S. 677-711.

Literatur zu dem vorliegenden Themenkomplex:

Gertrud Bauer Pickar: Aus dem Leben eines Taugenichts: Personal Landscaping in Perception and Portrayal. Literatur in Wissenschaft und Unterricht 11, 1978, S. 23-31.

Klaus Köhnke: Homo viator. Zu Eichendorffs Erzählung „Aus dem Leben eines Taugenichts". Aurora 42, 1982, S. 24-56.

Helmut Koopmann: Um was geht es eigentlich in Eichendorffs „Taugenichts"? Zur Identifikation eines literarischen Textes. In: Josef Becker und Rolf Bergmann (Hg.): Wissenschaft zwischen Forschung und Ausbildung. München 1975, S. 179-191.

Wolfgang Paulsen: Eichendorff und sein Taugenichts. Die innere Problematik des Dichters in seinem Werk. Bern 1976.

Oskar Seidlin: Versuche über Eichendorff. Göttingen 1965.

Winfried Woesler: Eichendorff und die antike Mythologie. In: Michael Kessler und Helmut Koopmann (Hg.): Eichendorffs Modernität. Tübingen 1989, S. 203-221.

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„Werte" und altsprachlicher Unterricht

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Um die Beziehung zwischen den Werten und dem altsprachlichen Unterricht zu erläutern, darf ich zur Vermeidung von Missverständnissen zunächst mit allgemeinen Feststellungen beginnen.

Werterlebnis

Der Mensch besitzt von Natur aus die lebensnotwendige Fähigkeit, durch Werterlebnisse auszuwählen, was er für wertvoll, weniger wertvoll oder für wertlos hält. Würde er diese Selektionsfähigkeit nicht besitzen, würde er nicht einmal den einfachsten geistigen Zugang zu dem finden, was die Welt ihm anbietet. Das zeigt sich z. B. beim Kleinkind in der Auswahl des Spielzeugs, beim Schulkind in der Auswahl der Kinderbücher, beim Heranwachsenden an seinen Hobbys.

Der Mensch unterscheidet nicht nur zwischen wertvoll und wertlos, sondern innerhalb der Gegenstände, die er für wertvoll hält, erlebt er wieder Rangunterschiede, so dass sich schon eine Rangordnung auszudifferenzieren beginnt.
Erst Rangunterschiede befähigen den Menschen, die Welt anzuschauen, natürlich niemals die Welt in ihrer Totalität, sondern seine Welt, die von ihm ausgewählten Bereiche. Wie ein Photograph, der ein Gebirge photographiert, nur denjenigen Teil des Gebirges mit seiner Kamera einfängt, der ihm an seinem Standort zugewandt ist, so vermag auch die Anschauung der Welt nur einen bestimmten Teil der Welt zu erfassen, solange der Betrachter an seinem Standort stehen bleibt. Und wie der Photograph denjenigen Teil des Gebirges für seine Photographie aussucht, den er für den schönsten hält, so sucht der die Welt
Anschauende denjenigen Teil der Welt aus, den er als wertvollsten erlebt. Warum er diesen als wertvollsten erlebt, das lässt sich genau so wenig beantworten wie beim Photographen die Frage nach dem schönsten Teil des Gebirges.

Weltanschauung

ist der elementarste Bezug eines Menschen zur Welt, zu seiner Welt. Er ist noch kein Akt des
rationalen Denkens, sondern ein Akt der Anschauung, aber nicht der teilnahmslosen und gleichgültigen Anschauung irgendeines beliebigen vor ihm liegenden Gegenstandes, sondern des interessierten Anschauens der Welt.

