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Offizieller Bericht zum DAV-Kongress ´98 in Heidelberg

 

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Die geistigen Grundlagen der zukünftigen europäischen

Wertegemeinschaft


Bericht über ein internationales Kooperationsseminar der Association
Internationale des Professeurs de Philosophie (AIPPh) und der
Konrad-Adenauer-Stiftung, Bildungswerk Münster


Anfang dieses Jahres veranstaltete die Association Internationale des Professeurs de Philosophie (AIPPh) in Kooperationmit dem Bildungswerk Münster der Konrad-Adenauer-Stiftung in Minden/Westfalen ein internationales Seminar, in dem es um die Frage nach den Kriterien einer künftigen europäischen Identität und einer europäischen Werteordnung ging. Anlass zu diesem Seminar war die Frage, was europäische Dozenten und Lehrer der Philosophie aus ihrer Sicht tun können, um der europäischen Jugend Richtungen und Wege zu zeigen, die auch in Zukunft das Leben in einer menschenwürdigen Gesellschaft ermöglichen.
Gegenwärtig - an der Schwelle des 21. Jahrhunderts bzw. des dritten Jahrtausends - stehen wir im Aufbruch in eine neue Zeit, die einen sich schon seit langem anbahnenden elementaren Wandel des gesellschaftlichen Lebens mit sich bringt. Die Herausforderungen durch technologischen Wandel, durch wissenschaftliche Entwicklungen, die in ihrer Anwendung z. T. gewohnte Wege verlassen und traditionelle Werte in Frage stellen, durch politische und gesellschaftliche Umwälzungen und
zunehmende Globalisierung nicht nur in der Wirtschaft, sondern in vielen Lebensbereichen haben längst die Zukunft bewusster in das Leben der Menschen treten lassen. Unsicherheit, Pessimismus, Desorientierung sind vielfach die Folgen.
Wie können die Menschen diesen Folgen begegnen, wie können sie in Zukunft ihr Leben ordnen? Denn nur ein geordnetes Leben gibt auf Dauer Sicherheit und inneren Frieden. Zukunft kann nicht ohne Bindung gedacht werden, sie hat ihre Basis in der Gegenwart, und diese ist das Ergebnis der Vergangenheit.
Wenn wir versuchen, Leitlinien für eine gemeinsame europäische Zukunft zu erarbeiten, müssen wir in ihnen das kontinuierlich Beständige aufzeigen. Ein solches Ziel macht eine Neuorientierung unserer traditionellen Wertvorstellungen notwendig. Praktisch bedeutet dies, dass wir ihre Wurzeln und ihre Entwicklung in der griechischen Antike und im römisch-christlichen Abendland aufsuchen und die geistigen Kräfte und fundamentalen Werte erkennen, die im Laufe der Geschichte das gegenwärtige Europa geprägt haben. Kontinuität können wir schaffen, indem wir die Leitlinien für unsere
Zukunft an überzeitlichen Werten wie Rationalität, Freiheit und Verantwortung, Menschenwürde und Menschenrechten, orientieren.
Das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer solchen Orientierung zu entwickeln ist vornehmlich ein philosophische Aufgabe. Die Philosophie ist von ihrem Selbstverständnis her, sich mit den Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Erkennens und Wissens zu befassen, besonders gut geeignet, den Menschen verbindliche ethische Maßstäbe für ein verantwortungsbewusstes Handeln zu geben. Allerdings gibt die Philosophie bzw. die philosophische Ethik keine konkreten Anleitungen oder gar Rezepte, aber sie kann dem Menschen ein Bewusstsein für die notwendigen Voraussetzungen für ein
maßvolles, vernünftiges Leben entwickeln. Die Philosophie kann dem Menschen keine Entscheidungen abnehmen, aber sie kann ihn zu einer wohlverstandenen Aufklärung im Sinne Kants befähigen, „selbst zu denken" und „sich im Denken zu orientieren".
Dieser gedanklichen Konzeption folgten die Vorträge, Arbeitskreise und eine Podiumsdiskussion.
Das Einführungsreferat „Die geistigen Wurzeln der europäischen Wertegemeinschaft in Antike und römisch-christlichem Abendland - angedeutet an Beispielen von Rationalität und Menschenrechten" hielt Prof. Dr. Friedrich Maier, Humboldt-Universität zu Berlin, Vorsitzender des DAV. Als die großen Errungenschaften, die Europa in die Lage versetzten, die Welt zu verändern, hob Friedrich Maier einerseits die Rationalität mit den ihr zugeordneten Werten Freiheit und Verantwortung und andererseits die Menschenrechte mit den ihnen zugeordneten Werten Menschenwürde und Toleranz
