|
Die geistigen Grundlagen der zukünftigen
europäischen
Wertegemeinschaft
Latein und das nächste Millennium
Rezeptionsgeschichte als Lexikon
Erziehung im humanistischen Geist?
Elefant und Ameise in der römischen Literatur
Weltbürgertum in der Antike
Ehrung für Klaus Sallmann
Dank an Peter Petersen
Glückwünsche an Hans-Joachim
Glücklich
Die geistigen Grundlagen der zukünftigen europäischen
Wertegemeinschaft
Bericht über ein internationales Kooperationsseminar der Association
Internationale des Professeurs de Philosophie (AIPPh) und der
Konrad-Adenauer-Stiftung, Bildungswerk Münster
Anfang dieses Jahres veranstaltete die Association Internationale des Professeurs de
Philosophie (AIPPh) in Kooperationmit dem Bildungswerk Münster der
Konrad-Adenauer-Stiftung in Minden/Westfalen ein internationales Seminar, in dem es um die
Frage nach den Kriterien einer künftigen europäischen Identität und einer europäischen
Werteordnung ging. Anlass zu diesem Seminar war die Frage, was europäische Dozenten und
Lehrer der Philosophie aus ihrer Sicht tun können, um der europäischen Jugend Richtungen
und Wege zu zeigen, die auch in Zukunft das Leben in einer menschenwürdigen Gesellschaft
ermöglichen.
Gegenwärtig - an der Schwelle des 21. Jahrhunderts bzw. des dritten Jahrtausends - stehen
wir im Aufbruch in eine neue Zeit, die einen sich schon seit langem anbahnenden
elementaren Wandel des gesellschaftlichen Lebens mit sich bringt. Die Herausforderungen
durch technologischen Wandel, durch wissenschaftliche Entwicklungen, die in ihrer
Anwendung z. T. gewohnte Wege verlassen und traditionelle Werte in Frage stellen, durch
politische und gesellschaftliche Umwälzungen und
zunehmende Globalisierung nicht nur in der Wirtschaft, sondern in vielen Lebensbereichen
haben längst die Zukunft bewusster in das Leben der Menschen treten lassen. Unsicherheit,
Pessimismus, Desorientierung sind vielfach die Folgen.
Wie können die Menschen diesen Folgen begegnen, wie können sie in Zukunft ihr Leben
ordnen? Denn nur ein geordnetes Leben gibt auf Dauer Sicherheit und inneren Frieden.
Zukunft kann nicht ohne Bindung gedacht werden, sie hat ihre Basis in der Gegenwart, und
diese ist das Ergebnis der Vergangenheit.
Wenn wir versuchen, Leitlinien für eine gemeinsame europäische Zukunft zu erarbeiten,
müssen wir in ihnen das kontinuierlich Beständige aufzeigen. Ein solches Ziel macht eine
Neuorientierung unserer traditionellen Wertvorstellungen notwendig. Praktisch bedeutet
dies, dass wir ihre Wurzeln und ihre Entwicklung in der griechischen Antike und im
römisch-christlichen Abendland aufsuchen und die geistigen Kräfte und fundamentalen
Werte erkennen, die im Laufe der Geschichte das gegenwärtige Europa geprägt haben.
Kontinuität können wir schaffen, indem wir die Leitlinien für unsere
Zukunft an überzeitlichen Werten wie Rationalität, Freiheit und Verantwortung,
Menschenwürde und Menschenrechten, orientieren.
Das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer solchen Orientierung zu entwickeln ist
vornehmlich ein philosophische Aufgabe. Die Philosophie ist von ihrem Selbstverständnis
her, sich mit den Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Erkennens und Wissens zu
befassen, besonders gut geeignet, den Menschen verbindliche ethische Maßstäbe für ein
verantwortungsbewusstes Handeln zu geben. Allerdings gibt die Philosophie bzw. die
philosophische Ethik keine konkreten Anleitungen oder gar Rezepte, aber sie kann dem
Menschen ein Bewusstsein für die notwendigen Voraussetzungen für ein
maßvolles, vernünftiges Leben entwickeln. Die Philosophie kann dem Menschen keine
Entscheidungen abnehmen, aber sie kann ihn zu einer wohlverstandenen Aufklärung im Sinne
Kants befähigen, selbst zu denken" und sich im Denken zu
orientieren".
Dieser gedanklichen Konzeption folgten die Vorträge, Arbeitskreise und eine
Podiumsdiskussion.
Das Einführungsreferat Die geistigen Wurzeln der europäischen Wertegemeinschaft in
Antike und römisch-christlichem Abendland - angedeutet an Beispielen von Rationalität
und Menschenrechten" hielt Prof. Dr. Friedrich Maier, Humboldt-Universität zu
Berlin, Vorsitzender des DAV. Als die großen Errungenschaften, die Europa in die Lage
versetzten, die Welt zu verändern, hob Friedrich Maier einerseits die Rationalität mit
den ihr zugeordneten Werten Freiheit und Verantwortung und andererseits die Menschenrechte
mit den ihnen zugeordneten Werten Menschenwürde und Toleranz
hervor, die sich gleichzeitig als die tragenden Werte unserer heutigen Kultur bestimmen.
Der Referent markierte begrifflich prägnant wesentliche Stationen auf dem Weg der
Entdeckung und der Entwicklung der Rationalität in der griechischen (Natur)-philosophie
bzw. wissenschaft von der ,~ñ÷Þ` des Thales, einem noch sinnlich bestimmbaren Prinzip,
über das ,ôN eðåéñïí` des Anaximander, ein spekulatives, von konkreter
Anschaulichkeit unabhängiges Prinzip, die Zahl des Pythagoras als der dem Sein
zugrundeliegenden Ordnung, über die Entität des Parmenides, einer stabilen Größe
gegenüber der verwirrenden Vielfalt der Erscheinungen, bis hin zu Heraklits Logos oder
Weltvernunft, dem ordnenden Prinzip, das die unter Spannung stehende Harmonie in der Welt
(Natur) hervorbringt.
Die Entdeckung des Geistes", so zeigte Fr. Maier anschaulich am Beispiel von
Anaximanders ,ôN eðåéñïí`, verdankt sich dem Sprung vom Konkreten in die
Abstraktion, einem Phänomen, das als das schlechthin Gegebene seiner Art (,Ding an sich`)
bestimmt werden konnte. Dieses für die griechische Sprache typische Merkmal, die
Möglichkeit zur Abstraktion durch die Neutrumbildung von substantivierten Adjektiven
wurde die Basis einer für Griechenland und für Europa charakteristischen
Wissenschaftshaltung, wie Friedrich Maier weiter ausführte.
Die zum ,ôN eðåéñïí` des Anaximander analoge Erfindung neuer Götter"
des Sokrates, nämlich die Bildung des Abstraktums ,ôN äáéìüíéïí ` (das
Göttliche) war jedoch für Sokrates, so betonte Maier, nicht mehr nur ein
wissenschaftlich neutrales Hilfsmittel, eine Methode, sondern wurde zur moralischen
Instanz, zu einem Kriterium des Gewissens" (,die innere Stimme`). Ihm kam es
auf die
Selbsterkennmis des Menschen, auf die ,gewissenhafte` Begründung und Verantwortung seines
Handelns an. Daher richtete sich Sokrates' Widerstand gegen den aufkommenden Freigeist und
gegen die Sophistik, auch gegen die Naturphilosophie, deren Totalanspruch von Wahrheit und
Wissenschaft er strikt ablehnte. Mit Recht spricht man von der sokratischen Wende, einer
Wende von der Natur zum Menschen. Die bleibende Leistung des Sokrates, so fasste Maier
zusammen, ist die Tatsache, dass er wissenschaftliches Streben und ethische Orientierung
eng zusammengebracht und der Philosophie eine
neue Dimension gegeben hat.
Aufschlussreich erschien der Hinweis Friedrich Maiers, dass bereits vor Sokrates Stimmen
des Unmuts laut wurden, die Widerstand gegen die Rationalität und ihre Vertreter, die
Philosophie hervorriefen. Ihre Skepsis richtete sich gegen einen auf bloßer Rationalität
beruhenden, Traditionen zerstörenden Fortschritt, was Fr. Maier auch am Beispiel des
Euripides (Die Bacchantinnen"), eines extremen Aufklärers, erläuterte.
Offensichtlich hat die griechische Aufklärung selbst infolge ihrer teilweisen
Übersteigerung bereits die Ambivalenz des wissenschaftlichen Fortschritts erahnen oder
sogar bewusst werden lassen, eine Problematik, deren Ursache im Menschen selbst liegt.
In diesem Zusammenhang erinnerte Maier an Solon, der schon die Einbindung der Freiheit des
Individuums in den Rahmen der politischen Gemeinschaft voraussetzt, und an Herodot, der
die Freiheit, untrennbar verbunden mit Sophia (ratio, Klugheit, oder Fähigkeit zur
geistigen Durchdringung der Welt, wie Friedrich Maier diesen Begriff deutete) als die
konstitutiven Elemente des griechischen Wesens bestimmt, aber zugleich immer unter
König íüìïò" (Gesetz, Sitte, Brauch) stehend, also einem den Menschen von
außen vorgegebenen Ordnungsprinzip.
In dieser Einbindung des Menschen in die politische Gemeinschaft ist bereits der Gedanke
der Würde des Menschen enthalten, wenngleich nicht entwickelt. Der Weg zu den
Menschenrechten und ihrer Einhaltung war noch ein sehr langer Weg im Gegensatz zur
Entwicklung der Rationalität.
In den folgenden Ausführungen verfolgte Friedrich Maier den weiteren Weg der
Rationalität: Bei den Römern fand die griechische theoretische Rationalität ohne
praktischen Bezug keinen Anklang, und die christliche Theologie bediente sichihrer nur zur
wissenschaftlichen Fundierung von Glaubenswahrheiten. Durch Kopernikus' terra
movetur" geriet das antik-christliche Weltbild ins Wanken. Die Erde wurde zu einem zu
erforschenden Objekt. Nunmehr stand das Streben nach
Wissen über die Erde im Vordergrund, da es Macht bedeutet.
Francis Bacon (1561-1621) wurde der Bahnbrecher der Herrschaft des naturwissenschaftlichen
Denkens. Sein Ziel war es, in die neue Welt des Geistes zu ziehen, Wissen zu vermehren und
in scharfe Opposition zur Scholastik zu treten. Gegenüber der griechischen spekulativen
Philosophie nahm er aber eine ablehnende Haltung ein, da sie zu keinen praktischen
Ergebnissen führt. Für ihn zählte die Naturwissenschaft, denn diese bringe praktisch
verwertbares Wissen im Bereich der
Natur hervor und diese allein führe zur Herrschaft über die Natur, zur Herrschaft über
den Menschen. Es ist Bacon, der die Dichotomie zwischen den Geistes- und
Naturwissenschaften mit ihrer ungünstigen Auswirkung angebahnt hat.
Diese neue Onentierung der Wissenschaft, die sich ausdrücklich gegen die überkommenen
Denkrichtungen und Weltbilder wandte, gründete sich dennoch auf die elementaren
Prinzipien und Aussagen dieser Tradition, wie Maier weiter ausführte. Die Physiker der
Neuzeit bedienten sich der Grundlagen wissenschaftlicher Mathematik, z. B. der Abstraktion
der Zahl, um modellhaft das Sein hinter den sichtbaren Erscheinungen zu erfassen und dann
empirisch die Richtigkeit zu überprüfen - ein Weg, der zu immer neuen, tieferen
Erkenntnissen führte. 1773 konnte Condorcet im Sinne Bacons noch optimistisch
prophezeien, die Natur habe der Vervollkommnung der menschlichen Fähigkeiten keine
Grenzen gesetzt.
Das Bewusstsein der Ambivalenz des wissenschaftlich-technischen Fortschritts wurde erst
ca. zweieinhalbtausend Jahre nach Sokrates wieder lebendig, das Bewusstsein, dass
wissenschaftliche Rationalität untrennbar mit der Erkenntnis ihrer moralischen
Bedingtheit verbunden ist. Z. B. hat der Philosoph Hans Jonas in seinem Buch Prinzip
Verantwortung" bewusst die Unheilsdrohung des
Baconschen Ideals" und die Katastrophengefahr der naturwissenschaftlichen
Forschungsdynamik gebrandmarkt.
Damit wiederholen sich die warnenden Stimmen der Antike vor der Gefahr einer alle
Erwartungen übersteigenden Rationalität ebenso wie der Appell an die menschliche
Vernunft, die wissenschaftliche Leistungskraft an die Verpflichtung gegenüber der
menschlichen Gemeinschaft zu binden.
Der zweite von Friedrich Maier genannte fundamentale Wert der Menschenrechte betrifft
ebenso wie der Rationalismus unmittelbar die Existenz des Menschen wie die Rationalität.
Die Menschenrechte haben die Achtung der Würde desMenschen zur Grundlage, deren erste
Anzeichen, so legte Fr. Maier unter Berufung auf das Buch Wie universal sind die
Menschenrechte?" von Hans Maier dar, in den Anfängen der europäischen Geschichte zu
finden sind. Schon in der griechischen Geschichtsschreibung (bei Thukydides) und der
Tragödie (bei Sophokles) gibt es Spuren der Achtung der Menschenwürde. Thukydides
diagnostiziert das als Ungerechtigkeit empfundene Willkürrecht, das sich die Athener
gegenüber den besiegten Meliern herausnehmen; Sophokles verurteilt den Willkürerlass des
Kreon, auf Grund dessen Antigone bestraft wird, weil sie die ungeschriebenen Gesetze der
Götter befolgt, indem sie durch die Bestattung ihres Bruders dessen Würde nach seinem
Tod achtet. In beiden Beispielen stellt sich die Menschenwürde als bemerkenswerte Größe
der politischen Auseinandersetzung, als eine Denkmöglichkeit dar.
ln der lateinischen Literatur findet sich bei Augustinus in der Schrift Über den
gerechten Krieg" die Aussage, dass zur Wahrung der Würde des Menschen ein gerechter
Krieg zur Wehr gegen die Ungerechtigkeit der Feinde sogar notwendig sei.
Mit diesem Beispiel führt Maier zu einem Kernproblem der Antike, in dem es um die
Menschenwürde geht, zu dem Verhältnis von Herren und Sklaven. In der Antike selbst (und
zwar in der Sophistik und der Stoa) gab es bereits Gegenstimmen gegen die von Aristoteles
in dem Satz: Es gibt Menschen, die von Natur aus Sklaven sind" fundamentierte
,Ungleichheitstheorie`. Die Grundlegung der Menschenrechte erfolgte also bereits in der
sophistischen und stoischen Lehre über das Naturrecht. Es sind aber nur Ansätze, die
erst durch die christliche Lehre von der Gleichheit aller Menschen weite Anerkennung
finden konnten. Andererseits spaltete die dogmatische Theologie, die sich von der Bibel
entfernte und sich antike Denkpositionen zu eigen machte, die Menschheit im Mittelalter
auf. Das daraus erwachsende Wertedilemma stellte Friedrich Maier eindrucksvoll an einem
Beispiel dar: Der Bildungshumanismus, basierend auf der Tradition, befürwortet die
Unterwerfung und Missionierung der Indianer durch die Spanier. Der Gesinnungshumanismus
geht aus von der Toleranz und fordert naturgegebenes Recht für die Indianer unter
Berufung auf ein göttliches Gesetz.
Zur endgültigen Durchsetzung der Menschenrechte kam es bekanntlich erst im 18.
Jahrhundert, als sie im Manifest der Erklärung der Menschenrechte 1789 gesetzlich
verankert wurden. Wenn auch die Menschenrechte argumentativ erstritten, politisch
erkämpft und gesetzlich verankert wurden, so warnte Maier vor übertriebenem Optimismus,
weil es keine dauerhafte Gewähr für die Notwendigkeit eines sie tragenden moralischen
Fundaments gebe.