Höchster Wert

Das, was eine Weltanschauung als das Wertvollste von allem in der Welt ansieht, was ihr als höchster Wert gilt, kann z. B. geistiger Art sein (Gott, Kultur, Humanität etc.) oder materieller Art (Materie, Vermögen, Egozentrismus, Genuss etc.).
Von einem solchen höchsten Wert aus vollzieht sich ein weiterer Aufbau der Rangordnung von Werten, perspektivisch dem höchsten Wert zugeordnet. Diese Rangordnung entwickelt sich autonom und stellt nicht etwa eine Anleihe bei der Vernunft dar.
Ohne einen höchsten Wert keine vollentfaltete Weltanschauung! Die Geschichte der Weltanschauungen zeigt uns, dass durch Ausdifferenzierungen der Wertabstufungen eine Vielheit von Weltanschauungen entstehen kann. Sie alle aber lassen sich auf drei Grundtypen zurückführen, denen als höchster Wert zugrunde liegt: eine welttranszendente Idee (z. B. Gott), eine weltimmanente Idee (z. B. Kultur) oder eine Materie (z. B. Reichtum). Von einer dieser Ideen hat nicht nur jede Weltanschauung, sondern auch jedes philosophische System seinen Ausgang genommen.
Ein subjektiv wie auch ein intersubjektiv überzeugender höchster Wert hat nicht etwa vorübergehenden hypothetischen Charakter, sondern ist erschaut aus der innersten Überzeugung des die Welt Anschauenden heraus, weil er in ihm zugleich den Grund alles Seins und die Richtschnur alles Handelns erblickt. Es ist eine dauerhafte Weltanschauung, da wir ja von Überzeugungen leben und sie nicht so leicht wechseln. Man kann diesen nicht mit ,richtig` oder ,falsch` begegnen. Sie gehören nicht zum Bereich der formalen Logik.
Ein höchster Wert und seine Wertordnung sind auch der Maßstab für jede weitere, noch zu vollziehende Wertung, für jedes Wünschen und Verlangen, aber auch für jedes Ablehnen und Verwerfen. Sie sind also damit erkenntnisleitend und handlungsleitend. Deshalb gilt auch umgekehrt: Wenn ich etwas erkennen will, wenn ich etwas tun will, muss das erhoffte Ergebnis Bedeutsamkeit für mich haben. Wirkliches Erkennen und Handeln sind nicht ohne vorausgehendes Werturteil denkbar. Wenn jemand aufgefordert wird, etwas zu erkennen oder etwas zu tun, muss ihm der Wert seiner Aktivität einleuchten, er muss motiviert sein.

So weit die allgemeinen Feststellungen, die den Lernenden im altsprachlichen Unterricht betreffen. Wir haben erkannt, dass die Entfaltung der Weltanschauung eines Menschen ein langer Prozess ist, ein langer Prozess der geistigen Menschwerdung. Er ist die Grundlage eines jeden ganzheitlichen Bildungsprozesses, über die rationalistische Lernzielbegründung nur zum irreversiblen Schaden der Lernenden und zu ihrer eigenen Erfolglosigkeit hinwegsehen kann.

„Prägung des Wertebewusstseins" ist etwas ganz anderes und meint eigentlich das „Norm-bewusstsein". Es gibt auch nicht - wie W. Vossenkuhl ferner meint - schlechthin „die Welt".

Altsprachlicher Unterricht

Dieser elementare und entscheidende Prozess geistiger Menschwerdung erfährt nun seine Förderung im altsprachlichen Unterricht. Denn wir stellen bei Lesestücken des Übungsbuches und bei der Lektüre fest, dass antike Menschen Stufen der Entfaltung ihrer Weltanschauungen in Texten niedergelegt haben. Die Rangordnung von Werten kennzeichnet ihren Träger und zeigt sich in allem, was er denkt und tut. Die Lektüre bietet uns also auch hierin ein Spiegelbild ihres Autors. Wir stoßen mit ihr auf seinen Wesenskern. (Für detaillierte Ausführungen kann ich in diesem Rahmen nur auf den Beitrag verweisen: ,Subjektive
Wertungen und philosophisches Denken in der Interpretation antiker Texte` mit Literaturhinweisen, in: Anregung, Heft 6, 1997, S. 394-403.) M. a. W.: Der Schüler lernt den Entfaltungsprozess der verschiedenen Weltanschauungen kennen und setzt sich mit ihnen auseinander. Er hat die Gelegenheit, sich daraufhin zu prüfen, welche ihm aufgrund seines Nacherlebens zusagt, von welcher er sich distanziert und
welche er modifizieren würde. Es geht um ihn, sein Wesen und seine Veranlagung. Er wird nicht indoktriniert, unterliegt keinem passiven Prägungsprozess, sondern er entfaltet in aktivem Tun mit der Begleitung des Lehrenden seine Anlagen und spürt: Tua res agitur!