hervor, die sich gleichzeitig als die tragenden Werte unserer heutigen Kultur bestimmen.
Der Referent markierte begrifflich prägnant wesentliche Stationen auf dem Weg der Entdeckung und der Entwicklung der Rationalität in der griechischen (Natur)-philosophie bzw. wissenschaft von der ,~ñ÷Þ` des Thales, einem noch sinnlich bestimmbaren Prinzip, über das ,ôN eðåéñïí` des Anaximander, ein spekulatives, von konkreter Anschaulichkeit unabhängiges Prinzip, die Zahl des Pythagoras als der dem Sein zugrundeliegenden Ordnung, über die Entität des Parmenides, einer stabilen Größe gegenüber der verwirrenden Vielfalt der Erscheinungen, bis hin zu Heraklits Logos oder Weltvernunft, dem ordnenden Prinzip, das die unter Spannung stehende Harmonie in der Welt (Natur) hervorbringt.
Die „Entdeckung des Geistes", so zeigte Fr. Maier anschaulich am Beispiel von Anaximanders ,ôN eðåéñïí`, verdankt sich dem Sprung vom Konkreten in die Abstraktion, einem Phänomen, das als das schlechthin Gegebene seiner Art (,Ding an sich`) bestimmt werden konnte. Dieses für die griechische Sprache typische Merkmal, die Möglichkeit zur Abstraktion durch die Neutrumbildung von substantivierten Adjektiven wurde die Basis einer für Griechenland und für Europa charakteristischen Wissenschaftshaltung, wie Friedrich Maier weiter ausführte.
Die zum ,ôN eðåéñïí` des Anaximander analoge „Erfindung neuer Götter" des Sokrates, nämlich die Bildung des Abstraktums ,ôN äáéìüíéïí ` (das Göttliche) war jedoch für Sokrates, so betonte Maier, nicht mehr nur ein wissenschaftlich neutrales Hilfsmittel, eine Methode, sondern  wurde zur moralischen Instanz, zu einem Kriterium des „Gewissens" (,die innere Stimme`). Ihm kam es auf die
Selbsterkennmis des Menschen, auf die ,gewissenhafte` Begründung und Verantwortung seines Handelns an. Daher richtete sich Sokrates' Widerstand gegen den aufkommenden Freigeist und gegen die Sophistik, auch gegen die Naturphilosophie, deren Totalanspruch von Wahrheit und Wissenschaft er strikt ablehnte. Mit Recht spricht man von der sokratischen Wende, einer Wende von der Natur zum Menschen. Die bleibende Leistung des Sokrates, so fasste Maier zusammen, ist die Tatsache, dass er wissenschaftliches Streben und ethische Orientierung eng zusammengebracht und der Philosophie eine
neue Dimension gegeben hat.
Aufschlussreich erschien der Hinweis Friedrich Maiers, dass bereits vor Sokrates Stimmen des Unmuts laut wurden, die Widerstand gegen die Rationalität und ihre Vertreter, die Philosophie hervorriefen. Ihre Skepsis richtete sich gegen einen auf bloßer Rationalität beruhenden, Traditionen zerstörenden Fortschritt, was Fr. Maier auch am Beispiel des Euripides („Die Bacchantinnen"), eines extremen Aufklärers, erläuterte.
Offensichtlich hat die griechische Aufklärung selbst infolge ihrer teilweisen Übersteigerung bereits die Ambivalenz des wissenschaftlichen Fortschritts erahnen oder sogar bewusst werden lassen, eine Problematik, deren Ursache im Menschen selbst liegt.
In diesem Zusammenhang erinnerte Maier an Solon, der schon die Einbindung der Freiheit des Individuums in den Rahmen der politischen Gemeinschaft voraussetzt, und an Herodot, der die Freiheit, untrennbar verbunden mit Sophia (ratio, Klugheit, oder Fähigkeit zur geistigen Durchdringung der Welt, wie Friedrich Maier diesen Begriff deutete) als die konstitutiven Elemente des griechischen Wesens bestimmt, aber zugleich immer unter „König íüìïò" (Gesetz, Sitte, Brauch) stehend, also einem den Menschen von außen vorgegebenen Ordnungsprinzip.
In dieser Einbindung des Menschen in die politische Gemeinschaft ist bereits der Gedanke der Würde des Menschen enthalten, wenngleich nicht entwickelt. Der Weg zu den Menschenrechten und ihrer Einhaltung war noch ein sehr langer Weg im Gegensatz zur Entwicklung der Rationalität.
In den folgenden Ausführungen verfolgte Friedrich Maier den weiteren Weg der Rationalität: Bei den Römern fand die griechische theoretische Rationalität ohne praktischen Bezug keinen Anklang, und die christliche Theologie bediente sichihrer nur zur wissenschaftlichen Fundierung von Glaubenswahrheiten. Durch Kopernikus' „terra movetur" geriet das antik-christliche Weltbild ins Wanken. Die Erde wurde zu einem zu erforschenden Objekt. Nunmehr stand das Streben nach