Abschließend führte Friedrich Maier noch einmal den existentiellen Zusammenhang des
Wertkomplexes vonMenschenrechten und Menschenwürde mit demjenigen von Rationalität,
Freiheit und Verantwortung eindrucksvoll an den historischen Beispielen des Kolonialismus
und Imperialismus vor Augen. Der von Europäern ausgehende Kolonialismus brachte rational
begründetes, Natur und Menschen beherrschendes (imperiales) Denken - analog dem
römischen Imperialismus - über die Welt, während der germanische Imperialismus, der
instrumentellen Vernunft folgend, die Forderungen des Gespürs für Moral und
Menschlichkeit missachtete (nach Finkielkraut).
Dennoch bleiben die Werte des Rationalismus, Freiheit und Verantwortung der Wissenschaft
auf der einen Seite und die Menschenrechte verbunden mit der Menschenwürde und Toleranz
auf der anderen Seite die großen Errungenschaften Europas für die Menschheit. Diese
bilden die Identität Europas. Im Bewusstsein dieser Identität sollten sich die Völker
Europas als eine europäische Gemeinschaft begreifen und auf die überkommene europäische
Kultur bauen, um sich auch in Zukunft im Wettbewerb mit anderen Kulturen zu behaupten,
lautete die Empfehlung Friedrich Maiers.
Den zweiten Vortrag hielt Dr. Peter Schulz, Privatdozent an der Universität Lugano und an
der Kath. Universität Eichstätt zum Thema: Die Aufgabe der Philosophie angesichts
der europäischen Wertegemeinschaft". Dr. Schulz ging aus von der Frage, wie die
Philosophie Orientierungshilfe geben kann angesichts von Wirtschaftskrisen, Bedrohungen
durch Entwicklungen im Wissenschaftsbereich (z. B. im Bereich der Reproduktionsmedizin),
die ein solches Ausmaß angenommen haben, dass man sich fragt, ob die Menschheit diese
Krisen überhaupt meistert. Die Antwort auf diese Frage baute Dr.
Schulz in drei Schritten auf.
Der erste Schritt diente der Klärung des neuzeitlichen Selbstverständnisses der
Philosophie. Heutzutage, so stellte Dr. Schulz fest, ist der Philosophie die seit jeher
eigene Verbindlichkeit in dem Maße verloren gegangen, wie sie sich aus wichtigen
Bereichen des Lebens zurückgezogen hat. Er hielt es für hilfreich, den Kantschen
,Weltbegriff der Philosophie`, den Kant gegen den Schulbegriff (der die Philosophie nach
Meinung von Schulz vielfach auf die Bedeutung von Denkmalpflege" abwertet) klar
abgrenzt, zu betrachten. Der Weltbegriff der Philosophie bezieht sich auf das, was
jedermann im Weltganzen ,notwendig interessiert`. Als Wissenschaft verschafft er die
Klarheit darüber, was von all dem, was gewusst werden kann, für den Menschen auch
wissenswert ist. In Anlehnung an diese Auffassung Kants sah Schulz eine mögliche
Orientierungsleistung der Philosophie für den Menschen angesichts der gegenwärtigen
Herausforderungen, wenn sie sich dem Bereich zuwendet, in dem klare durch den Weltbegriff
vorgezeichnete Aufgaben vorgegeben sind. Die Philosophie darf sich allerdings nicht damit
begnügen, Prinzipienwissen auf der Ebene zeitloser Abstraktionen zu formulieren. Es
bedarf der Einsicht in die konkreten Strukturen der Welt und der Fähigkeit zu beurteilen,
ob alle Erkenntnisse der Bestimmung des Menschen angemessen ist.
Im zweiten Teil beschrieb Schulz die Herausforderungen des wissenschaftlich-technischen
Fortschritts in der konkreten durch Wissenschaft geprägten Welt. Der
wissenschaftlich-technische Fortschritt hat in sich selbst kein Maß, und die
Leistungsfähigkeit von Wissenschaft und technischer Rationalität ist allein noch keine
hinreichende Bedingung für einen humanen Wert. Heute ist die Naturforschung mit dem
sozialen und politischen Leben unentwirrbar verstrickt, so führt Schulz die Argumentation
weiter, deshalb bedarf es eines vernünftigen Maßes, welches die wissenschaftliche
Rationalität leitet und
orientiert. Der Mensch, der sich selber Daseinsbedingungen geschaffen hat, denen er nicht
mehr gewachsen ist, bedarf einer brauchbaren, vernunftgemäßen Orientierung, welche nur
die philosophische Ethik geben kann, aber nur unter der Bedingung, dass diese die
Lebenswirklichkeit der modernen Gesellschaft, welche Gegenwart und Zukunft auf
wissenschaftliche und technische Rationalität setzt, nicht außer Acht lässt. Schulz
nannte drei Aspekte dieser modernen Lebenswirklichkeit: a) Der wissenschaftlich-technische
Fortschritt vollzieht sich anonym. b) Das Problem der Informationsgesellschaft besteht
darin, dass Wissen und Information auseinandertreten. c) Die Gentechnologie kann den
Menschen in die Lage versetzen, seine eigene Natur zu verändern. Durch die Möglichkeit
von Eingriffen in die genetische Identität des Menschen wird er nicht nur ideologisch,
sondern auch biologisch manipulierbar. Das einzelne Individuum läuft Gefahr, seine
Identität zu verlieren. Gerade im Blick auf diesen dritten Aspekt forderte Schulz,
Fortschritt müsse durch praktische Vernunft beherrscht werden.
Allerdings weist er den Ruf nach je einer eigenen Ethik der einzelnen Fachwissenschaften
zurück, da es nur eine Ethik der Wissenschaft allgemein geben könne, die den Forscher
mit der Gesellschaft verbindet. Die Ethik beantwortet die Frage, welchen Fortschritt der
Mensch will. Die der Wissenschaft gesetzten Grenzen sind also ethische Grenzen, die dem
Menschen einen
Entscheidungsspielraum schaffen, um ein gutes, menschenwürdiges Leben zu erreichen.
Im dritten Teil begründete Peter Schulz das Erfordernis der philosophischen Ethik und der
praktischen Vernunft als notwendige Voraussetzung für die orientierende Aufgabe der
Philosophie. Schulz griff zurück auf die Ethik der Antike, deren Einsichten einen hohen
Grad von Plausibilität besäßen, die sich fruchtbar im Blick auf die gegenwärtigen
Herausforderungen auswirken könnten. In den Mittelpunkt seiner Argumentation stellte
Schulz die bei Platon, stärker noch bei Aristoteles entwickelte Differenzierung der
Begriffe ,ðñ@îéò` und ,ðïßçóéò `, die das Verständnis von Ethik erhellt. Im
Deutschen entsprechen dieser Unterscheidung tun/handeln/sich verhalten auf der einen Seite
und machen/herstellen auf der anderen Seite.
Als wesentliches Merkmal der aristotelischen Ethik hob Schulz die Tatsache hervor, dass
menschliches Handeln unter dem Gesichtspunkt des im sittlichen Sinne guten oder schlechten
Handelns betrachtet wird. Die Griechen sahen menschliches Handeln teleologisch angelegt,
d. h. der Mensch soll sich seiner Bestimmung gemäß vollenden, jedoch lässt sich seine
Vollendung nicht bestimmen, sie muss herausgefunden werden. Im Gegensatz etwa zu einer
Eichel, deren Bestimmung es ist, eine Eiche zu werden, kann und muss der Mensch nachdenken
und entscheiden. Aristoteles formuliert das Ziel menschlichen Handelns mit dem Begriff
,åžäáéìïíßá ` (Glück), den Schulz in der Bedeutung des geglückten, des
gelungenen Lebens paraphrasierte. Das Streben nach dem Gelingen einer Handlung, d. h. nach
dem Rechten, dem Guten, wurde bei den Griechen auch ,~ñåôÞ` (außergewöhnliche -
sittliche - Leistung) genannt. Ein solches Gelingen bedarf einer Ethik, als praktisches
Wissen durch Erziehung und Übung, einer Disposition, die den Menschen die Entscheidungen
- außerhalb eines bloßen Perfektionismus oder Machbarkeitswahns - zum Rechten und Guten
bei Einzelhandlungen erleichtert.
Diese zentrale Dimension der Ethik sei uns entglitten, bedauerte Schulz, so dass es heute
Schwierigkeiten mache, auf dieser Grundlage eine Ethik aufzubauen. Heute soll die Ethik
darin bestehen, uns Menschen von der Ahnungslosigkeit zu befreien, d. h. darzustellen und
zu begründen, dieses oder jenes zu tun bzw. nicht zu tun, unter der nach Schulz'
Auffassung - abwegigen Voraussetzung, man könne Kriterien für gut und böse aufstellen,
ohne diese zu kennen. Dies sei schon aus logischen Gründen nicht möglich.
Schulz zeigte auch an Kants kategorischen Imperativ und am Beispiel des platonischen
Sokrates, dass der Mensch sehr wohl wissen muss und wissen kann, was gut und böse ist. Es
sei Aufgabe der Ethik, dieses Wissen zu aktivieren. Wir müssen uns besinnen, damit
ethische Maximen und Prinzipien deutlich werden, die uns befähigen, im gegebenen
Augenblick das Rechte zu tun. Bei Platon und Aristoteles bedurfte es nicht ethischer
Grundsätze im modernen Sinne, wohl aber des Insistierens auf
,öñüíçóéò `, der Klugheit, um zu erkennen, welche konkrete Handlung gut,
maßhaltend und gerecht sei. Dieses Verständnis der Ethik als einer ,ðéóôÞìç
ðñáêôéêÞ ` ist seit dem 17. Jh. anderen Auffassungen gewichen, sie wurde ihr
fremden Wissenschaftsidealen unterworfen, der axiomatischen Mathematik, sinnlich
erfahrbarer und experimentell arbeitender empirischer Wissenschaften, sprachlicher Analyse
der Alltagssprache. Heute noch und auch in Zukunft gilt die Frage nach
dem rechten Handeln, die Besinnung auf das menschliche Tätigsein, das nicht an den
Produkten oder materiellen Erfolgen gemessen werden darf. Maßgeblich ist nur die Frage,
ob die Tätigkeit die Bemühungen um ein menschenwürdiges Leben fördert.
An die Gedanken tätigen maßhaltenden Lebens von Peter Schulz schloss sich recht eng der
Kurzvortrag von Dr. Werner Busch, Schulleiter eines Kieler Gymnasiums, an. Das Thema
lautete: Zu Hannah Arendts «condition humaine»". Werner Busch stellte einige
einleuchtende Aspekte aus Hannah Arendts Hauptwerk Vita activa", der Lebensform
des tätigen Lebens (im Gegensatz zur vita contemplativa) vor, mit deren Hilfe sich unsere
gegenwärtige Welt leichter analysieren und Perspektiven für die Zukunft öffnen
lassen. Der Referent fasste die wichtigsten Gedanken in fünf Abschnitten zusammen:
1. In der Interpretation der Lebenswelt Polis (entwickelt aus Platon und Alistoteles) wird
erkennbar, dass Freiheit sich nicht im Privaten, sondern im Öffentlichen, auf dem Markt
des Politischen, ereignet. Denn der Mensch ist wesentlich worthaft. Daraus ergibt sich
eine Dreiteilung seines Lebensbereiches: a) Arbeiten und b) Herstellen, - Tätigkeiten,
die schweigend geschehen können, und c) das Handeln, das eo ipso mit Rede verbunden ist.
2. Arbeiten umfasst die vegetativen Bereiche des Lebens, das immergleiche Alltägliche.
Herstellen ist das Wesensmerkmal des homo faber", der herstellt, was er zum
Leben gebraucht, z. B. ein Haus. Als wichtigste Kategorie des Herstellens erweist sich die
Kausalität, die eine Hierarchie der technischen Organisation und schließlich Gewalt in
Über- und Unterordnung erzeugt. Die Sprache wird zum Instrument.
3. Sinn und Zwecke des Herstellens sollten gemeinschaftlich bestimmt werden. Diese
Sinngebung erweist sich als die eigentliche Form des Politischen, die jeweils auf dem
Neuanfang eines jeden Sprechers beruht, der sich in das pluralistische Geflecht der
Handelnden einschaltet. Jeder Wortbeitrag verändert das gemeinschaftliche Sinngefüge.
Die Folgen der Freiheit sind unvorhersehbar und unberechenbar. Auf Dauer sind menschliche
Verhältnisse nur durch Verträge zu regeln, die
immer wieder neu verhandelt werden müssen, sobald sich die Grundlagen der Verträge
geändert haben. Verträge sind nur stark, wenn sie nicht von Machergewalt, sondern von
gemeinschaftlich gesprächserzeugter Macht getragen werden.
4. Die Gefahr der Neuzeit zeigt sich in den drei Lebensbereichen je nach Schwerpunkten
verschieden: a) das Politische wird den Machern überlassen, b) das Handeln verliert sich
in bloßer Selbstreflexion, c) sinnstiftendes Denken wird zum pseudophilosophischen Spiel.
Der Siegeszug des homo faber führt zur politischen Leere, die einer politischen
Unfreiheit gleichkommt. Es werden so viele Güter und Informationen produziert, dass das
animal laborans am Konsum zugrunde geht.
5. Die Schärfe und Klarheit der Analyse H. Arendts offenbart die gefährliche
Gespanntheit unserer gegenwärtigen Lebenswelt. Aus dieser Sicht heraus formuliert H.
Arendt ein Plädoyer für die Rückgewinnung des Politischen, die aber nur durch
kommunikatives, sinnvermittelndes Denken erfolgreich sein kann.
H. Arendts Analyse bezieht sich verständlicherweise auf westliche
Wohlstandsgesellschaften, doch die von ihr gezeigte Dimension des Politischen könnte auch
ein Wegweiser für Gesellschaften sein, die parallel zu ihren Bemühungen um demokratische
Formen überhaupt erst den Wohlstand in den Blick nehmen.
Werner Busch schloss seinen Vortrag mit dem Aufruf zu einer Werbung bei den Schülern für
Hannah Arendts Sichtweisen und Argumentationen.
Dr. Bernd Rolf, Vorsitzender des Fachverbandes Philosophie, Landesgruppe
Nordrhein-Westfalen, stellte in seinem Kurzvortrag Die Legitimation des Staates
durch die Idee des Gesellschaftsvertrages an Beispielen von Hobbes, Locke, Rousseau und
Kant" einige Modelle von Vertragstheorien vor, die auf der grundlegenden
Gedankenfigur des Gesellschaftsvertrages beruhen und seit der Neuzeit als
Legitimationsversuche staatlicher Herrschaft zu betrachten sind. Die Modelle von Hobbes,
Locke, Rousseau und Kant gehen von der rein gedanklichen Voraussetzung des Naturzustandes
der
natürlichen Freiheit ohne jegliche staatliche Autorität aus, eines Zustandes, den es in
der Realität nicht gibt. Methodisch bietet er aber den Vorteil, die Notwendigkeit der
Bildung eines staatlichen Vertrages überzeugend zu begründen. Trotz dieses gemeinsamen
Ausgangspunktes zeigen sich unterschiedliche Ergebnisse in den Ausformungen der Verträge,
da die Annahmen über das vorausgesetzte Menschenbild in allen vier Modellen
unterschiedlich sind. Hier kann natürlich nur eine Zusammenfassung auf der Grundlage der
von Bernd Rolf vorgestellten Übersicht gegeben werden, ohne auf alle Nuancen der
Unterschiede einzugehen.
Thomas Hobbes (1588-1679) - der erste in der Geschichte der philosophischen
Vertragstheorie - setzt den Naturzustand als eine anarchische Welt ohne Ordnung und
Recht mit unbeschränkter Freiheit der Individuen voraus, die notwendig zum Krieg aller
gegen alle führt.