Im Werterlebnis erfährt der Lernende die Bedeutsamkeit und Werthaltigkeit eines Gegenstandes der Welt. Er hält den Gegenstand für so bedeutsam, dass er ihn näher kennenlernen will, ihn erforschen will, evtl. wissenschaftlich ergründen will.
Weltanschauung ist die Motivation zur „Welterkenntnis". Der rationalen Erkenntnis geht also dieses Erlebnis motivierend voraus (Max Scheler u. a.).

Im Werterlebnis findet der Mensch auch den Sinn seines Lebens. Es genügt allerdings für die Sinnfindung nicht, sich in einer ziemlich konstanten, aber auch ebenso kühlen Beziehung zu Gott, Mensch und Welt zu befinden, sondern diese Beziehung muss von einer Werterfüllung getragen sein. (Rationale Diskussionen führen in der Regel zu nichts). Die Gestaltung dieser Beziehung muss ein junger Mensch selbst vornehmen. Was hier nicht Eigenleistung und eigenes Wachsen ist - natürlich nicht ohne Vorbilder, die durch ihr Leben Werte aufleuchten lassen - wird nie zu einem reifen Ergebnis.

Gerade das scheint zur Zeit von sehr großer Bedeutung zu sein. Denn was suchen diejenigen, die zu den Sekten flüchten, anderes als diese Sinnerfüllung, die ihnen sonst (nach ihrer Meinung) nicht geboten wird? Zeigt sich hier nicht wieder das existentielle geistige Verlangen, das wir sehr ernst zu nehmen haben? Der Mensch kann nicht ohne elementare Werterfüllung leben! Das zeigen die Folgen ihrer Vernachlässigung in einer allzu deutlichen Sprache. Wollen wir diese Folgen abwenden, dann sind namentlich die Erziehungs- und Bildungsinstitutionen gefordert.

Es kann natürlich kein Zweifel daran bestehen, dass die optischen und akustischen Erlebnisse der sinnlichen Welt heute sehr großen Reiz ausüben, leicht zugänglich sind und andere seelische Bereiche zu überlagern drohen. Durch ihre Leerheit vermögen diese Reize es aber niemals, einen Ersatz darzustellen, und signalisieren sehr bald ihre Grenzen. Kennzeichnend ist ja schon ihre Beschränkung auf gewisse Altersstufen.
Was nach solchen Altersstufen an eigenem Wertempfinden beginnt, setzt sich in den nächsten Jahren fort. Ein Oberstufenschüler ahnt schon, dass ein Kunstwerk über die Text- bzw. Bildanalyse hinaus etwas zum Ausdruck bringt, was tieferen Sinn hat. Die schöpferische Kraft des Künstlers hat ein Material so geformt, dass etwas Immaterielles durch die Formung des Materials Transparenz gewinnt. Geist bedarf dieses Ausdrucks im Material - sei es Stein, Farbe, Klang oder Wort - um sich mitteilen zu können. „Das Werk der Kunst ist nicht das Abbild eines Dinges, das hier und jetzt ist, seine Zeit und seinen Ort im Ablauf unseres empirischen und endlichen individuellen Daseins und einen Verweisungszusammenhang zu
dessen Belangen, Zwecken und Bedürfhissen hat, sondern es ist Idee, ewige Urform des Seienden, es ist gleichsam ein Fenster ins Absolute, es ist das Wesentliche und Bleibende der Erscheinungen." (Lersch, 276)

Vom emotionalen Bereich geht schließlich unsere gesamte Motivation aus. Goethe drückte das einmal so aus: „Lust und Liebe sind die Fittiche zu großen Taten". Das, was uns erfüllt, weckt in uns die Sehnsucht nach Erneuerung oder gar nach Gestaltung in Formen. In der umgekehrten Richtung betrachtet: Das Lernen in der Schule bedarf der Motivation. Der Erlebnisgehalt einer Unterrichtssequenz ist das, was dem (vermeintlich trockenen) Lernstoff nicht nur Eingang verschafft, sondern ihm auch seine Bedeutsamkeit gibt. Wenn ein Sachzusammenhang um den Erlebnisgehalt herum gelagert ist, gibt er einen Sinnzusammenhang kund und findet eigentlich erst so seinen ihm bestimmten Ort.