Wissen über die Erde im Vordergrund, da es Macht bedeutet.
Francis Bacon (1561-1621) wurde der Bahnbrecher der Herrschaft des naturwissenschaftlichen Denkens. Sein Ziel war es, in die neue Welt des Geistes zu ziehen, Wissen zu vermehren und in scharfe Opposition zur Scholastik zu treten. Gegenüber der griechischen spekulativen Philosophie nahm er aber eine ablehnende Haltung ein, da sie zu keinen praktischen Ergebnissen führt. Für ihn zählte die Naturwissenschaft, denn diese bringe praktisch verwertbares Wissen im Bereich der
Natur hervor und diese allein führe zur Herrschaft über die Natur, zur Herrschaft über den Menschen. Es ist Bacon, der die Dichotomie zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften mit ihrer ungünstigen Auswirkung angebahnt hat.
Diese neue Onentierung der Wissenschaft, die sich ausdrücklich gegen die überkommenen Denkrichtungen und Weltbilder wandte, gründete sich dennoch auf die elementaren Prinzipien und Aussagen dieser Tradition, wie Maier weiter ausführte. Die Physiker der Neuzeit bedienten sich der Grundlagen wissenschaftlicher Mathematik, z. B. der Abstraktion der Zahl, um modellhaft das Sein hinter den sichtbaren Erscheinungen zu erfassen und dann empirisch die Richtigkeit zu überprüfen - ein Weg, der zu immer neuen, tieferen Erkenntnissen führte. 1773 konnte Condorcet im Sinne Bacons noch optimistisch prophezeien, die Natur habe der Vervollkommnung der menschlichen Fähigkeiten keine Grenzen gesetzt.
Das Bewusstsein der Ambivalenz des wissenschaftlich-technischen Fortschritts wurde erst ca. zweieinhalbtausend Jahre nach Sokrates wieder lebendig, das Bewusstsein, dass wissenschaftliche Rationalität untrennbar mit der Erkenntnis ihrer moralischen Bedingtheit verbunden ist. Z. B. hat der Philosoph Hans Jonas in seinem Buch „Prinzip Verantwortung" bewusst die Unheilsdrohung des
„Baconschen Ideals" und die Katastrophengefahr der naturwissenschaftlichen Forschungsdynamik gebrandmarkt.
Damit wiederholen sich die warnenden Stimmen der Antike vor der Gefahr einer alle Erwartungen übersteigenden Rationalität ebenso wie der Appell an die menschliche Vernunft, die wissenschaftliche Leistungskraft an die Verpflichtung gegenüber der menschlichen Gemeinschaft zu binden.
Der zweite von Friedrich Maier genannte fundamentale Wert der Menschenrechte betrifft ebenso wie der Rationalismus unmittelbar die Existenz des Menschen wie die Rationalität. Die Menschenrechte haben die Achtung der Würde desMenschen zur Grundlage, deren erste Anzeichen, so legte Fr. Maier unter Berufung auf das Buch „Wie universal sind die Menschenrechte?" von Hans Maier dar, in den Anfängen der europäischen Geschichte zu finden sind. Schon in der griechischen Geschichtsschreibung (bei Thukydides) und der Tragödie (bei Sophokles) gibt es Spuren der Achtung der Menschenwürde. Thukydides diagnostiziert das als Ungerechtigkeit empfundene Willkürrecht, das sich die Athener
gegenüber den besiegten Meliern herausnehmen; Sophokles verurteilt den Willkürerlass des Kreon, auf Grund dessen Antigone bestraft wird, weil sie die ungeschriebenen Gesetze der Götter befolgt, indem sie durch die Bestattung ihres Bruders dessen Würde nach seinem Tod achtet. In beiden Beispielen stellt sich die Menschenwürde als bemerkenswerte Größe der politischen Auseinandersetzung, als eine Denkmöglichkeit dar.
ln der lateinischen Literatur findet sich bei Augustinus in der Schrift „Über den gerechten Krieg" die Aussage, dass zur Wahrung der Würde des Menschen ein gerechter Krieg zur Wehr gegen die Ungerechtigkeit der Feinde sogar notwendig sei.
Mit diesem Beispiel führt Maier zu einem Kernproblem der Antike, in dem es um die Menschenwürde geht, zu dem Verhältnis von Herren und Sklaven. In der Antike selbst (und zwar in der Sophistik und der Stoa) gab es bereits Gegenstimmen gegen die von Aristoteles in dem Satz: „Es gibt Menschen, die von Natur aus Sklaven sind" fundamentierte ,Ungleichheitstheorie`. Die Grundlegung der Menschenrechte erfolgte also bereits in der sophistischen und stoischen Lehre über das Naturrecht. Es sind aber nur Ansätze, die erst durch die christliche Lehre von der Gleichheit aller Menschen weite Anerkennung finden konnten. Andererseits spaltete die dogmatische Theologie, die sich von der Bibel