Aus dieser Problematik ergibt sich die Notwendigkeit der Übertragung von Rechten auf
einen Souverän. Dieser garantiert im Gegenzug Sicherheit und Frieden, die Grundidee des
modernen Staates.
John Locke (1632-1704) verbindet die Idee des Gesellschaftsvertrages mit der Idee der
natürlichen Rechte (heute: ,Menschenrechte`), die dem Menschen bereits im Naturzustand
gegeben sind. Für Locke sind diese die Rechte des Menschen auf Freiheit, Eigentum (aus
Leistungen der eigenen Arbeit) und körperliche Unversehrtheit. Obwohl diese Rechte die
entsprechenden Pflichten einschließen, herrscht im Naturzustand nach Locke völlige
Unsicherheit, da es den Menschen an einer übergeordneten Autorität fehlt, die
Streitigkeiten schlichten könnte. Also ergibt sich aus der Problematik der
Unsicherheit die Notwendigkeit eines Vertrages, dem der Gedanke der Gewaltenteilung
zugrunde liegt, zur Sicherung der natürlichen Rechte, was der Idee des liberalen
Rechtsstaats entspricht.
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) hält die dem Menschen im Naturzustand gegebene Freiheit
für unveräußerlich, so dass für ihn das Problem darin besteht, wie in jedem Fall diese
Freiheit des Menschen in Gesellschaft/Staat erhalten werden kann. In der Struktur des
Vertrages ist Rousseaus Konzeption derjenigen Locke's ähnlich, jedoch geht er mit der
Forderung einer absoluten rechtlichen Gleichheit aller Individuen über Locke hinaus.
Diese Gleichheit soll dadurch erreicht werden, dass sich jedes Individuum seiner Rechte
und Besitztümer zugunsten der Gesamtheit entäußert. Durch stärkeres Selbstinteresse an
der Erhaltung an Leben und Freiheit glaubt Rousseau eine einmütige Übereinkunft der
Menschen erst möglich zu machen
Immanuel Kant (1724-1804) geht ebenfalls zur Begründung des Gesellschaftsvertrages vom
Naturzustand aus, allerdings ohne irgendeine empirische Zusatzannahme über die Natur des
Menschen vorauszusetzen. Der Naturzustand ist für Kant die reine Vernunftidee eines
Zustands der Rechts- und Verfassungslosigkeit (genauer ein privat-rechtlicher Zustand), in
dem die Menschen niemals vor Gewalttätigkeit gegeneinander sicher sein können aufgrund
dieser Willkürfreiheit und der Tatsache, dass sie einen gemeinsamen Lebensraum teilen,
also nicht vermeiden können, mit anderen in Wechselwirkung zu geraten". Kant
bemüht auch keine anderen anthropologischen Zusatzannahmen, um die Unerträglichkeit des
Naturzustandes zu demonstrieren. Diese Unerträglichkeit folgt allein aus der Vernunftidee
des Naturzustandes als eines nicht-rechtlichen Zustandes, als eines Zustandes gesetzloser
Freiheit.
Daher ist es eine Pflicht der Vernunft, aus dem Naturzustand herauszutreten und sich mit
den anderen Menschen dahingehend zu vereinigen, sich einem öffentlichen gesetzlichen
Zwang zu unterwerfen. Damit hat Kant eine normative Idee des Rechts gewonnen, einen
Maßstab zur Beurteilung positiven Rechts, wie der kategorische Imperativ ein Maßstab
für die Beurteilung der Moralität von Maximen ist. Dieses Prinzip staatlichen Rechts ist
der übereinstimmende und vereinigte Wille aller". Zu
den unabtrennbaren Attributen des Staatsbürgers gehört die gesetzliche Freiheit,
keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchen er seine Beistimmung gegeben hat".
Dieses Prinzip wird heute auch als Demokratieprinzip" bezeichnet.
Kant selbst hat jedoch keine bestimmte Herrschaftsform (Autokratie, Aristokratie,
Demokratie) besonders ausgezeichnet, sondern lediglich eine bestimmte Regierungsart,
nämlich die republikanische, die auf der Zustimmung der Staatsbürger in Form des
Gesellschaftsvertrages beruht. Die Möglichkeit, republikanisch regiert zu werden, ist
nach Kant unabhängig von der Form der Herrschaft. Es ist Kants Verdienst, der Idee des
Gesellschaftsvertrages ihre endgültige philosophische Gestalt gegeben zu haben, indem er
diese Gedankenfigur aller empirischen Zusatzannahmen über die Natur des Menschen
entkleidete und sie als reine Vernunftidee entfaltete. Heute wird die Auffassung Kants
kritisiert, dass die Regierungsform unabhängig von der Herrschaftsform sei. Habermas
zufolge fordert der Demokratiegedanke als Idee der Selbstgesetzgebung von Bürgern
..., daß sich diejenigen, die als Adressaten dem Recht unterworfen sind, sich zugleich
als Autoren des Rechts
verstehen können." Deshalb hat er 1992 eine Diskurstheorie des Staates vorgelegt -
als Ausblick auf die gegenwärtige Diskussion -, in dem nur die Gesetze legitime
Geltung beanspruchen dürfen, die in einem ... diskursiven Rechtsetzungsprozeß die
Zustimmung aller Rechtsgenossen finden können."
Ergänzend zu den Vorträgen und Arbeitskreisen, in denen die Probleme der europäischen
Wertegemeinschaft kulturhistorisch und philosophisch sowie auch didaktisch-methodisch
beleuchtet wurden, bot das Seminar eine Podiumsdiskussion, bei der Vertreter wesentlicher
praktischer Lebensbereiche des Menschen wie Wirtschaft (Geschäftsführender
Gesellschafter der
Unternehmensgruppe Melitta, Jörg Bentz), Politik (Dipl.-Volkswirt Steffen Kampeter, MdB),
medizinischer Wissenschaft (Dr. med. Otto Happel, Minden), Bildung und Erziehung (LRSD Udo
Theissmann, Detmold), in Statements ihre Vorstellungen über die Verwirklichung von Werten
in Berufswelt und Schule präsentierten. In der Diskussion unter der Leitung von OStD Dr.
Werner Busch zeigte sich, wie schwierig es ist, unterschiedliche, in sich durchaus
schlüssige Konzepte zu vermitteln, ob es sich nun um das Bemühen des Unternehmers,
sozial Wünschenswertes und ökonomisch
Notwendiges zu verbinden, ob es sich um die Lebensverlängerung oder Schmerzlinderung
durch neue medizinische Techniken oder ob es sich um den Gedanken der
Subsidiarität" aus politischer Sicht oder um die seitens der Schulbehörde den
Schulen gegebene Freiheit zur eigenen Gestaltung und Entwicklung eines Profils ging. In
der Diskussion von Pädagogen, Geisteswissenschaftlern und Vertretern der Öffentlichkeit
und des praktischen Berufslebens wurde deutlich, wie notwendig
die Vermittlungsrolle des Denkens überhaupt und auf allen Ebenen der Praxis ist.
So hat sich im Verlauf des Seminars die Gültigkeit von Kants ,Weltbegriff` der
Philosophie, der dasjenige im Leben des Menschen betrifft, das jeden notwendig
interessiert", durchaus bestätigt. Wenn Philosophie auch in Zukunft ihre
orientierende Aufgabe im Leben der Menschen überzeugend erfüllen will, muss sie sich
selbst an der realen Welt orientieren. Diese reale Welt ist vor dem Jahrhundert- und
Jahrtausendwechsel gekennzeichnet von den Bemühungen um eine menschenwürdige Znkunft.
Zur gegenwärtigen Diskussion um diese Probleme wollte die AIPPh mit dem Mindener Seminar
einen Beitrag leisten und Impulse für eine fundierte Werteorientierung im
künftigen Europa geben, die insbesondere der europäischen Jugend Möglichkeiten
aufzeigt, die Grundlagen einer zukunftsoffenen und zukunftsfähigen menschenwürdigen
Gesellschaft zu schaffen.
Luise Dreyer, Vorstandsmitglied der AIPPh
Latein und das nächste Millennium
Solange das Kolosseum steht, steht Rom, solange Rom steht, steht
die Welt."
(Dum stat Colosseum, stat Roma. Dum stat Roma, stat mundus.)
Aus dieser römischen Redensart spricht das ganze Selbstbewusstsein der antiken Supermacht
Rom, deren Expansion bis Britannien und Ägypten, bis Spanien und bis zum Persischen Golf
kein Mensch aufzuhalten vermochte; erst die Natur selbst brachte sie an Meeresküsten und
Flussufern, an Wüstenrändern und unüberwindlichen Gebirgen zum Stehen. Diese bis dahin
unerhörte, scheinbar grenzenlose Macht, so wussten es die Römer, war ihnen von den
Göttern gegeben. Kein Wunder also,
dass sich in das römische Selbstkonzept auch der Gedanke der zeitlichen Unbegrenztheit
einschlich: Rom würde bis ans Ende der Welt bestehen - ,Roma aeterna'.
In einem Punkt täuschten sich die Herren der alten Welt: Auch ihr Reich wurde, wie alles
Menschliche, ein Opfer der Vergänglichkeit. Nach knappen tausend Jahren, einem Millennium
des Aufstiegs und des Niedergangs der Stadt Rom, wurde 476 n. Chr. der letzte römische
Kaiser abgesetzt, die Macht der Herrscher am Tiber wurde hinweg gespült von den Wogen der
Völkerwanderung. Politik wurde künftig in anderen Zentren gemacht.
Und doch war der Optimismus, mit dem man an Roms Unsterblichkeit glaubte, nicht ganz
unberechtigt: Die Macht der Stadt war vergangen, doch Rom wurde wiedergeboren als Idee. Es
war die Idee der ,humanitas`, die Idee, dass Menschen besser sein können, als sie
sind, es war die Idee der globalen Hochkultur, die Idee der Bildung, es war die Idee der
von den Göttern gewollten und von den Menschen vollzogenen Ordnung in einer chaotischen
Welt.
Diese Idee gab nicht nur dem von Griechen beherrschten Ostrom am Bosporus, dem späteren
Byzanz, Struktur, sodass es noch ein weiteres Millennium bis zur Eroberung durch die
Türken (1453) Bestand hatte. Sie verlieh keinem anderen als dem Bischof von Rom die
Legitimation, Oberhaupt der katholischen Kirche zu sein. Dieser Idee folgten Jahrhunderte
lang die deutschen Könige, wenn sie nach Rom zogen, um sich zum römischen Kaiser krönen
zu lassen. Aus ihr lebten die Renaissance und das Denken der Humanisten ebenso wie Dantes
,Göttliche Komödie` oder Shakespeares ,Julius Caesar`. Ihr wussten und wissen sich all
die verpflichtet, die in Fragen der Politik und der Rechtsprechung nach den pragmatischen
Prinzipien der Römer agierten und noch heute agieren. Mit einem Wort: Europa trägt den
Stempel der Romidee.
Dies wäre nicht möglich, hätte sich nicht die Sprache der Römer in einem unglaublichen
Siegeszug bis in die Neuzeit hinein zur grenzüberschreitenden Kultur- und
Wissenschaftssprache entwickelt. Latein wurde nicht nur in der Kirche, sondern überhaupt
in akademischen Bevölkerungsschichten selbstverständlich fließend gesprochen, was durch
einen intensiven Lateinunterricht an den Schulen ermöglicht wurde. - Als Alltagssprache
hat Latein heute längst ausgedient. Daher fordern seine Kritiker für das dritte
Jahrtausend seine endgültige radikale Entfernung aus dem Kanon der Schulfächer. Wird
also wiederum mit der Vollendung eines Millenniums ein Stück Rom sterben? Vergeht nach
Westrom und Ostrom nun auch seine Sprache und damit über kurz oder lang auch seine Idee?
Wohl kaum! Zu viele Notwendigkeiten machen die Kenntnis des Lateinischen erforderlich _
jetzt und auch im kommenden Millennium.
1. Zwar wächst momentan eine Augenblicksgesellschaft heran, die sich auf eine historische
Perspektive der Gegenwart nicht einlassen mag. Und doch wird auch sie nicht umhin können,
die Vergangenheit kennenzulernen, wenn sie nicht gezwungen sein will, sie zu wiederholen,
wie es der amerikanische Philosoph George Santayana einmal formulierte. Europäische
Vergangenheit - und hierin liegt europäische Identität begründet - ist ohne Latein
nicht denkbar. Große Texte der
europäischen Literatur wären nicht im Original lesbar. Dem Hinweis auf die mittlerweile
reichlich vorhandenen Übersetzungen wird zu Recht Skepsis entgegengebracht. Der Versuch,
,Wanderers Nachtlied` ins Englische zu übersetzen, zeigt sofort, dass Sprachen nicht ohne
weiteres kompatibel sind. Gerade die staatstheoretischen oder juristischen Texte der
Römer sind voller sensibler und trennscharfer Definitionen, sodass Übersetzungen
sozusagen eine sichere Quelle des Missverständnisses sind.
2. Nicht nur ein wissenschaftliches Studium setzt Fremdsprachenkenntnisse voraus. Auch im
Kontext des zusammenwachsenden Europas ist die Beherrschung möglichst vieler
Fremdsprachen ein wesentliches Qualitäts- und Einstellungskriterium auf dem Arbeitsmarkt.
Latein liefert nicht nur das grundlegende linguistische Modell fast aller europäischen
Sprachen, sondern auch automatisch in einer Reihe moderner Fremdsprachen ein passives
lexikalisches und grammatikalisches Wissen, das die Lektüre italienischer, spanischer,
französischer und englischer Texte erheblich erleichtert. Auf der Grundlage der Basis-und
Muttersprache Europas gelingt dann die aktive Aneignung ihrer modernen
,Töchter` zum Zweck der sprachlichen Verständigung mühelos.
3. Die zunehmende Technisierung und Verwissenschaftlichung unserer Welt führt zu einer
permanenten Anreicherung der Sprache mit neuen Begriffen, die zur Bezeichnung neuer
Sachverhalte und Produkte künstlich gebildet werden. In der Regel bestehen diese Wörter
- gerade im Bereich der Computer- Technologie - , auch wenn sie oft im englischen Gewand
daherkommen, aus lateinischen Elementen wie etwa die modernen Prägungen ,Computer`,
,Server`, ,Access`, ,Office`, ,Editor`, ,Monitor`, ,interaktives Medium` oder ,Corporate
Identity`, ,C(ompact) D(isc)` und eben ,Millennium`.
Den Vertretern des Faches Latein an den Schulen ist zu raten, ihren Schülerinnen und
Schülern immer wieder anschaulich vor Augen zu führen, dass sich die Aktualität und
Weisheit der zur Weltliteratur gehörenden lateinischen Texte gerade im Jetzt bewährt,
dass Latein sich unmittelbar in den modernen Fremdsprachen aktivieren lässt, dass seine
Kenntnis Klarheit und Ordnung schafft in der verwirrenden Begriffswelt der Moderne.
Besonders in der Schule muss deutlich werden, dass Latein auch die Menschen des dritten
Jahrtausends täglich in Fremdsprachen und Fremdwörtern umgeben wird, ganz
abgesehen von den unzähligen deutschen Lehnwörtern wie Insel (insula), Ziegel (tegula),
Fenster (fenestra) und Rose (rosa). Und nicht zuletzt ist es unerlässlich zu zeigen, dass
Latein die Sprache ist, die Kernbegriffe unseres modernen Selbstverständnisses geprägt
hat: Zivilisation, Kultur und Staat, Humanität, Liberalität und Rationalität,
Errungenschaften, für die auch in der Zukunft kein Einsatz zu hoch ist. Für sie zu
streiten setzt allerdings voraus, dass man weiß, was sie bedeuten, dass man weiß, wofür
man streitet.
Latein wird nicht mehr im Alltag gesprochen, aber tot - nein, tot ist es wahrhaftig nicht.
Als Kommunikationsmittel ist es nach wie vor unersetzlich - und von erstaunlicher
Lebendigkeit.