Man bedenke ferner, dass die Werterfüllung steigerbar ist und aus einer gesteigerten Wert-erfüllung wieder stärkere Motive erwachsen. So entsteht eine sich nach oben entwickelnde Qualitätsspirale durch gegenseitige Beeinflussung von Werterfüllung und Motivation.

Werterfüllung und Wissenschaftlichkeit

Wissenschaft hat ihren Ort im Bereich des Erkennens, sie ist aber keine Panazee. Das Wort von der „Verwissenschaftlichung der Welt" bedeutet heute keinen Stolz mehr, sondern die Feststellung einer bedauerlichen Tatsache und legitimiert nicht Grenzenlosigkeit. Wir sind auf die Wissenschaft angewiesen, solange es um komplizierte und nur durch wissenschaftliche Methoden zu erkennende Sachverhalte geht. Wert- und Sinnzusammenhänge des Lebens fallen aber nicht in ihr Forschungsgebiet, weil sie dazu keine Aussagen machen kann. Dass nun das, was wissenschaftlicher Methode (wegen deren Inadäquatheit) nicht unterliegen kann, darum auch von geringerer oder gar keiner Bedeutung sei, das ist eine immer noch hier und da anzutreffende, aber darum nicht minder längst überholte, weil durch ihre erschreckende ideologische Einseitigkeit völlig irrige Behauptung. Die Methoden bestimmen nicht den Gegenstand, sondern logischerweise bestimmt der Gegenstand die Methoden.
Und wenn es für den Gegenstand gar keine Methoden gibt, bedeutet das für ihn nicht die geringste Disqualifikation. Werte, die der Mensch nicht selbst erlebt, sondern die er bei anders veranlagten Menschen zu verstehen sucht, lassen keine Methodik ihrer Erforschung zu, sondern nur eine Annäherung durch das Einfühlungsvermögen. Dieses Einfühlungsvermögen kennt in seinen Aussagen keine Verallgemeinerungen im Sinne einer Gesetzlichkeit. Der positivistische Blickwinkel des verwissenschaftlichten Denkens sieht darin ein Defizit. Jedoch: „Wertphänomenologie und Phänomenologie des emotionalen Lebens ist als ein völlig selbständiges, von der Logik unabhängiges Gegenstands- und Forschungsgebiet anzusehen" (M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bern 1980, S. 83).

Gerade die Tatsache aber, dass dieses Einfühlungsvermögen individuellen Charakter besitzt und nicht zu gleichmachenden Verallgemeinerungen führen kann, weist auf die erfreuliche Vielfalt unserer Kultur hin. Wenn die Wertordnungen der Menschen allerdings voneinander grundverschieden wären, würden diese Zeilen hier gar nicht entstehen. Denn es gäbe dann keine Kommunikation unter Menschen, keine Gemeinschaftsbildung. In Wirklichkeit sind aber viele Werterlebnisse der Menschen intersubjektiv. Sie erst machen Gemeinschaft möglich. Nur so ist eine Kultur denkbar. (Vgl. Nic. Hartmann, Th. Litt, E. Rothacker u.a.)

Schluss

Werterfüllung in integrierendem Zusammenhang mit rationaler Erkenntnis und rationale Erkenntnis im integrierenden Zusammenhang mit Werterfüllung - das ist unter Ausschluss jeder Vereinseitigung ein unabdingbarer, weil lebensentscheidender Anspruch, der zwar der Schule, hauptsächlich aber wie diese dem Leben dient.

antikinitiale2.jpg (4138 Byte)  Herbert Zimmermann, Jülich