entfernte und sich antike Denkpositionen zu eigen machte, die Menschheit im Mittelalter auf. Das daraus erwachsende Wertedilemma stellte Friedrich Maier eindrucksvoll an einem Beispiel dar: Der Bildungshumanismus, basierend auf der Tradition, befürwortet die Unterwerfung und Missionierung der Indianer durch die Spanier. Der Gesinnungshumanismus geht aus von der Toleranz und fordert naturgegebenes Recht für die Indianer unter Berufung auf ein göttliches Gesetz.
Zur endgültigen Durchsetzung der Menschenrechte kam es bekanntlich erst im 18. Jahrhundert, als sie im Manifest der Erklärung der Menschenrechte 1789 gesetzlich verankert wurden. Wenn auch die Menschenrechte argumentativ erstritten, politisch erkämpft und gesetzlich verankert wurden, so warnte Maier vor übertriebenem Optimismus, weil es keine dauerhafte Gewähr für die Notwendigkeit eines sie tragenden moralischen Fundaments gebe.
Abschließend führte Friedrich Maier noch einmal den existentiellen Zusammenhang des Wertkomplexes vonMenschenrechten und Menschenwürde mit demjenigen von Rationalität, Freiheit und Verantwortung eindrucksvoll an den historischen Beispielen des Kolonialismus und Imperialismus vor Augen. Der von Europäern ausgehende Kolonialismus brachte rational begründetes, Natur und Menschen beherrschendes (imperiales) Denken - analog dem römischen Imperialismus - über die Welt, während der germanische Imperialismus, der instrumentellen Vernunft folgend, die Forderungen des Gespürs für Moral und Menschlichkeit missachtete (nach Finkielkraut).
Dennoch bleiben die Werte des Rationalismus, Freiheit und Verantwortung der Wissenschaft auf der einen Seite und die Menschenrechte verbunden mit der Menschenwürde und Toleranz auf der anderen Seite die großen Errungenschaften Europas für die Menschheit. Diese bilden die Identität Europas. Im Bewusstsein dieser Identität sollten sich die Völker Europas als eine europäische Gemeinschaft begreifen und auf die überkommene europäische Kultur bauen, um sich auch in Zukunft im Wettbewerb mit anderen Kulturen zu behaupten, lautete die Empfehlung Friedrich Maiers.
Den zweiten Vortrag hielt Dr. Peter Schulz, Privatdozent an der Universität Lugano und an der Kath. Universität Eichstätt zum Thema: „Die Aufgabe der Philosophie angesichts der europäischen Wertegemeinschaft". Dr. Schulz ging aus von der Frage, wie die Philosophie Orientierungshilfe geben kann angesichts von Wirtschaftskrisen, Bedrohungen durch Entwicklungen im Wissenschaftsbereich (z. B. im Bereich der Reproduktionsmedizin), die ein solches Ausmaß angenommen haben, dass man sich fragt, ob die Menschheit diese Krisen überhaupt meistert. Die Antwort auf diese Frage baute Dr.
Schulz in drei Schritten auf.
Der erste Schritt diente der Klärung des neuzeitlichen Selbstverständnisses der Philosophie. Heutzutage, so stellte Dr. Schulz fest, ist der Philosophie die seit jeher eigene Verbindlichkeit in dem Maße verloren gegangen, wie sie sich aus wichtigen Bereichen des Lebens zurückgezogen hat. Er hielt es für hilfreich, den Kantschen ,Weltbegriff der Philosophie`, den Kant gegen den Schulbegriff (der die Philosophie nach Meinung von Schulz vielfach auf die Bedeutung von „Denkmalpflege" abwertet) klar abgrenzt, zu betrachten. Der Weltbegriff der Philosophie bezieht sich auf das, was jedermann im Weltganzen ,notwendig interessiert`. Als Wissenschaft verschafft er die Klarheit darüber, was von all dem, was gewusst werden kann, für den Menschen auch wissenswert ist. In Anlehnung an diese Auffassung Kants sah Schulz eine mögliche Orientierungsleistung der Philosophie für den Menschen angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen, wenn sie sich dem Bereich zuwendet, in dem klare durch den Weltbegriff vorgezeichnete Aufgaben vorgegeben sind. Die Philosophie darf sich allerdings nicht damit begnügen, Prinzipienwissen auf der Ebene zeitloser Abstraktionen zu formulieren. Es bedarf der Einsicht in die konkreten Strukturen der Welt und der Fähigkeit zu beurteilen, ob alle Erkenntnisse der Bestimmung des Menschen angemessen ist.