Vielleicht lebt es im kommenden Millennium nicht mehr von der Idee eines unsterblichen
Rom, um so mehr aber von der Wirklichkeit einer intelligenten globalen Kommunikation, die
Latein nicht mehr als Sprache verwendet, sondern als unerschöpfliche Quelle ihrer
Begrifflichkeit.
Jörg Eyrainer, Donauwörth/Bayern
Rezeptionsgeschichte als Lexikon
Ein Vortrag zum Erscheinen von Band 13 des Neuen Pauly: Rezeptions- und
Wissenschaftsgeschichte A - Fo (Oktober 1999)
Wissen Sie bereits, wie der erste dunkelhäutige, aus Afrika stammende
Dichter lateinischer Zunge hieß? Gemeint ist hier nicht der berühmte Terenz, der Meister
der römischen Komödie, dessen Beiname Afer wahrscheinlich auf Libyen verweist; gemeint
ist vielmehr ein Poet der frühen Neuzeit, aus dem dunkelsten Teil des Kontinents. Da Sie
es möglicherweise nicht wissen: Er nannte sich Johannes Latinus (Juan Latino), brachte es
zum Professor für Latein an der Universität von Granada
und verfasste neben anderem ein panegyrisches Epos Austrias", das die Schlacht
von Lepanto zum Gegenstand hat - eben jene Schlacht des Jahres 1571, in der Cervantes
Teile seiner linken Hand einbüßte.
Oder haben Sie schon von Archäologischen Parks gehört? Vielleicht noch nicht, denn es
handelt sich hierbei um eine Novität der jüngsten Zeit, um eine Errungenschaft für den
Erlebnismarkt der modernen Zerstreuungsgesellschaft. Der Archäologische Park wartet mit
einem Ensemble ganz oder teilweise rekonstruierter Bauten am historischen Orte auf - man
spricht da einschmeichelnd von einer besucherorientierten Aufbereitung der Befunde.
Schluss also mit dem ratlosen Starren auf
unansehnliche Substruktionen und auf nach Xanten oder Carnuntum, wo der archäologische
Park- Gedanke auf mustergültige Weise verwirklicht worden ist.
Worum haben sich vor nunmehr hundert Jahren Karl Bücher und Eduard Meyer gestritten,
worum ging es in der B.-M.-K., der Bücher-Meyer-Kontroverse? Wie modern war die
Wirtschaft im klassischen Griechenland; gab es dort bereits Fabriken? Bücher wollte die
antike Ökonomie auf das Haus verwiesen wissen, auf den dortselbst herrschenden Kreislauf
von der Erzeugung bis zum Verbrauch; Meyer hingegen fand _ als Folgen der Geldwirtschaft
und Sklavenarbeit - überall im Raume der Ägäis ausgeprägte Handels- und
Industriestädte vor.
Wie verbreitet sind Kenntnisse über den Arkadismus? Der Spruch Et in Arcadia ego,
Auch
ich in Arkadien" mag manchem geläufig sein, doch wem ist bekannt, dass ein Symbol,
ein Lebensgefühl derart hartnäckig die Jahrhunderte durchzogen hat, dass es sich lohnt,
die entlegene zentralpeloponnesische Landschaft mit einem ismus auszustatten?
Wo stehen die philologisch-historische und die archäologische Byzantinistik in besonderem
Flor? Denkt da jedermann sofort an die Eheleute Bliss in den Vereinigten Staaten von
Nordamerika und an Herbert Hunger in Wien? Die ersteren haben in Dumbarton Oaks, in
Georgetown (Washington), eines der bedeutendsten Forschungsinstitute für die
byzantinische Kultur gegründet. Hunger wiederum, den die Katalogisierung von
Handschriften auf das abseitige Gebiet hingewiesen hatte, errichtete ein eigens hierauf
spezialisiertes Dokumentationszentrum.
Welche Bewandtnis hat es mit dem Ober- und Untereigentum des Mittelalters, was soll man
von diesen Termini halten, die so klingen, als sollten Herrschaftsrechte an Sachen auf
Stockwerke verteilt werden? Tatsache ist, dass man mit Ober- und Untereigentum, mit dem
dominium directum und dem dominium utile, das Lehensrecht auf Begriffe zu bringen versucht
hat.
Und so sehr die Lehre vom geteilten Eigentum dem Ausschließlichkeitsdogma des römischen
Rechts widersprach, so elegant wussten die mittelalterlichen Juristen, die Glossatoren,
auch sie aus der Überlieferung, dem Corpus Iuris Justinians, abzuleiten.
Seit wann verfügt das kleine, jetzt wieder auf das einstige Provinzdasein
zurückgeworfene Bonn über antike Kunstwerke, und wieviele einschlägige Museen harren
dort der Schaulust der Besucher? Es sind deren zwei, das Rheinische Landesmuseum und das
in der einstigen Anatomie untergebrachte Akademische Kunstmuseum, und beide verdanken ihre
Existenz den Bemühungen Berlins, die rheinische Bevölkerung mit der Tatsache zu
versöhnen, dass sie nach den napoleonischen Kriegen preußisch geworden war.
Sie haben längst erraten, dass alle diese Fragen aus Stichwörtern des neuen Lexikons
abgeleitet sind, des Bandes daraus, der soeben erschienen ist und den zu würdigen wir
hier versammelt sind. Die Stichwörter, die ich benutzt habe - Afrika, Archäologischer
Park, Bücher-Meyer-Kontroverse, Arkadismus usw. -, mögen noch so verschiedenartige
Inhalte bezeichnen, sie scheinen sich gleichwohl allesamt mühelos den Kategorien
unterordnen zu lassen, die der Titel des Bandes nennt, der Rezeptions- und
Wissenschaftsgeschichte. Der Titel ist neu, und auch durch seinen Inhalt kann der heute
aus der Taufe zu hebende Band beanspruchen, der erste seiner Art zu sein. Es liegt daher
nahe, dass wir uns zunächst mit dem wichtigsten, am wenigsten selbstverständlichen
Begriff des Titels befassen, mit dem Ausdruck ,Rezeption`.
Wer in den fünfziger oder sechziger Jahren unseres Jahrhunderts, und vielleicht sogar
noch in jüngerer Zeit, ein altertumskundliches Studium betrieben hat, der konnte in der
einschlägigen Seminarbibliothek auf eine kleine, meist wenig beachtete Abteilung stoßen:
Nachleben der Antike". Dort pflegten Pionierleistungen untergebracht zu sein,
die auch heute noch unentbehrlich sind, etwa Georg Voigts Wiederbelebung des
classischen Altertums" oder Karl Borinskis Antike in Poetik und
Kunsttheorie", vielleicht auch Cicero im Wandel der Jahrhunderte" von
Tadeusz Zielinski oder Vergil, Vater
des Abendlandes" von Theodor Haecker. Gleichwohl: schon die Bezeichnung -
Nachleben" oder auch Fortleben" - lässt darauf schließen, dass man
nur die antiken Ursprünge für wirklich lebendig hielt und dass man allem Späteren als
bloßem Abglanz oder Widerschein eine mindere Seinsqualität beimaß. Und anders als die
Autoren der genannten Pionierleistungen pflegte man auch in der Sache mit jenem
,Nachleben` so umzugehen, als handele es sich um nichts als ,Nachleben`: Humanistische
Voreingenommenheit und klassizistisches Regeldenken stempelten die Wirkungen oder Folgen
antiker
Gegebenheiten als richtig oder falsch ab und gefielen sich darin, apodiktisch zu
unterscheiden, ob dieses oder jenes Stück Altertum im Laufe der Zeiten verstanden oder
missverstanden worden sei. Die Periode der ,Nachleben`-Studien gehört der Vergangenheit
an; man pflegt jetzt alles Anknüpfen an Antikes nicht mehr als Abglanz oder Widerschein,
sondern als selbständige, von je eigenen Antrieben
des Anknüpfenden geleitete Umprägung zu deuten, und man würdigt nicht nur den die
Jahrhunderte durchziehenden Zettel der Antike-Tradition, sondern auch den von Jahrhundert
zu Jahrhundert die Farbe wechselnden Einschlag der modifizierenden Übernahme als ernst zu
nehmende Größe. Diese Änderung der Betrachtungsweise ist schlechtweg dadurch bedingt,
dass wir Heutige nicht nur die Gegenstände ferner Vergangenheiten als historische und
somit relative Größen zu betrachten versuchen
(das ist seit den Tagen Friedrich August Wolfs schon immer geschehen), sondern auch unsere
eigene Epoche, unseren eigenen Standpunkt: Wir radikalisieren den Historismus, indem wir
dessen Leitgedanken, dass alles sich im ständigen Fluss der Entwicklung befinde, auf uns
selbst anwenden und uns somit nicht mehr im Besitz unverrückbar richtiger Maßstäbe
wähnen.
Die neue Betrachtungsweise erhielt, wie es sich gehört, einen neuen Namen, und an die
Stelle der ,Nachleben`-Studien trat die Erforschung der Wirkungs- oder
Rezeptionsgeschichte. Der Begriff ,Rezeption` ist erst seit den siebziger Jahren Gemeingut
aller geisteswissenschaftlichen Fächer. Man schlage in der siebzehnten Auflage des
Großen Brockhaus" nach: Erst der Supplement-Band des Jahres 1976 sucht den
Benutzer einschlägig zu belehren. Dasselbe gilt für Gero von Wilperts
Sachwörterbuch der Literatur": Dort erscheint das neue Stichwort nicht vor der
sechsten Auflage, vom Jahre 1979.
Von Rezeption spricht man auch in der Psychologie und Sinnesphysiologie. Dort meint man
mit ,Rezeptivität` - wie es der Herkunft vom lateinischen recipere,
entgegennehmen", aufnehmen", entspricht - das Aufnehmen von Reizen
und Eindrücken sowie die Fähigkeit, Reize aufzunehmen; als Gegenbegriffe dienen die
Kategorien ,Produktivität` (die Fähigkeit des Hervorbringens) und ,Spontaneität` (die
Fähigkeit psychischer Kräfte, aus eigenem Antrieb tätig zu werden). Dem Ausdruck haftet
somit in der Psychologie ein Moment des Passiven an. Den Geisteswissenschaften wäre mit
dieser Verwendungsweise schlecht gedient: Sie vertriebe den Teufel ,Nachleben` mit dem
Beelzebub bloßer Hinnahme. In den Geisteswissenschaften kommt es vielmehr darauf an, dass
sich der Aufnehmende, der Rezipierende bei der Aufnahme eines beliebigen Elements aus
irgendeiner
kulturellen Hinterlassenschaft aktiv beteiligt, indem er das Aufzunehmende seinen eigenen
Vorstellungen und Bedürfnissen anpasst: durch Hinzufügen, Weglassen oder Ändern, in der
Literatur nicht selten durch allegorisches oder sonstiges Umdeuten. Die Vervollständigung
eines geflügelten Wortes zeigt, dass schon die Antike einen Begriff von diesem alle
Tradition bestimmenden Vorgang gehabt hat. Die bekannte Sentenz Habent sua fata libelli,
Es haben ihr Schicksal die Bücher" stammt von Terentianus Maurus, einem Autor
des späten 2. Jahrhunderts n. Chr., der einige Lehrgedichte über
Gegenstände der Grammatik hinterlassen hat. Dieser Vers, ein Hexameter, lautet
unverstümmelt: Pro captu lectoris habent sua fata libelli - Wie der Leser sie
aufnimmt, haben die Bücher ihr Schicksal". Hier enthält captus als Stellvertreter
von recipere ein subjektives Element, das auf den bedingenden, Änderungen verursachenden
Horizont des Rezipienten verweist.
Der heutige geisteswissenschaftliche Rezeptionsbegriff scheint aus der juristischen
Romanistik, der Kunde vom römischen Recht, hervorgegangen zu sein. Dort ist der Ausdruck
seit Jahrzehnten gängige Münze. Er bezeichnet das Phänomen der Auf- und Übernahme als
einen Vorgang, der in die Substanz des Aufgenommenen eingreift es sei an das
Beispiel des römischen Eigentumsbegriffs erinnert, der unter den Händen der Glossatoren
zum lehnsrechtlichen Ober-und Untereigentum wurde. Der
Rahmen hierfür war die Übernahme oder Rezeption des gesamten Corpus Iuris Justinians
durch die kontinentaleuropäischen Völker.
Dieses Werk hatte nur noch als Buch, als Dokument einer vergangenen Epoche existiert, als
jene dreiteilige Anthologie aus einer vielfältigen Rechtsüberlieferung, die in den
Jahren um 530 auf Befehl Kaiser Justinians angefertigt worden war. Im hohen Mittelalter,
als man nur noch die alten germanischen Stammesrechte, also ein vorwissenschaftliches,
fester Begrifflichkeit ermangelndes Brauchtum kannte und anwandte, begannen Gelehrte,
zunächst in Bologna, dann auch an anderen Universitäten, die im Corpus Iuris bewahrte
Rechtsmasse mit den Methoden der Scholastik zu erläutern. Hieraus ging die europäische
Rechtswissenschaft mit ihren rationalen Methoden der Rechtsauslegung und anwendung hervor,
sowie ein wissenschaftlich geschulter Juristenstand, der
überall in den Staaten und Städten großen Einfluss gewann. Eine ältere, der Romantik
verpflichtete Forschungsrichtung hat diese Entwicklung dahingehend missdeutet, dass mit
ihr Eigenes verlorengegangen und Fremdes an dessen Stelle getreten sei- man
beschrieb die Rezeption des römischen Rechts als ,Überfremdung`, als einen Prozess, bei
dem sich die übernehmenden Völker, zumal die Deutschen, gänzlich passiv verhalten
hätten. Der Rechtshistoriker Franz Wieacker sah
sich noch im Jahre 1952 veranlasst, gegen diese Auffassung anzugehen; als ob
überhaupt", schrieb er in seiner Privatrechtsgeschichte der Neuzeit",
Seite 64, von einem lebenden Volk Recht übernommen werden könnte, ohne völlig
angeeignet und dadurch verwandelt zu werden".
In den philologischen Disziplinen kann man mit Rezeption sämtliche
Vermittlungsbedingungen von Literaturwerken, also all das bezeichnen, was die
Literatursoziologie zu untersuchen pflegt: Welche Literatur wird unter welchen
Voraussetzungen von welchen Gruppen und Schichten gelesen usw. Wichtiger sind jedoch zwei
genauer umschriebene Bereiche rezeptionsorientierter Literaturbetrachtung: die
Rezeptionsästhetik und die Rezeptionsgeschichte. Literaturwerke üben ja
nicht nur von ungefähr Wirkungen aus; sie sind vielmehr von vornherein auf bestimmte
Wirkungen hin angelegt. Hieraus ergeben sich die genannten beiden Grundrichtungen
rezeptionstheoretischen Betrachtens. Man kann einerseits analysieren, welche Wirkung das
Werk nach der Absicht des Autors hat erzielen sollen. Hierher gehört die bekannte Lehre
vom impliziten Leser, von der in das Werk hineinkomponierten Leserrolle. Man kann
andererseits zu ermitteln suchen, welche Wirkungen ein gegebenes Literaturwerk
tatsächlich erzielt hat: sowohl bei denen, für die es ursprünglich bestimmt war, als
auch bei allen Späteren. Dieser faktischen Wirkung gilt die rezeptionsgeschichtliche
Betrachtungsweise; wer sich auf sie einlässt, benötigt außer dem Werk selbst
Materialien, die die Reaktionen der Aufnehmenden dokumentieren. Die Rezeptionsästhetik,
die Ermittlung des Verhaltens, das der Autor dem Leser zugedacht hat, untersucht das Werk
im Blick auf das Publikum; die
Rezeptionsgeschichte untersucht das Publikum im Blick auf das Werk.