Im zweiten Teil beschrieb Schulz die Herausforderungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in der konkreten durch Wissenschaft geprägten Welt. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt hat in sich selbst kein Maß, und die Leistungsfähigkeit von Wissenschaft und technischer Rationalität ist allein noch keine hinreichende Bedingung für einen humanen Wert. Heute ist die Naturforschung mit dem sozialen und politischen Leben unentwirrbar verstrickt, so führt Schulz die Argumentation weiter, deshalb bedarf es eines vernünftigen Maßes, welches die wissenschaftliche Rationalität leitet und
orientiert. Der Mensch, der sich selber Daseinsbedingungen geschaffen hat, denen er nicht mehr gewachsen ist, bedarf einer brauchbaren, vernunftgemäßen Orientierung, welche nur die philosophische Ethik geben kann, aber nur unter der Bedingung, dass diese die Lebenswirklichkeit der modernen Gesellschaft, welche Gegenwart und Zukunft auf wissenschaftliche und technische Rationalität setzt, nicht außer Acht lässt. Schulz nannte drei Aspekte dieser modernen Lebenswirklichkeit: a) Der wissenschaftlich-technische Fortschritt vollzieht sich anonym. b) Das Problem der Informationsgesellschaft besteht darin, dass Wissen und Information auseinandertreten. c) Die Gentechnologie kann den Menschen in die Lage versetzen, seine eigene Natur zu verändern. Durch die Möglichkeit von Eingriffen in die genetische Identität des Menschen wird er nicht nur ideologisch, sondern auch biologisch manipulierbar. Das einzelne Individuum läuft Gefahr, seine Identität zu verlieren. Gerade im Blick auf diesen dritten Aspekt forderte Schulz, Fortschritt müsse durch praktische Vernunft beherrscht werden.
Allerdings weist er den Ruf nach je einer eigenen Ethik der einzelnen Fachwissenschaften zurück, da es nur eine Ethik der Wissenschaft allgemein geben könne, die den Forscher mit der Gesellschaft verbindet. Die Ethik beantwortet die Frage, welchen Fortschritt der Mensch will. Die der Wissenschaft gesetzten Grenzen sind also ethische Grenzen, die dem Menschen einen
Entscheidungsspielraum schaffen, um ein gutes, menschenwürdiges Leben zu erreichen.
Im dritten Teil begründete Peter Schulz das Erfordernis der philosophischen Ethik und der praktischen Vernunft als notwendige Voraussetzung für die orientierende Aufgabe der Philosophie. Schulz griff zurück auf die Ethik der Antike, deren Einsichten einen hohen Grad von Plausibilität besäßen, die sich fruchtbar im Blick auf die gegenwärtigen Herausforderungen auswirken könnten. In den Mittelpunkt seiner Argumentation stellte Schulz die bei Platon, stärker noch bei Aristoteles entwickelte Differenzierung der Begriffe ,ðñ@îéò` und ,ðïßçóéò `, die das Verständnis von Ethik erhellt. Im Deutschen entsprechen dieser Unterscheidung tun/handeln/sich verhalten auf der einen Seite und machen/herstellen auf der anderen Seite.
Als wesentliches Merkmal der aristotelischen Ethik hob Schulz die Tatsache hervor, dass menschliches Handeln unter dem Gesichtspunkt des im sittlichen Sinne guten oder schlechten Handelns betrachtet wird. Die Griechen sahen menschliches Handeln teleologisch angelegt, d. h. der Mensch soll sich seiner Bestimmung gemäß vollenden, jedoch lässt sich seine Vollendung nicht bestimmen, sie muss herausgefunden werden. Im Gegensatz etwa zu einer Eichel, deren Bestimmung es ist, eine Eiche zu werden, kann und muss der Mensch nachdenken und entscheiden. Aristoteles formuliert das Ziel menschlichen Handelns mit dem Begriff ,åžäáéìïíßá ` (Glück), den Schulz in der Bedeutung des geglückten, des gelungenen Lebens paraphrasierte. Das Streben nach dem Gelingen einer Handlung, d. h. nach dem Rechten, dem Guten, wurde bei den Griechen auch ,~ñåôÞ` (außergewöhnliche - sittliche - Leistung) genannt. Ein solches Gelingen bedarf einer Ethik, als praktisches Wissen durch Erziehung und Übung, einer Disposition, die den Menschen die Entscheidungen - außerhalb eines bloßen Perfektionismus oder Machbarkeitswahns - zum Rechten und Guten bei Einzelhandlungen erleichtert.