Bei der rezeptionsgeschichtlichen Betrachtungsweise muss man, wie schon angedeutet, die
Rezeption der Zeitgenossen von der irgendwelcher späterer Rezipienten unterscheiden. Die
Rezeption der Zeitgenossen pflegt nur für Werke vom 18. Jahrhundert an hinlänglich
dokumentiert zu sein; nur bei ihnen lässt sich auf differenzierte Weise dartun, wie sie
sich in ihrem ursprünglichen Horizont ausgenommen haben. Aus älteren Epochen ist über
die Reaktionen der primären Rezipienten
nur gelegentlich diese oder jene Einzelheit bekannt. Wenn z. B. Sueton meldet, der
Schulmeister Caecilius Epirota habe schon zu Vergils Lebzeiten dessen Werke erklärt, dann
kann man daraus schließen, dass Vergil von Anfang an ein erfolgreicher Autor war. Im
allgemeinen aber reichen die meist spärlichen und isolierten Hinweise für eine
überzeugende Rekonstruktion des primären Horizonts nicht aus. Andererseits sind die
Literaturwerke aus älteren Zeiten, insbesondere die
der Griechen und Römer, durch viele Hände gegangen, ehe sie uns erreichten. Sie haben
eine lange Rezeptionsgeschichte hinter sich, und so kann man denn die wechselvollen
Wirkungen nachzeichnen, die diese Werke in späteren Zeiten erzielt haben - sei es bei den
verschiedenen Gruppen von Lesern und Benutzern, sei es bei anderen Autoren, die das
betreffende Werk nachzuahmen, abzuwandeln oder zu überbieten suchten.
Soviel zum Begriff der Rezeption. Die Rechtshistoriker hatten ihn einfach ihren Quellen
entnommen: In den Digesten verlautet oft, dass etwas - ein Gesetz, ein Rechtsgrundsatz,
ein Rechtsgeschäft - receptum, in Aufnahme gekommen, anerkannt sei: Die Gesetze sind
durch Volksabstimmung, iudicio populi, anerkannt, die patria potestas durch Brauch,
moribus, usw. In der Literaturwissenschaft wurde
der Ausdruck zu Beginn der sechziger Jahre heimisch; die Bände der Reihe Poetik und
Hermeneutik" belegen, dass deren Autoren ihn vom Jahre 1964, von ihrem zweiten
Kolloquium an im Munde führten.
Was nun den Neuen Pauly" angeht, so findet Rezeptionsgeschichte durchaus nicht
nur in dem hiernach betitelten, soeben erschienenen Bande statt; wie jeder Benutzer weiß,
enthalten auch die bisher publizierten Teile der Hauptreihe allerlei
Rezeptionsgeschichtliches. Dort enden die Artikel über literarische Größen regelmäßig
mit einem Ausblick auf deren Wirkung (nur beim alten Cato, dem Begründer der lateinischen
Prosa, habe ich dergleichen vermisst), und auch bei den historisch bedeutenden
Persönlichkeiten ist dies oft der Fall (z. B. bei Caesar - nicht hingegen bei Catilina,
dem von den Dramatikern des Barock, bis hin zu Voltaires Rome sauvée" viel
Aufmerksamkeit geschenkt wurde). Eigenartigerweise hat man sich im allgemeinen nicht dazu
verstanden, bei den Figuren des Kults und des Mythos ebenso zu verfahren; der Gott
Dionysos zählt in dieser Hinsicht zu den wenigen Ausnahmen. Da die
rezeptionsgeschichtliche Abteilung des Lexikons von Artikeln über Personen gänzlich
absieht, klaffen infolgedessen Lücken im Gesamtwerk: Wer etwas über Daidalos oder
Elektra als Figuren der europäischen Dichtung oder Kunst erfahren will, muss nach wie vor
zu einem mythologischen Speziallexikon oder zu Elisabeth Frenzels Stoffen der
Weltliteratur" greifen.
Doch nun zu dem rezeptionsgeschichtlichen Bande A - Fo, dem ersten Teil
einer auf drei Teile berechneten Reihe. Sein Titel enthält, indem er als zweites Gebiet
die Wissenschaftsgeschichte namhaft macht, genau besehen eine Redundanz. Denn auch die
wissenschaftliche Befassung mit der Hinterlassenschaft der Antike ist nichts anderes als
Rezeption. Gleichwohl hat der Herausgeber recht daran getan, die Dimension der
Wissenschaftsgeschichte explizit zu nennen: Der auf festen, meist
staatlichen Institutionen beruhende Forschungs- und Lehrbetrieb ist ganz und gar auf die
Rekonstruktion und Vermittlung dessen gerichtet, was einmal war; bei aller übrigen
Rezeption hingegen dient das antike Substrat neuen, durch die jeweiligen Umstände
bedingten Zwecken.
Die Stichwörter des rezeptionsgeschichtlichen Bandes bestehen, da die bunte Vielfalt der
Personennamen entfällt, aus Begriffen und geographischen Bezeichnungen. Deren sind indes
in dem ganzen Band nicht mehr als etwa einhundertfünfzig an der Zahl, und hiervon
wiederum nehmen 35, deren Länge sich auf zehn Spalten und darüber beläuft, knapp zwei
Drittel des verfügbaren Raumes von etwa 1160 Spalten ein. Man sieht sich also einem
alphabetisch geordneten Bündel von
Kurzmonographien gegenüber, das man kaum noch als Lexikon im üblichen Sinne des Worts
bezeichnen mag.
Dieser Befund scheint befremdlich; zu seiner Erklärung sei ein kurzer Blick auf die
Geschichte der Lexikographie oder besser der Enzyklopädie geworfen (die beiden Ausdrücke
werden oft _ nicht ganz zu Recht - promiscue gebraucht). Der Gedanke, dass es sowohl
Köpfe als auch Bücher geben müsse, die alles wichtige Wissen ihrer Zeit enthielten,
entstammt der Antike. Dem Hellenismus war das Ideal der ,enkyklios paideia` geläufig,
einer Form der Allgemeinbildung, deren Bezeichnung von den Römern als orbis doctrinarum,
als Kreis von Wissenschaften" gedeutet wurde. Literaturwerke, in
denen sich diese Konzeption niederschlug, sind erst aus spätantiker Zeit überliefert,
insbesondere in Gestalt einer Schrift von Martianus Capella (5. Jahrhundert n. Chr.), die
wegen ihrer allegorisch-mythologischen Einkleidung den Titel De nuptiis Philologiae
et Mercurii" - Philologias Vermählung mit Merkur" trägt. Dort werden in
systematischer Form die Artes liberales abgehandelt: zunächst das sprachliche Trivium,
bestehend aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik, und sodann das
mathematische Quadrivium, d. h. die vier Fächer Arithmetik, Geometrie, Astronomie und
Musiktheorie. Etwa zwei Jahrhunderte später erschienen die Etymologiae"
Isidors von Sevilla, die umfassendste Summe alles Wissens aus der Spätantike. Dort folgen
auf die sieben Artes einige weitere Disziplinen, darunter die Theologie, sowie eine
systematisch geordnete Darstellung sämtlicher Realien; diese behandelt sowohl die
Gegenstände der beschreibenden Naturkunde als auch die gesamte menschliche Zivilisation.
Wie ersichtlich, hat sich der enzyklopädische Gedanke während der Antike in Werken
konkretisiert, die aus einer Folge von jeweils nach einem System arrangierten Sachgebieten
bestanden. Lexika im eigentlichen Sinne, Nachschlagewerke also, die ihr Material in
alphabetisch geordneten Stichwörtern darboten, waren auch in Gebrauch, jedoch weniger
verbreitet. Die umfänglichste erhaltene Unternehmung dieser Art ist ein byzantinisches
Lexikon, entstanden um das Jahr 1000 und überliefert
unter dem rätselhaften Titel Suda".
In den mittelalterlichen Enzyklopädien behielt das System die Vorherrschaft; dasselbe
gilt für die ersten Jahrhunderte der Neuzeit. Erst mit der Aufklärung begann sich die
alphabetische Ordnung auszubreiten. Ein weit herausragender Markstein in der Geschichte
der Lexikographie ist die berühmte Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des
sciences, des arts et des métiers" die - in 35 Bänden - 1751 bis 1780 in Paris,
Neuchâtel und Amsterdam erschien. Ein wesentliches Merkmal sowohl dieses Werkes als auch
der übrigen Lexika jener Zeit bestand darin, dass die einzelnen Stichwörter jeweils
größere Sachgebiete behandelten. Die Gepflogenheit, auch mit kleinen und kleinsten
Artikeln aufzuwarten, ist erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Friedrich August
Brockhaus, dem bekannten Verlagsgründer, eingeführt worden.
Dass ein Lexikon auf Lemmata geringen Umfangs verzichtet, dass es statt dessen eine
Sequenz von Kurzmonographien bringt, ist also nichts Neues: Man gewährt dem
systematischen Prinzip von einst in verkleinertem Maßstab wieder Einlass, indem man eine
Kette von Subsystemen vorführt, die ihrerseits der alphabetischen Ordnung gehorcht. Noch
heutzutage hat z. B. die Encyclopaedia Britannica" ein derartiges Aussehen.
Vor allem aber ist das im Falle des rezeptionsgeschichtlichen Teiles des Neuen
Pauly" gewählte Verfahren dortselbst durch die Sache gerechtfertigt: Jegliche
Überschau über große, oft verwickelte Zusammenhänge fordert vom Verfasser
Einlässlichkeit und vom Benutzer Geduld - dieser muss sich darauf einstellen, dass das
Werk weniger zu eiligem Nachschlagen taugt als zu eingehender Lektüre. Dafür aber, dass
die Suche nach einem geeigneten Stichwort nicht enttäuscht wird, ist durch eine
vorangestellte alphabetische Liste derselben gesorgt, und vielleicht schlüsselt der
Herausgeber die
Inhalte am Ende des dritten Bandes noch durch ein detailliertes Sachregister auf - etwa
nach dem Muster der Theologischen Grundbegriffe" von Heinrich Fries, einem
zweibändigen Werk, das lediglich aus großen Artikeln besteht, wo man aber durch ein
umfangreiches Verzeichnis von Begriffen an die Einzelheiten herangeführt wird.
Was den Inhalt betrifft, so verwendet der neue Band den Begriff Rezeption als umfassende
Formel für alles, was Europa, ja der Globus von der Antike empfangen hat und noch stets
empfängt. Vielleicht sollen die Bereiche der Alltagskultur wie Kleidung, Hausgerät und
Handwerk weniger berücksichtigt werden (hier lässt der erste Band allein noch keine
zuverlässigen Schlüsse zu); im übrigen aber scheint - nach Orten, Zeiten und
Gegenständen - Vollständigkeit angestrebt zu sein, weit über die üblichen Domänen der
Rezeptionsgeschichte, über die Literatur, die Philosophie, die Kunst und das
Recht, hinaus. Dass man sich hierbei auf das Wesentliche beschränken muss, bedarf kaum
der Erwähnung - nicht jede Akademie in Mittelamerika, nicht jeder klassizistische Impetus
im Hausbaustil Australiens kann erwähnt werden.
Das Vorwort teilt die Stichwörter in sechs Kategorien ein: in die Sachgebiete der
Rezeption (wie Literatur, Bildung, Philosophie usw.), in Länder und Kulturräume, in
kulturelle Richtungen und Epochen, in wissenschaftliche Disziplinen, in Forschungs- und
Bildungsinstitutionen sowie in bedeutende archäologische Ausgrabungsstätten.
Wenn man nun versucht, die Ausführung dieses Programms zu beurteilen, dann tut man gewiss
gut daran, einen Hinweis des Herausgebers zu beherzigen: Mit der Spezialität Rezeptions-
und Wissenschaftsgeschichte wird lexikographisches Neuland betreten. Demgemäß wollen die
hier gelegentlich eingeflochtenen Hinweise auf formale Unstimmigkeiten nicht allzu schwer
genommen werden: Sie stehen in keinem Verhältnis zu dem, was dort inhaltlich geleistet
worden ist.
Die Wirkung lässt sich naturgemäß nicht gänzlich von der Sache trennen, die jeweils
gewirkt hat _ so erklärt sich leicht, dass bisweilen die Interdependenz zwischen dem
Hauptteil des Neuen Pauly" und dem rezeptionsgeschichtlichen Supplement prekär
ist: Der rezeptionsgeschichtliche Artikel bringt gelegentlich zu viel oder zu wenig für
einen glatten Anschluss an das Pendant im Hauptteil. Im Falle der ,Apotheose` fehlt ein
solches Pendant gänzlich; folglich ermangeln die Ausführungen des
Rezeptionsbandes der antiken Basis. Sub verbo ,Botanik` begnügt sich der Hauptteil mit
dem Verweis s(iehe) Pflanzenkunde"; das rezeptionsgeschichtliche Analogon
hingegen befasst sich großenteils mit dem antiken Substrat, insbesondere den
einschlägigen Werken Theophrasts. Der ,Aphorismos` des Hauptteils enthält bereits zur
Hälfte Wirkungsgeschichte; die ,Argumentationslehre` im Rezeptionsband führt zunächst
auf über vier Spalten die antiken Grundlagen vor. Mitunter scheint problematisch, ob der
Einfluss der Antike tatsächlich so mächtig war, wie der rezeptionsgeschichtliche Artikel
wahrhaben möchte - etwa bei ubiquitären Erscheinungen wie der Autobiographie oder dem
Brief.
Eine ziemlich häufige Praxis besteht darin, dass eine unnötig hohe Systemstufe bevorzugt
wird: Man hätte als besonderen Artikel bringen können, was jetzt in den Bereich eines
umfassenderen Stichworts inkorporiert ist. Über die Agrimensoren, die römische Zunft der
Feldmesser, soll erst das Lemma ,Metrologie` Auskunft geben; über Akustik, Alchemie und
manches andere wird der Benutzer erst im Dachartikel ,Naturwissenschaften` belehrt werden,
und für die Dialektik hole man sich Rat im Stichwort ,Philosophie`. Warum wird die
Diatribe der ,Satire` zugewiesen und der Dithyrambus der ,Lyrik`? Und die wenig
gebräuchliche Kategorie ,Adaptationen` umfasst so verschiedene Dinge wie Antike-Romane,
Kompilationen, Übersetzungen und Travestien.
Was die geographischen Artikel angeht, so hätten sich heutige Länder wie Albanien,
Estland oder Finnland ebensogut im Rahmen größerer Regionen wie Balkan, Baltikum oder
Skandinavien abhandeln lassen; mit dem Artikel ,Arabisch-islamisches Kulturgebiet` ist
dies in beispielhafter Weise geschehen. Dagegen, dass auch alte Staatsgrenzen manchmal
Zusammengehöriges trennen, ist
schwerlich immer Abhilfe möglich: Dänemark war unbedingt mit einem eigenen Artikel zu
bedenken, obwohl die dortige altertumswissenschaftliche Blüte zumal des 19. Jahrhunderts
eng mit der gleichzeitigen deutschen zusammenhing.
Der Artikel ,Deutschland`, mit siebzig Spalten der längste des Bandes, sowie der
zusätzliche Artikel ,Bayern` mit siebzehn Spalten vermitteln dem Leser einen
vorzüglichen Überblick über wesentliche Teile der Bildungs- und Geistesgeschichte
Mitteleuropas, und wenn man noch das Stichwort ,DDR` (siebzehn Spalten) hinzunimmt, dann
empfängt man auch einen nachhaltigen Eindruck von den Wunden, die die ideologischen
Irrwege des 20. Jahrhunderts der einstigen Hochburg der Altertumswissenschaften
beigebracht haben. Der imposante Überblick scheint allerdings einen Aspekt, die Rezeption
der Rezeption, d. h. die Strahlkraft der Antikeverehrung der Goethezeit, hintangestellt zu
haben: Er verrät nichts über die enormen bildungspolitischen Auswirkungen des
Neuhumanismus zumal in ganz Osteuropa.
Die Rubrik kulturelle Richtungen und Epochen ist einstweilen nur durch wenige Artikel
repräsentiert. Beim ,Alexandrinismus` stellen sich Fragen: Dieses Stichwort enthält in
Wahrheit zwei _ die eine Verwendungsweise, die philosophische, leitet sich von dem
Aristoteles-Kommentator Alexander von Aphrodisias ab, die andere, die literarische (die
nicht erst durch Nietzsche bekannt wurde), von der Stadt Alexandria. Der Artikel
,Aufklärung` ist ein Kabinettstück; die Beschränkung auf das für die Antike-Rezeption
Wesentliche gelang dort erheblich besser als in dem gelegentlich ausufernden Artikel
,Barock`. Eine besondere Erwähnung verdient das Lemma ,Epochenbegriffe`; dort wird die in
allen drei altertumswissenschaftlichen Hauptdisziplinen in Gang befindliche Diskussion auf
souveräne Weise zusammengefasst.
Antike-Rezeption findet am handgreiflichsten durch Ausgrabungen und sonstige Funde statt,
und so dokumentiert der Band die Freilegung bedeutender Ruinenfelder ebenso wie die
Bestände der wichtigsten archäologischen Museen. Der reich bebilderte Artikel ,Athen`
ist mit 54 Spalten der Spitzenreiter, gefolgt von Byzanz mit 31. Man fragt sich, ob
Aizanoi (Aezani) in der Türkei so wichtig ist, dass ihm mit acht Spalten mehr Raum
zugebilligt wurde als dem berühmten Kultmittelpunkt Delphi - vielleicht hat sich der
Eifer des hierfür zuständigen Bearbeiters nicht bremsen lassen. Zu den Orten, die man
vermisst, zählen Agrigent, Didyma und Epidauros. Die Reihe der einlässlich beschriebenen
Museen beginnt mit dem Allard Pierson Museum in Amsterdam und führt über Bagdad, Basel
und Berlin weiter bis zu den Kunstsammlungen in Dresden. Museen, die kein eigenes
Stichwort erhielten, sind den Länder-Artikeln zugeordnet.
Zum Schluss noch ein Wort über die altertumskundlichen Disziplinen und Institutionen. Sie
gehören zum Besten des Bandes. Nicht leicht begegnet man an anderer Stelle derart
gründlichen Zusammenstellungen und Übersichten; die einschlägigen Artikel behandeln mit
großer Sachkunde Gegenstände, die sich im Alltag der Forscher- und Lehrtätigkeit als
nicht deutlich wahrgenommene Voraussetzungen mit einer Randposition begnügen müssen.
Unter den Disziplinen und deren
Besonderheiten könnten Stichwörter wie ,Altorientalische Philologie und Geschichte` oder
,Archäologische Methoden` besonders geeignet sein, Neugier zu wecken. Bei den
Institutionen seien die Lemmata ,Altsprachlicher Unterricht` oder ,Bibliothek` zustimmend
hervorgehoben - während man sich bei der mit sechzehn Spalten bedachten ,Akademie` fragt,
was daran - außer dem Namen - auf die Antike zurückweist.
Mit dieser durch wenige Beispiele illustrierten Übersicht ist noch lange nicht alles
genannt, was genannt zu werden verdiente. Der Band unternimmt neben anderem das Wagnis,
das Altertum bis an die Gegenwart heranzuführen: mit Stichwörtern wie ,Faschismus` und
,Demokratie`, wie ,Comics` und ,Film`.
Wir können uns des erschienenen Teils der Rezeptionsgeschichte freuen und mit guter
Zuversicht der beiden, die noch ausstehen, harren - vielleicht gilt für sie schon nicht
mehr in demselben Maße wie für den ersten, dass dort lexikographisches Neuland betreten
wird. Jedenfalls wünschen wir den Herausgebern und Autoren einen gedeihlichen
Fortgang ihrer Arbeit.
Manfred Fuhrmann, Konstanz
Erziehung im humanistischen Geist?
Ansprache des Schulleiters bei der Abiturientenentlassungsfeier des
Alten
Gymnasiums, Oldenburg, am 3. Juli 1999
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
[...] Ich weiß nicht, welche Motive bei Ihnen bzw. Ihren Eltern den Ausschlag gegeben
haben, als Sie vor der Entscheidung standen, eines der Oldenburger Gymnasien zu wählen -
Familientradition, die Freundschaftsgruppe, die Sprachenfolge, der Ruf der Schule als
Institution des Bildungsbürgertums oder welcher Grund sonst. Ich weiß nur, dass
zumindest in einem Fall die geistige Tradition, in der das Alte Gymnasium steht,
ausschlaggebend war. Bei meinem ersten Elternsprechtag an dieser
Schule im Februar 1994 kam eine der heute hier anwesenden Mütter auf mich zu, um mich am
Beispiel der zerrissenen Gardinen in der Klasse ihres Sohnes auf
Verwahrlosungserscheinungen im Gebäude hinzuweisen. Angesichts rückläufiger
Anmeldezahlen nahm das Gespräch aber rasch eine Wendung zum Grundsätzlicheren. Eine
Erziehung im humanistischen Geist war, wenn ich mich recht erinnere, die zentrale
Erwartung an das Alte Gymnasium. Was genau damit gemeint war, blieb eher unbestimmt. Ein
wertorientiertes, anspruchsvolles Bildungsangebot, das die alten Sprachen mit einbezieht,
den
Herausforderungen der Moderne aber Rechnung trägt und nicht in alten Positionen verharrt
- so etwa habe ich die an mich herangetragene Vorstellung verstanden.
Triebkraft bei dieser Suche nach einer Erziehung im humanistischen Geist war vermutlich
die Sorge um Orientierung angesichts einer als zunehmend unübersichtlich empfundenen
Umbruchs- und Krisensituation - die Hoffnung auf verlässliche Wegmarken in einer
Zeit vielfältiger und konkurrierender Sinnangebote und Lebensentwürfe. Es ist sicher
kein Zufall, dass in den letzten Jahren in den USA und in Deutschland verschiedene
Anthologien erschienen sind, in denen unter dem Namen prominenter Herausgeber an alte
Tugenden und Werte wie Selbstdisziplin, Mitleid, Wahrhaftigkeit,
Zivilcourage, Verantwortungsbereitschaft, Zuverlässigkeit und Treue erinnert wird -
William Bennetts Book of virtues" (1993), Ulrich Wickerts Buch der
Tugenden" (1995) und Friedrich Schorlemmers Buch der Werte" (1995).
Bezeichnend ist auch, dass eine Wochenzeitung wie Die Zeit" in den letzten
Jahren immer wieder die Frage nach dem literarischen Kanon, dem Verzeichnis der prägenden
Werke, aufgeworfen und dafür plädiert hat, die Schülerinnen und Schüler mit
intellektuell fordernder großer Literatur zu konfrontieren. Spaß ohne Mühe ist
die Langnese-Devise", so Die Zeit". Jeder
weiß doch, daß Kinder erst dann richtig glücklich und stolz sind, wenn sie die kleinen
Katastrophen des Scheiterns und der Verzweiflung überstanden haben und endlich auch
radfahren oder schwimmen können oder Englisch sprechen oder Fontane verstehen. Das macht
Kinder froh und Erwachsene ebenso." (Die Zeit, 13. Juni 1997, S. 49)
Ich habe den Elternwunsch nach einer Erziehung im humanistischen Geist immer auf dem
Hintergrund solcher Suche nach verlässlichen Orientierungspunkten gesehen, als
Versuch der grassierenden Beliebigkeit der Postmoderne entgegenzutreten", wie
Friedrich Schorlemmer in seinem Buch der Werte" (S. 20) sagt. Die Frage ist
aber, ob der Begriff des humanistischen Geistes, der humanistischen
Bildung oder - vorsichtiger - des humanistischen Erbes geeignet ist, das Bildungsangebot
zu charakterisieren, mit dem Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, hier am Alten
Gymnasium konfrontiert worden sind - zumal die wenigsten von Ihnen Griechisch als dritte
Fremdsprache gewählt haben.
Der Begriff der humanistischen Bildung ist jedenfalls nicht unbelastet, und wo ich ihn in
den letzten Jahren in Zusammenhang mit dem Schulprofil ins Gespräch gebracht habe, bin
ich auf Unsicherheit und Zögern gestoßen - auch bei Altphilologen. Aus gutem Grund.
Einige von Ihnen kennen vielleicht Alfred Anderschs autobiographische Erzählung Der
Vater eines Mörders" (1980), in dem Andersch eine Griechisch-Stunde in den späten
zwanziger Jahren schildert. Hauptfigur ist der Rex, der Direktor eines renommierten
Münchener Gymnasiums, ein von der Sprache Homers und Sophokles' schwärmender
Sokrates-Verehrer, ein sich jovial gebender menschenverachtender Autokrat, der seine Macht
dadurch beweisen zu müssen glaubt, dass er Schüler und Lehrer in der Öffentlichkeit
bloßstellt. Der Name dieses Direktors: Himmler. Im Buch wird er der alte Himmler genannt,
im Gegensatz zu seinem Sohn, dem jungen Himmler. Des Nachdenkens würdig ist es doch,
schreibt Andersch, daß Heinrich Himmler [...] nicht, wie der Mensch, dessen Hypnose
er erlag, im Lumpenproletariat [richtiger müsste es heißen, im Kleinbürgertum]
aufgewachsen ist, sondern in einer Familie aus altem, humanistisch fein
gebildetem Bürgertum. Schützt Humanismus denn vor gar nichts? Die Frage ist geeignet,
einen in Verzweiflung zu stürzen." (Taschenbuchausgabe 1982, S. 136)
Nein, humanistische Bildung und Humanitätsideale sind keine Garantie für humanes Leben.
Wer in die europäische Kulturhauptstadt des Jahres 1999 nach Weimar reist, kann dies
sinnfällig erleben an einer freigelegten Jagdschneise, die unter der Bezeichnung
Zeitschneise" versucht, einen Bezug zwischen dem Schloss Ettersburg, der
Sommerresidenz der kulturliebenden Herzogin Anna Amalia, und Buchenwald herzustellen
und so das Humanitätsideal der deutschen Klassik und die Wirklichkeit
nationalsozialistischer Konzentrationslager einander anzunähern.
Belege für die Brüchigkeit humanistischer Bildungsanstrengungen gibt es aber nicht nur
in Bayern und Thüringen. Zwar war nach übereinstimmender Darstellung von Zeitzeugen die
Zahl der überzeugten Nationalsozialisten an dieser Schule eher gering. Zwar gab es
Zeichen der Distanzierung von der herrschenden Ideologie - den Kampf um die
Schülermützen als Symbol der Eigenständigkeit gegenüber der Hitler-Jugend, das in
schwejkscher Manier perfektionierte Unterlaufen des geforderten Hitlergrußes oder das
ostentative Geschlossenhalten der Lippen beim Absingen des Horst-Wessel-Liedes. Grund zur
Selbstzufriedenheit bieten solche vereinzelte Demonstrationen geistiger Unabhängigkeit
aber nicht. Schon 1934 wurden für die Lehrerbücherei Titel wie
Nationalsozialistische Erziehung", Rassenkunde des jüdischen
Volkes" oder Weltgeschichte auf rassischer Grundlage" angeschafft - und
dies unter der Leitung eines Direktors, der als Humanist alter
Prägung im Griechisch-Unterricht jede Gelegenheit zu Exkursen in allgemein-menschliche,
philosophische und politische Bereiche nutzte und seine Schüler ständig zu kritischer
Einstellung aufrief. Solche Zerrissenheit blieb nicht ohne Folgen. Zu den
unauslöschlichen Schandmalen der Schulgeschichte gehört das Schweigen von Schülern und
Lehrern angesichts der Herabsetzungen und Misshandlungen, die der letzte jüdische
Schüler des Oldenburger Gymnasiums, Helmut Goldschmidt,
über sich ergehen lassen musste.
Schützt Humanismus denn vor gar nichts? Der Stachel von Anderschs Frage sitzt tief, und
er bohrt sich tiefer ein, wenn man an das Stück denkt, mit dem die Theater-AG uns im
letzten Jahr vor Augen geführt hat, wie das Wahre, Gute und Schöne als Dekoration des
Besitzstandes, als Mittel der individuellen und gemeinschaftlichen Selbstdarstellung
missbraucht werden kann: Dürrenmatts tragische Komödie oder, wie es ursprünglich hieß,
seine Komödie der Hochkonjunktur Der Besuch der Alten Dame" (siehe Kasten).
Nein, ein ungebrochenes Anknüpfen an den Geist der humanistischen Gymnasien ist nicht
Bekenntnis eines Humanisten - Epilog des Lehrers Ich bin ein Mörder. Wir alle sind
es. Wir damals verarmten Güllener haben unseren geschätzten Mitbürger, den Krämer
Alfred III umgebracht, alle zusammen, als offiziellen Akt. Die Milliardärin Claire
Zachanassian schenkte uns dafür eine Milliarde. III hatte sie in Jugendjahren ins Elend
gestoßen. Die Milliarde zog uns aus aller Armut, und wir wurden wieder
glücklich. Wir hätten Alfred III nicht töten müssen. Wir hätten arm bleiben können.
Aber wir wurden lieber reich und blutbefleckt. Ich habe mitgetötet. Dabei bin ich doch
der Humanist in unserer traurigen Geschichte, und das ist nicht gelogen: Schon als
Musterschüler studierte ich Plato, wurde ein Freund der alten Griechen, las Shakespeare
und begann zu verstehen, was ein guter Mensch ist, und nahm mir vor, immer einer zu sein,
die Menschlichkeit als das Wichtigste walten zu lassen, die Gerechtigkeit und das
friedliche Zusammenleben zu fördern. Schon allein mein Beruf verpflichtete mich dazu,
schließlich wollte ich ein guter Lehrer sein. Da ich, außer kleine Prügeleien zu
beenden, nie etwas Humanistisches zu tun hatte, konnte ich mich einen Humanisten nennen.
Ich glaubte auch wirklich an die Gerechtigkeit und Menschlichkeit und hatte in den langen
Zeiten, in denen keiner satt wurde, immer etwas, was mich davon abhielt, Böses zu tun und
vermittelte dies den Schülern.
Trotzdem wurde ich ein Mörder. Seit der Kundgebung der Milliardärin war es unüberseh
bar, dass Güllens Armut zu bitter und die Versuchung zu groß war, als dass es auf die
Milliarde hätte verzichten können. Ich wusste es, von Anfang an, und ich wusste auch,
dass auch ich mitmachen würde. Allerdings muss man zugeben, dass ich es war, der am
längsten durchhielt, der am längsten Widerstand bot. Immerhin war ich es, der zu Frau
Zachanassian ging und sie anflehte, den unheilvollen Gedanken der Rache fallen zu lassen,
während sogar der Bürgermeister schon auf IIIs Tod spekulierte. Und wenn es auch im
Rausch geschah, war ich der erste und letzte, der sich traute, die Wahrheit zu verkünden,
wie es um uns und III stand.
Aber am Ende war auch ich ein Mörder. Die schändliche Milliarde hat eben jedem im Herzen
gebrannt. Mein Glaube an die Humanität wurde immer machtloser. Zum Schluss habe ich dann
unser Vorhaben als humanes Handeln verstanden. Jetzt weiß ich das alles und frage mich,
was all die Gedanken an die Humanität bewirken in der Welt. Mir haben sie nichts
gebracht, die ganzen Theorien waren umsonst, denn reden konnte ich viel, aber tun konnte
ich nichts, als es drauf ankam.
Sie können jetzt natürlich sagen, das ist bei mir so, deswegen müssen ja nicht alle so
einen schwachen Charakter haben, aber wenn ich mich mal mit Ihnen vergleiche, frage ich
Sie: Hätten Sie es anders gemacht? Hätten Sie nicht getötet? Hätten Sie es wirklich
anders gemacht?" Jasper Beutin
möglich, und das elitäre Bewusstsein, das sich auch an dieser Schule artikulierte, als
nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschlands aus der Oberschule mit
altsprachlichem Gymnasium wieder das altsprachliche Gymnasium mit Oberschule geworden war,
ist höchst anfechtbar. Die Horde der Barbaren trottete wieder hinter der Schar der
Humanisten her. Ich, bislang Schüler einer sogenannten Deutschen Oberschule im
preußischen Küstrin," heißt es in dem
Rückblick eines der an das Oldenburger Gymnasium verschlagenen Flüchtlingskinder,
fühlte mich geistig geliftet, als ich am zweiten Schultag in einem kalten
Klassenzimmer meine neue schulische Identität erfuhr." Die Horde der Barbaren, die
wieder hinter der Schar der Humanisten hertrottet _ eine
solche Formulierung mag verständlichen Stolz angesichts der Rehabilitierung
altsprachlicher Bildung nach den Jahren der nationalsozialistischen Indoktrination
spiegeln. Sie wirft dennoch die Frage auf, ob Selbstvergewisserung und Selbstbestätigung
mit der Herabwürdigung anderer einhergehen müssen. Überdies ist zweifelhaft, inwieweit
der hohe moralische Anspruch humanistischer Bildung nach dem zweiten Weltkrieg eingelöst
werden konnte. Zwar erinnern sich die Nachkriegsjahrgänge mit großer Liebe an ihre
Schulzeit, in der sie - auch in der Auseinandersetzung mit der Antike - Leitlinien
einer geistigen Orientierung gewannen. Klaus Modick aber schreibt in seinen Erinnerungen
an die sechziger Jahre am Alten Gymnasium, die Schule habe jeden Winkelzug der Punischen
Kriege und jede grammatische Variante des Gallischen Krieges eingepaukt, sich aber nahezu
vollständig ausgeschwiegen, wenn von dem Krieg und seiner Vorgeschichte die Rede hätte
sein müssen, den die meisten Lehrer noch selbst erlebt hatten (Schwarten, Pauker, Blaue
Briefe, 1998, S.10).
Die Frage bleibt und stellt sich mit neuer Dringlichkeit. Was bleibt vom humanistischen
Erbe, das diese Schule über weite Strecken ihrer Geschichte geprägt hat? Der
Elternvertreter bei der Entlassungsfeier 1995 sah das bewahrenswerte Anliegen des
Humanismus des 16. und 19. Jahrhunderts in dem Bemühen um Selbsterkenntnis, das heute auf
sehr viel mehr Feldern als
nur in der Auseinandersetzung mit der Antike zu erfolgen habe: erstens in der
Beschäftigung mit fremden Sprachen und Kulturen der Gegenwart, in denen man dem anderen
Menschen begegne, den es zu verstehen gelte, zweitens in den Naturwissenschaften, in denen
der Mensch mit den rätselhaften und nicht hintergehbaren Strukturen seiner
Weltwahrnehmungsmöglichkeiten und der Frage nach der ethischen Verantwortung der
Wissenschaft konfrontiert werde, und drittens im schöpferischen Spielen und Nachspielen,
in dem vielleicht der größte Schatz des Menschlichen überhaupt liege.
Damit sind zweifelsohne wesentliche Elemente jeder Bildung genannt, wenn auch zentrale
Bereiche fehlen: die politische und ökonomische Bildung mit dem Ziel der aktiven Teilhabe
an der res publica. Aber wenn damit zeitgemäße humanistische Bildung hinreichend
definiert ist, dann ist jede Schule dem humanistischen Bildungsanspruch verpflichtet. In
gewissem Sinn ist dies auch richtig. Im Niedersächsischen Schulgesetz heißt es zum
Bildungsauftrag der Schule: Die Schule soll [...] die
Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage des Christentums, des
europäischen Humanismus und der Ideen der liberalen, demokratischen und sozialen
Freiheitsbewegungen weiterentwickeln." Aber die genannten Elemente - das
Erlernen moderner Fremdsprachen, die Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften,
ästhetische Praxis, politische und ökonomische Bildung - reichen nicht aus, die
Besonderheiten Ihres Bildungsganges zu kennzeichnen, liebe Abiturientinnen und
Abiturienten.
Das Alte Gymnasium hat versucht, Ihnen den Reichtum der abendländischen Tradition von der
Antike bis zur Moderne zu erschließen, ohne deren Schattenseiten zu verdrängen. Bei dem
Festakt zu unserem 425-jährigen Bestehen im vergangenen Jahr sind wir daran erinnert
worden, dass Europa mehr ist als die Bezeichnung eines geographischen Raumes oder eines
wirtschaftlichen und politischen Zusammenschlusses von Staaten. Europa, das ist auch ein
geistiger Raum, der mit seiner Betonung rationaler Weltsicht, verfassungsmäßig
garantierter Rechte und der unveräußerlichen Würde des Einzelmenschen von der
griechischen Philosophie, dem römischen Recht und der jüdisch-christlichen Tradition
geprägt ist. Wir haben versucht, Ihnen dieses Erbe nahezubringen, ob wir mit Ihnen die
Methoden exakter Naturwissenschaft erprobt, über den europäischen Imperialismus oder die
Zukunft der Industriegesellschaft nachgedacht haben, ob wir mit Ihnen über längere
Zeiträume an schweren, großen Musikstücken gearbeitet oder mit ihnen prägende Werke
der Weltliteratur gelesen haben.
Dabei ging es nicht um unkritische Reproduktion der Klassiker, vielmehr um kritische
Bewahrung und Aufarbeitung unserer Vergangenheit, um die Gewinnung geistiger und
moralischer Leitlinien.
Wir haben bei unserer Bildungsarbeit die antiken Traditionen stärker berücksichtigt, als
dies andernorts der Fall ist - nicht weil wir glauben, dass wir dadurch besser sind als
andere, sondern weil wir überzeugt sind, dass Europa dieses Erbe braucht. Dass die Antike
auch heute noch einen nicht aufgebrauchten humanen Überschuss besitzt, dass man aus der
Auseinandersetzung mit ihr Wegweisung und Stärkung für ein menschenwürdiges Leben
gewinnen kann, zeigt das Beispiel Nelson Mandelas, der während seiner Haft auf Robben
Island klassische griechische Dramen las und die Antigone mit
seinen Mitgefangenen aufführte. Für ihn waren die antiken Protagonisten
Identifikationsfiguren, die ihn inspirierten und ihm halfen, selbst unter den härtesten
Prüfungen nicht zusammenzubrechen, ungerechten Gesetzen im Namen eines höheren Rechts zu
widerstehen und Gerechtigkeit und
Barmherzigkeit in der politischen Führung miteinander zu verbinden (Long Walk of
Freedom", The Autobiography of Nelson Mandela, 1994/1995, S. 456). Angesichts eines
solchen humanen Potenzials freuen wir uns, dass die skeptischen Prognosen vom
bevorstehenden Ende des Griechisch-Unterrichts am Alten Gymnasium bislang nicht
eingetroffen sind und dass wir bei der diesjährigen Abiturprüfung erstmals wieder zwei
Prüflinge in Griechisch hatten - auch wenn die Realisierung mit niveau- und
jahrgangsübergreifenden Kursen allen Beteiligten ein hohes Maß an Flexibilität und
Kreativität
abverlangt hat. Wir leisten uns den Luxus eines solchen Minderheitenangebotes, nicht weil
wir von der besonderen Subtilität und Dignität des Griechischen im Vergleich zu anderen
Sprachen und Kulturen überzeugt sind, sondern weil wir glauben, dass die Minderheit der
Schülerinnen und Schüler, die Griechisch wählt, uns allen einen Dienst erweist, indem
sie uns an wichtige Wurzeln unserer Kultur erinnert.
Die stärkere Einbeziehung der Antike bei unserem Bemühen um Maßstäbe für eine humanes
Leben war ein Merkmal unseres Bildungsangebotes an Sie, liebe Abiturientinnen und
Abiturienten. Ein anderes war dessen Breite. Wir haben Ihnen mit unserem
Drei-Sprachen-Modell [Latein/Englisch ab Klasse 5, Englisch/Latein ab Klasse 7,
Französisch/Griechisch ab Klasse 9] mehr angeboten und mehr abverlangt als die meisten
anderen Schulen. Wir haben Sie nicht zurückgehalten, wenn Sie in Klasse 11 drei
Fremdsprachen oder drei Naturwissenschaften oder in der Kursstufe bis zu 36 Wochenstunden
belegen wollten. Wir haben Sie ermutigt, sich über den Unterricht hinaus in Chor,
Orchester, Theater-AG, Debating Society oder bei der Model-UN zu engagieren. Wir haben
dies getan, weil wir überzeugt sind, dass das alte humanistische Leitbild von der
allseitig oder doch zumindest vielseitig gebildeten Persönlichkeit auch heute noch
gültig ist. Wir haben Ihnen die Mehrbelastung zugetraut und zugemutet in der
Überzeugung, dass ein breit angelegtes, forderndes Bildungsangebot Ihnen am
ehesten hilft, Ihre Stärken und Schwächen zu erfahren und Ihre Begabungen zu entfalten.
In gewissem Sinn haben wir damit auf eine Elite gezielt - aber nur im Sinne einer
Funktions- und Verantwortungselite, wie sie von der Elternvertreterin bei der
Entlassungsfeier 1996 beschrieben wurde - einer Elite,
die eine nationale Identität hat, aber über Deutschland hinaus denkt und sich
ihrer globalen Verantwortung stellt,
die nicht in erster Linie eigene Interessen verfolgt, sondern dem Gemeinwohl dient,
die in alle Überlegungen die Leistungsschwächeren einbezieht,
die sich den Grundwerten der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verpflichtet
fühlt und die unaufhebbare Spannung zwischen diesen Werten aushält,
die um die eigene Verführbarkeit weiß,
die sich immer wieder legitimieren und zu jeder Zeit überprüfen lassen muss.
So entlassen wir Sie denn - in dem Bewusstsein um die Vorläufigkeit und Gefährdetheit
unserer Bildungsbemühungen, in der Hoffnung, dass die uns tragenden Traditionen ihren
unaufgebrauchten humanen Überschuss in Ihrem Leben entfalten und Ihnen Halt und
Orientierung geben mögen.
Jens-Peter Green, Oldenburg
Elefant und Ameise in der römischen Literatur
Ein Beispiel für Intertextualität im Rahmen der Vergillektüre
Ein deutsches Sprichwort besagt, man solle aus einer Mücke keinen
Elefanten machen, womit gemeint ist, dass man eine relativ unbedeutende Angelegenheit
nicht zu einer großen Affäre hochstilisieren soll. Entsprechend dieser Mahnung versteht
sich dieser Beitrag zuvörderst als bescheidener Streifgang durch die römische Literatur
auf der Suche nach dem Motiv von Elefant und Ameise und in zweiter Linie als kleine
Anregung, die Schüler im Rahmen der Vergillektüre an einem Beispiel mit dem Phänomen
der Intertextualität vertraut zu machen.
Vergils Aeneis kann in der Schule, wie Fachdidaktiker und Praktiker wissen, nur in
Auszügen gelesen werden. Konsens herrscht darüber, dass das vierte Buch mit seiner
Beschreibung der Liebe zwischen Dido und Aeneas in keiner Auswahl fehlen darf. Daraus
leitet sich die Berechtigung ab, folgenden Abschnitt aus diesem Buch als Ausgangspunkt
weiterer, ausdrücklich auch unterrichtsrelevanter Überlegungen zu nehmen.
In diesen Versen wird die Situation geschildert, wie Aeneas, der Weisung Jupiters
gehorchend, seinen Gefährten aufträgt, die Schiffe für die Abreise von Karthago
startklar zu machen. Dido betrachtet das darauf einsetzende Treiben der Trojaner am Strand
von erhöhter Warte aus (arce ex summa, 4, 410), das ihr nicht zuletzt wegen dieser
Perspektive wie Ameisengewimmel vorkommt:
migrantis cernas totaque ex urbe ruentis.
ac velut ingentem formicae farris acervum
cum populant hiemis memores tectoque reponunt,
it nigrum campis agmen praedamque per herbas
convectant calle angusto: pars grandia trudunt
obnixae frumenta umeris, pars agmina cogunt
castigantque moras, opere omnis semita fervet. (4, 401-407)
Besonders interessieren soll hier der Halbvers it nigrum campis agmen. Bei ihm handelt es
sich um einen Originalvers aus dem Epos des Ennius (Vahlen2, frg. 474), der sich laut
Servius auf Elefanten bezog und den Vergil durch seine Verwendung in neuem Kontext
konterkariert: aus der respekteinflößenden Schar schwarzer Elefanten ist ein Häuflein
Ameisen geworden.
Inwiefern sich hinter diesem gewitzten intertextuellen Spiel poetologische Kritik des
kallimacheisch geschulten Vergil an seinem Vorgänger verbirgt, kann hier nicht in extenso
thematisiert werden, doch ist immerhin denkbar, dass die Reduktion der Elefanten auf
Ameisen auch subtile Chiffre für die seit Ennius gewandelte Dichtungsauffassung sein
könnte, weg vom ìÝãá âéâëßïí hin zum alexandrinisch verfeinerten
Kleingedicht.1
Abgesehen von solchen Implikationen wird diese den ursprünglichen Sachverhalt umwertende
Anspielung ein Hochgenuss für das literarisch versierte zeitgenössische Publikum gewesen
sein, um so mehr, wenn man bedenkt, wie vergleichsweise dröge Accius schon vor Vergil
diesen Ennius-Halbvers zur Beschreibung der Indi verwendet hat (Frg. 26 Morel, FPL).
In seiner Spätschrift Naturales Quaestiones greift Seneca seinerseits den vielzitierten
ennianischen Halbvers auf:
Si quis formicis det intellectum hominis, nonne et illae unam aream in multas provincias
divident? Cum te in illa vere magna sustuleris, quotiens videbis exercitus subrectis ire
vexillis et, quasi magnum aliquid agatur, equitem modo ulteriora explorantem, modo a
lateribus affusum, libebit dicere it nigrum campis agmen": formicarum iste
discursus est in angusto laborantium. Quid illis et nobis interest nisi exigui mensura
corpusculi? (Sen. nat. 1 praef. 10)
Diese Stelle steht im Zusammenhang der moralphilosophischen Betrachtung, dass die Menschen
sich vor Augen halten sollten, wie klein die scheinbar große Menschenwelt tatsächlich
sei: Hoc est illud punctum, quod inter tot gentes ferro et igne dividitur? O quam ridiculi
sunt mortalium termini! (Sen. nat. 1 praef. 8f.)2
Wenn Seneca diesen Ennius-Vers zitiert, hat er, wie der Folgesatz mit seiner Bezugnahme
auf das Ausschwärmen von Ameisen (formicarum iste discursus ...) zeigt, offenkundig seine
oben beschriebene vergilische Adaption vor Augen. Bezweckte Vergil mit der Bezugnahme auf
Ennius möglicherweise literarische Kritik, so gebraucht Seneca den Ennius-Vers in der
schon vergilisch
gebrochenen Form zu philosophischer Kritik an der Selbstüberschätzung der Menschen.
In satirischem Kontext findet sich das Motiv von Ameise und Elefant in einem spätantiken
Epigramm des Anicius Probinus auf einen kleinwüchsigen Menschen (In Faustum staturae
brevis. Anicii Probini):
Faustulus insidens formicae ut magno elephanto
decidit et terrae terga supina dedit,
moxque idem ad mortem est mulcatus calcibus eius,
perditus ut posset vix retinere animam.
vix tamen est fatus: quid rides, improbe livor,
quod cecidi? cecidit non aliter Phaethon." (Epigrammata Bobiensia ed. W. Speyer, 65)
Der kleine Faustus, der auf einer Ameise ritt, als wäre sie ein großer Elefant, / fiel
herab und lag rücklings auf der Erde. / Bald darauf wurde er von ihren Tritten beinahe zu
Tode getrampelt, / so dass er, verloren schon, sein Leben kaum behalten konnte. / Unter
größter Anstrengung hub er an: Was lachst du, schlimmer Neid, / dass ich gestürzt
bin? Es stürzte nicht anders Phaethon." (Eigene Übersetzung)
Der Witz des Textes liegt in der Diskrepanz zwischen realer Kleinheit des Faustus
einerseits und angemaßter Größe andererseits. Bereits der erste Vers macht dies durch
die Doppelantithese mit dem Deminutiv Faustulus und dem Adjektiv magno und der
Gegenüberstellung der denkbar konträrsten Tiere Ameise und Elefant deutlich. In
satirischer Übertreibung wird Faustus auf einer Ameise reitend vorgestellt, von der er
stürzt und beinahe totgestampft wird - böse Überzeichnung der geringen Körpergröße
des Faustus. Vollends vernichtend aber wird der Spott im letzten Distichon: nicht genug,
dass der kleine Mann von einer Ameise stürzt, vergleicht er seinen Sturz gar mit
dem des Heliossohnes Phaethon von hohem Himmelspol herab.
Die Wichtigtuerei des Faustus entlarvt sich so zum einen in seiner lächerlich wirkenden
Selbstermächtigung zur mythischen Persönlichkeit (cecidit non aliter Phaethon) und zum
anderen in der Stilhöhe des epischen Sprachduktus, der der Banalität der Situation nicht
angemessen ist (fatus est). Um auf das bereits zu Anfang des Beitrags zitierte Sprichwort
zurückzukommen: der von Probinus karikierte Faustus versteht es zu seinem eigenen
Schaden, aus einer Mücke, nämlich sich, einen Elefanten zu machen.
Dieses kleine Textcorpus lässt sich im Unterricht durchaus als Zwischenexkurs im Rahmen
der Vergillektüre einbauen. An ihm kann exemplarisch das für die römische Literatur so
wichtige Phänomen der Intertextualität aufgezeigt werden. Die Erfahrungen aus der
eigenen unterrichtlichen Praxis des Verfassers zeigen, dass der feinsinnige Witz
römischer Autoren von Oberstufenschülern goutiert wird und ganz neu für die Lektüre
der nur scheinbar langweiligen Klassiker zu motivieren
vermag - ohne Zuhilfenahme von Asterix und anderen Comicfiguren mit lateinischen
Sprechblasen. Nur Mut! Probatum est.
1) Insofern greift auch hier die These von der subversion by intertextuality"
im vergilischen Epos. Vgl. dazu R.O.A.M. Lyne, Vergil's Aeneid: Subversion by
intertextuality. Catullus 66.39-40 and other examples, Greece and Rome 41, 1994, S.
187-204. Vgl. für weitere Beispiele auch M. Lobe, Die Gebärden in Vergils Aeneis. Zur
Bedeutung und Funktion von Körpersprache im römischen Epos, Frankfurt a. Main 1999, S.
112.
2) Mit Stoßrichtung gegen die Selbstüberhebung des Welteroberers Alexander des Großen
schreibt Seneca ganz ähnlich in epist. 91,17: Alexander Macedonum rex discere geometriam
coeperat, infelix, sciturus quam pusilla terra esset, ex qua minimum occupaverat.
Michael Lobe, Dinkelsbühl
Weltbürgertum in der Antike
Vor 12 Jahren stellte mir ein mit mir befreundeter Politologe die Frage: Gab es vor
dem Christentum ein ethisches System, das gesamtmenschheitliche (d. h. die ganze damalige
Oikumene umfassende) Gültigkeit beanspruchte?" - ich schickte ihm daraufhin
eine Übersetzung der folgenden Stelle aus Ciceros De officiis" zu (die
übrigens auch den bayerischen Abiturienten im Jahre 1993 als Prüfungsaufgabe vorgelegt
wurde, vgl. Anregung 5/93) und fügte noch einige kommentierende Bemerkungen bei, von
denen ich annehmen konnte, dass sie den Empfänger, dem bei seiner beruflichen
Tätigkeit immer auch an den größeren geschichtlichen Zusammenhängen gelegen war,
interessieren könnten. - Der Text und die vier kommentierenden Bemerkungen könnten
vielleicht auch als Ergänzungen zu dem wichtigen historischen Überblick verstanden
werden, den Friedrich Maier jüngst in der Anregung" (Die geistigen
Wurzeln einer europäischen Wertegemeinschaft in Antike und christlichem Abendland",
Heft 4/99) zu dieser Thematik gegeben hat (vgl. da besonders die Seiten 227-229).
Wenn die Natur gebietet, dass der Mensch auf seinen Mitmenschen Rücksicht nimmt, u.
zwar ohne Ansehen von dessen Person (wörtlich: wer auch immer dieser Mitmensch
sei"), sondern eben nur, weil dieser ein Mensch ist: so muss gemäß derselben Natur
der Nutzen aller Menschen ein gemeinsamer sein. Und wenn das so ist, gilt für uns alle
ein und dasselbe Gesetz der Natur; und wenn wiederum dieses letztere gilt, dann verbietet
uns dieses Gesetz eindeutig, einem anderen Menschen wehe zu tun. - Absurd ist nämlich,
was einige (Philosophen) behaupten: natürlich würden sie, um einen Vorteil zu erlangen,
ihrem Vater oder Bruder nichts wegnehmen, aber hinsichtlich der übrigen Mitbürger stehe
es anders. Diese (Philosophen) bestreiten also, dass es so etwas wie eine
Rechtsgemeinschaft oder eine Gemeinschaft des Nutzens zwischen den Bürgern eines Staates
gibt - eine These, die jede staatliche Gemeinschaft über den Haufen wirft. Absurd aber
auch das, was eine andere Gruppe (von Philosophen) behauptet: Rücksicht auf alle
Mitbürger ja, nicht aber auf Ausländer. Diese (Philosophen) zerstören die Gemeinschaft
des Menschengeschlechts (dirimunt communem humani generis societatem).
Damit aber negieren sie die Tugenden der Wohltätigkeit, Großzügigkeit, der Güte, der
Gerechtigkeit von Grund aus; und Leute, die das tun, müssen auch als Frevler gegen die
unsterblichen Götter betrachtet werden. Denn sie wollen die Gemeinschaft beseitigen, die
von den Göttern zwischen den Menschen (gemeint: zwischen allen Menschen) eingerichtet
worden ist." (De off. III 27/28).
Kommentar:
Natürlich ist hierbei zu beachten, dass Cicero hier aus griechischen Vorlagen für den
römischen Leser referiert, also nicht unbedingt persönlich mit dem Gesagten zur Deckung
gebracht werden kann. Die römische Geschichte zeigt, dass die Römer (auch Cicero selber)
im Schnitt alles andere als stoische Kosmopoliten waren. - Bezüglich Ihrer Frage ist also
im ganzen folgendes festzuhalten:
1. Jahrhunderte bevor das (Ur-)Christentum mit seiner Moral der Nächstenliebe auf den
Plan trat, gab es in der mittelmeerischen Oikumene in der Theorie den stoischen
Kosmopolitismus.
2. Umgekehrt kann man sagen, dass dieser stoische Denkansatz der Nährboden (oder das
Ambiente") war, in dem sich das christliche Gebot der Nächstenliebe, die ja
ursprünglich und primär auf den sinnlich greifbaren Nächsten" bezogen war
(vgl. etwa das Gleichnis vom barmherzigen Samariter), mit der Zeit immer mehr
universalisieren" konnte.
3. Das Amalgam aus stoischer und christlicher Ethik ist dann später in der europäischen
Aufklärung wieder zu neuem Leben erwacht. Denn Philosophen wie Kant oder einflussreiche
Schriftsteller wie Voltaire lösten sich zwar vom christlichen Gottesglauben, nicht aber
von der christlichen Ethik. Dabei spielte Cicero als Vermittler der stoischen Ethik eine
entscheidende Rolle. Friedrich der Große pries speziell De officiis" mit den
wärmsten Worten und sorgte für eine Übersetzung ins Deutsche.
4. Was sich in jüngster Zeit in dieser Richtung regt (z. B. die sogenannte
Friedensbewegung") ist also nur ein letztes Glied in einer mehr als
2000-jährigen Tradition. - Betont sei aber nochmals, dass diese Tradition vorwiegend eine
theoretische war, die an der politischen Praxis, also z. B. an den nationalstaatlichen
Interessen und den daraus folgenden Konflikten, leider nur wenig ändern konnte.
Heinz Munding, Schwegenheim
Ehrung für Klaus Sallmann
Am 6. November 1999 fand in der Universität Mainz die akademische Feier anlässlich der
Entpflichtung von Herrn Professor Dr. Klaus Sallmann statt, der am 24. September sein 65.
Lebensjahr vollendet hatte. Die vielen Gäste aus dem In- und Ausland zeigten augenfällig
die Weite seiner Arbeit für die alten Sprachen und den altsprachlichen Unterricht.
Fachwissenschaftler rühmten seine Arbeit auf dem Gebiet der antiken Fachliteratur und des
Neulateins. Lehrer und Kollegen zeigten, dass sie der von Klaus Sallmann vorbildlich
praktizierten lebendigen Anwendung des Lateinischen anhängen und in ihm einen ihrer
Vorreiter sehen. Vertreter politischer und kultureller Vereinigungen, die sich zum Ziel
gesetzt haben, über die Grenzen des Faches und des eigenen Landes hinweg zu denken und zu
arbeiten, zeigten den Wert von Sallmanns
Mitarbeit in diesen Gremien. Kollegen und Freunde ehrten ihn durch eine Festschrift mit
dem Titel Vivida loquela", die Herr Professor Blänsdorf im Rahmen seiner
lateinischen Ansprache überreichte.
Klaus Sallmanns Verdienste um den Deutschen Altphilologenverband passen in dieses Bild ei
nes strengen Philologen und gleichzeitig stets der Gegenwart verpflichteten politisch
denkenden Menschen. Hier seien vor allem drei Verdienste hervorgehoben. Klaus Sallmann hat
zusammen mit Erich Burck, Adolf Clasen und Andreas Fritsch eine kleine Geschichte
des Deutschen Altphilologenverbandes 1925-1985" herausgegeben (1987 als Sonderheft
des Mitteilungsblattes und als Broschüre erschienen). Er hat damit die Anfänge und die
Entwicklung unseres Fachverbandes
festgehalten. Er hat aber auch die Notwendigkeit der Werbung und Öffentlichkeitsarbeit
erkannt und als erster Pressesprecher des Verbandes gewirkt. Immer wieder hat er in
Zeitungsartikeln und Leserbriefen zu den Problemen, Leistungen und Forderungen unserer
Fächer Stellung genommen. Schließlich hat er in die Zukunft gedacht. Es war seine
Erkenntnis, dass der Sache der alten Sprachen auch dadurch gedient wird, wenn sich die
Verbände der Lehrer der alten Sprachen auf europäischer Ebene zusammenschließen und die
Arbeit der nationalen Verbände durch einen Dachverband
unterstützt und begleitet wird. Er ist einer der Gründungsvater des Gesamtverbandes
EUROCLASSICA und hat auch an seiner Satzung entscheidend mitgearbeitet (vgl. MDAV 1/92).
Klaus Sallmann hat sich um DAV und EUROCLASSICA große Verdienste erworben, beide
Verbände sind ihm zu großem Dank verpflichtet.
Andreas Fritsch u. Hans-Joachim Glücklich
Dank an Peter Petersen
Peter Petersen hat im September dieses Jahres den Vorsitz im Landsverband
Schleswig-Holstein an seinen gewählten Nachfolger Herrn OStD Rainer Schöneich, Leiter
der Kieler Gelehrtenschule, übergeben. Das ist mir Anlass, meinem Freund, Kollegen und
Mitstreiter seit nahezu 30 Jahren persönlich und im Namen des DAV den herzlichsten Dank
auszusprechen. Petersen hat sich wahrlich um die Alten Sprachen in Deutschland verdient
gemacht. Seit der Pädagogischen Wende" der Curriculumreform hat er an
führender Stelle an der Entwicklung des altsprachlichen Unterrichts mitgewirkt.
Zu allererst in der sog. EPA-Kommission, in der die einheitlichen Anforderungen in der
Abiturprüfung Latein/Griechisch festgelegt wurden; daraus ist die sog.
Hansen/Petersen-Matrix zur Erstellung der Interpretationsaufgabe in den Prüfungen
hervorgegangen. Die angemessene Leistungsbeurteilung ist seitdem ein zentrales Anliegen
von Petersen geblieben; hierzu leitete er bis vor kurzem eine Kommission des DAV. Hohe
Kompetenz erwarb er sich zudem auf dem Gebiet der Textgrammatik und der
Unterrichtsgestaltung nach modernen Methoden. Als Fachdidaktiker an der Universität Kiel
für
Latein und Geschichte hat er sich in die pädagogische Literatur bestens eingelesen.
Peter Petersen ist einer jener Fachvertreter, die mit Leidenschaft und
bildungstheoretischem Wissen auf der politischen Bühne die Sache des Lateinischen zu
vertreten versuchen. Sein Wirken war hier sehr erfolgreich. Auf unzähligen
Fortbildungsveranstaltungen hat er sein Wissen weitergegeben und gibt es weiter, wobei
immer die nahezu sprichwörtlich gewordenen Petersen-Papers" (umfangreiches
Kopiermaterial) die Grundlage bilden.
Als Referent genießt er hohes Ansehen. Dass ihn sein Können auch die Berufung in
Lehrbuch- Autorengremien eingebracht hat, war eine ganz natürliche Folge. Dort versucht
er seine Vorstellungen von einem moderen Lateinunterricht zu verwirklichen.
Freilich haben sein Engagement und die damit verbundenen Belastungen seiner Gesundheit
geschadet. Petersen stellte die Sache zu sehr über seine Person. Das ist nicht ohne
Gefahr. Doch scheint es eine prägendes Kennzeichen seiner Persönlichkeit zu sein, für
das als richtig Erkannte zu kämpfen und sich für andere einzusetzen. Das macht ihn
sympathisch und zeugt von seinem hohen menschlichen Wert. Wie viele andere habe auch ich
von ihm sehr viel gelernt und oft Hilfe bekommen. Deshalb ist und war mir die Freundschaft
mit ihm sehr viel wert. Ich wünsche ihm eine Stabiliserung seiner Gesundheit und, soweit
es ihm möglich ist, ein weiterhin erfolgreiches Wirken auf all jenen Feldern, auf denen
er sich bisher bewährt hat.
Friedrich Maier
Glückwünsche an Hans-Joachim Glücklich
Prof. Dr. Hans Joachim Glücklich ist mit dem Jahr 1999 für vier Jahre zum Vorsitzenden
der EUROCLASSICA gewählt worden. Dafür seien ihm auch an dieser Stelle die herzlichsten
Glückwünsche ausgesprochen. Möge es ihm gelingen, diesem Zusammenschluss der
europäischen Landesverbände eine stärkere Dynamik als bisher zu geben. Dringend
erwünscht wäre eine Resolution, die sich an die zuständige Behörde im Europazentrnm in
Brüssel richtet und in der die identitätsstiftende Kraft herausgestellt wird, die in der
Beschäftigung mit den Wurzeln der europäischen Kultur steckt. Eine positive Aussage dazu
von oben" wäre allen nationalen Verbänden eine echte Hilfe.
Herr Glücklich wird seine Funktion als Landesvorsitzender von Rheinland-Pfalz aufgeben,
um sich ganz der neuen, verantwortungsvollen Aufgabe widmen zu können. Für alles bisher
von ihm im Dienste des DAV Geleistete sei ihm auch an dieser Stelle Dank und Anerkennung
ausgesprochen.
Friedrich Maier
|