Diese zentrale Dimension der Ethik sei uns entglitten, bedauerte Schulz, so dass es heute Schwierigkeiten mache, auf dieser Grundlage eine Ethik aufzubauen. Heute soll die Ethik darin bestehen, uns Menschen von der Ahnungslosigkeit zu befreien, d. h. darzustellen und zu begründen, dieses oder jenes zu tun bzw. nicht zu tun, unter der nach Schulz' Auffassung - abwegigen Voraussetzung, man könne Kriterien für gut und böse aufstellen, ohne diese zu kennen. Dies sei schon aus logischen Gründen nicht möglich.
Schulz zeigte auch an Kants kategorischen Imperativ und am Beispiel des platonischen Sokrates, dass der Mensch sehr wohl wissen muss und wissen kann, was gut und böse ist. Es sei Aufgabe der Ethik, dieses Wissen zu aktivieren. Wir müssen uns besinnen, damit ethische Maximen und Prinzipien deutlich werden, die uns befähigen, im gegebenen Augenblick das Rechte zu tun. Bei Platon und Aristoteles bedurfte es nicht ethischer Grundsätze im modernen Sinne, wohl aber des Insistierens auf
,öñüíçóéò `, der Klugheit, um zu erkennen, welche konkrete Handlung gut, maßhaltend und gerecht sei. Dieses Verständnis der Ethik als einer ,™ðéóôÞìç ðñáêôéêÞ ` ist seit dem 17. Jh. anderen Auffassungen gewichen, sie wurde ihr fremden Wissenschaftsidealen unterworfen, der axiomatischen Mathematik, sinnlich erfahrbarer und experimentell arbeitender empirischer Wissenschaften, sprachlicher Analyse der Alltagssprache. Heute noch und auch in Zukunft gilt die Frage nach
dem rechten Handeln, die Besinnung auf das menschliche Tätigsein, das nicht an den Produkten oder materiellen Erfolgen gemessen werden darf. Maßgeblich ist nur die Frage, ob die Tätigkeit die Bemühungen um ein menschenwürdiges Leben fördert.
An die Gedanken tätigen maßhaltenden Lebens von Peter Schulz schloss sich recht eng der Kurzvortrag von Dr. Werner Busch, Schulleiter eines Kieler Gymnasiums, an. Das Thema lautete: „Zu Hannah Arendts «condition humaine»". Werner Busch stellte einige einleuchtende Aspekte aus Hannah Arendts Hauptwerk „Vita activa", der Lebensform des tätigen Lebens (im Gegensatz zur vita contemplativa) vor, mit deren Hilfe sich unsere gegenwärtige Welt leichter analysieren und  Perspektiven für die Zukunft öffnen lassen. Der Referent fasste die wichtigsten Gedanken in fünf Abschnitten zusammen:

1. In der Interpretation der Lebenswelt Polis (entwickelt aus Platon und Alistoteles) wird erkennbar, dass Freiheit sich nicht im Privaten, sondern im Öffentlichen, auf dem Markt des Politischen, ereignet. Denn der Mensch ist wesentlich worthaft. Daraus ergibt sich eine Dreiteilung seines Lebensbereiches: a) Arbeiten und b) Herstellen, - Tätigkeiten, die schweigend geschehen können, und c) das Handeln, das eo ipso mit Rede verbunden ist.

2. Arbeiten umfasst die vegetativen Bereiche des Lebens, das immergleiche Alltägliche. Herstellen ist das Wesensmerkmal des „homo faber", der herstellt, was er zum Leben gebraucht, z. B. ein Haus. Als wichtigste Kategorie des Herstellens erweist sich die Kausalität, die eine Hierarchie der technischen Organisation und schließlich Gewalt in Über- und Unterordnung erzeugt. Die Sprache wird zum Instrument.

3. Sinn und Zwecke des Herstellens sollten gemeinschaftlich bestimmt werden. Diese Sinngebung erweist sich als die eigentliche Form des Politischen, die jeweils auf dem Neuanfang eines jeden Sprechers beruht, der sich in das pluralistische Geflecht der Handelnden einschaltet. Jeder Wortbeitrag verändert das gemeinschaftliche Sinngefüge. Die Folgen der Freiheit sind unvorhersehbar und unberechenbar. Auf Dauer sind menschliche Verhältnisse nur durch Verträge zu regeln, die
immer wieder neu verhandelt werden müssen, sobald sich die Grundlagen der Verträge geändert haben. Verträge sind nur stark, wenn sie nicht von Machergewalt, sondern von gemeinschaftlich gesprächserzeugter Macht getragen werden.

4. Die Gefahr der Neuzeit zeigt sich in den drei Lebensbereichen je nach Schwerpunkten verschieden: a) das Politische wird den Machern überlassen, b) das Handeln verliert sich in bloßer Selbstreflexion, c) sinnstiftendes Denken wird zum pseudophilosophischen Spiel. Der Siegeszug des homo faber führt zur politischen Leere, die einer politischen Unfreiheit gleichkommt. Es werden so viele Güter und Informationen produziert, dass das animal laborans am Konsum zugrunde geht.

5. Die Schärfe und Klarheit der Analyse H. Arendts offenbart die gefährliche Gespanntheit unserer gegenwärtigen Lebenswelt. Aus dieser Sicht heraus formuliert H. Arendt ein Plädoyer für die Rückgewinnung des Politischen, die aber nur durch kommunikatives, sinnvermittelndes Denken erfolgreich sein kann.

H. Arendts Analyse bezieht sich verständlicherweise auf westliche Wohlstandsgesellschaften, doch die von ihr gezeigte Dimension des Politischen könnte auch ein Wegweiser für Gesellschaften sein, die parallel zu ihren Bemühungen um demokratische Formen überhaupt erst den Wohlstand in den Blick nehmen.
Werner Busch schloss seinen Vortrag mit dem Aufruf zu einer Werbung bei den Schülern für Hannah Arendts Sichtweisen und Argumentationen.

Dr. Bernd Rolf, Vorsitzender des Fachverbandes Philosophie, Landesgruppe Nordrhein-Westfalen, stellte in seinem Kurzvortrag „Die Legitimation des Staates durch die Idee des Gesellschaftsvertrages an Beispielen von Hobbes, Locke, Rousseau und Kant" einige Modelle von Vertragstheorien vor, die auf der grundlegenden Gedankenfigur des Gesellschaftsvertrages beruhen und seit der Neuzeit als Legitimationsversuche staatlicher Herrschaft zu betrachten sind. Die Modelle von Hobbes, Locke, Rousseau und Kant gehen von der rein gedanklichen Voraussetzung des Naturzustandes der
natürlichen Freiheit ohne jegliche staatliche Autorität aus, eines Zustandes, den es in der Realität nicht gibt. Methodisch bietet er aber den Vorteil, die Notwendigkeit der Bildung eines staatlichen Vertrages überzeugend zu begründen. Trotz dieses gemeinsamen Ausgangspunktes zeigen sich unterschiedliche Ergebnisse in den Ausformungen der Verträge, da die Annahmen über das vorausgesetzte Menschenbild in allen vier Modellen unterschiedlich sind. Hier kann natürlich nur eine Zusammenfassung auf der Grundlage der von Bernd Rolf vorgestellten Übersicht gegeben werden, ohne auf alle Nuancen der Unterschiede einzugehen.

Thomas Hobbes (1588-1679) - der erste in der Geschichte der philosophischen Vertragstheorie - setzt den Naturzustand als eine anarchische Welt  ohne Ordnung und Recht mit unbeschränkter Freiheit der Individuen voraus, die notwendig zum Krieg aller gegen alle führt.
Aus dieser Problematik ergibt sich die Notwendigkeit der Übertragung von Rechten auf einen Souverän. Dieser garantiert im Gegenzug Sicherheit und Frieden, die Grundidee des modernen Staates.

John Locke (1632-1704) verbindet die Idee des Gesellschaftsvertrages mit der Idee der natürlichen Rechte (heute: ,Menschenrechte`), die dem Menschen bereits im Naturzustand gegeben sind. Für Locke sind diese die Rechte des Menschen auf Freiheit, Eigentum (aus Leistungen der eigenen Arbeit) und körperliche Unversehrtheit. Obwohl diese Rechte die entsprechenden Pflichten einschließen, herrscht im Naturzustand nach Locke völlige Unsicherheit, da es den Menschen an einer übergeordneten Autorität fehlt, die Streitigkeiten schlichten könnte. Also ergibt sich aus der Problematik der
Unsicherheit die Notwendigkeit eines Vertrages, dem der Gedanke der Gewaltenteilung zugrunde liegt, zur Sicherung der natürlichen Rechte, was der Idee des liberalen Rechtsstaats entspricht.

Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) hält die dem Menschen im Naturzustand gegebene Freiheit für unveräußerlich, so dass für ihn das Problem darin besteht, wie in jedem Fall diese Freiheit des Menschen in Gesellschaft/Staat erhalten werden kann. In der Struktur des Vertrages ist Rousseaus Konzeption derjenigen Locke's ähnlich, jedoch geht er mit der Forderung einer absoluten rechtlichen Gleichheit aller Individuen über Locke hinaus. Diese Gleichheit soll dadurch erreicht werden, dass sich jedes Individuum seiner Rechte und Besitztümer zugunsten der Gesamtheit entäußert. Durch stärkeres Selbstinteresse an der Erhaltung an Leben und Freiheit glaubt Rousseau eine einmütige Übereinkunft der Menschen erst möglich zu machen

Immanuel Kant (1724-1804) geht ebenfalls zur Begründung des Gesellschaftsvertrages vom Naturzustand aus, allerdings ohne irgendeine empirische Zusatzannahme über die Natur des Menschen vorauszusetzen. Der Naturzustand ist für Kant die reine Vernunftidee eines Zustands der Rechts- und Verfassungslosigkeit (genauer ein privat-rechtlicher Zustand), in dem die Menschen niemals vor Gewalttätigkeit gegeneinander sicher sein können aufgrund dieser Willkürfreiheit und der Tatsache, dass sie einen gemeinsamen Lebensraum teilen, also nicht vermeiden können, mit anderen „in Wechselwirkung zu geraten". Kant bemüht auch keine anderen anthropologischen Zusatzannahmen, um die Unerträglichkeit des Naturzustandes zu demonstrieren. Diese Unerträglichkeit folgt allein aus der Vernunftidee des Naturzustandes als eines nicht-rechtlichen Zustandes, als eines Zustandes gesetzloser Freiheit.
Daher ist es eine Pflicht der Vernunft, aus dem Naturzustand herauszutreten und sich mit den anderen Menschen dahingehend zu vereinigen, sich einem öffentlichen gesetzlichen Zwang zu unterwerfen. Damit hat Kant eine normative Idee des Rechts gewonnen, einen Maßstab zur Beurteilung positiven Rechts, wie der kategorische Imperativ ein Maßstab für die Beurteilung der Moralität von Maximen ist. Dieses Prinzip staatlichen Rechts ist der „übereinstimmende und vereinigte Wille aller". Zu
den unabtrennbaren Attributen des Staatsbürgers gehört die „gesetzliche Freiheit, keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchen er seine Beistimmung gegeben hat". Dieses Prinzip wird heute auch als „Demokratieprinzip" bezeichnet.
Kant selbst hat jedoch keine bestimmte Herrschaftsform (Autokratie, Aristokratie, Demokratie) besonders ausgezeichnet, sondern lediglich eine bestimmte Regierungsart, nämlich die republikanische, die auf der Zustimmung der Staatsbürger in Form des Gesellschaftsvertrages beruht. Die Möglichkeit, republikanisch regiert zu werden, ist nach Kant unabhängig von der Form der Herrschaft. Es ist Kants Verdienst, der Idee des Gesellschaftsvertrages ihre endgültige philosophische Gestalt gegeben zu haben, indem er diese Gedankenfigur aller empirischen Zusatzannahmen über die Natur des Menschen entkleidete und sie als reine Vernunftidee entfaltete. Heute wird die Auffassung Kants kritisiert, dass die Regierungsform unabhängig von der Herrschaftsform sei. Habermas zufolge fordert der Demokratiegedanke als „Idee der Selbstgesetzgebung von Bürgern ..., daß sich diejenigen, die als Adressaten dem Recht unterworfen sind, sich zugleich als Autoren des Rechts
verstehen können." Deshalb hat er 1992 eine Diskurstheorie des Staates vorgelegt - als Ausblick auf die gegenwärtige Diskussion -, in dem nur „die Gesetze legitime Geltung beanspruchen dürfen, die in einem ... diskursiven Rechtsetzungsprozeß die Zustimmung aller Rechtsgenossen finden können."

Ergänzend zu den Vorträgen und Arbeitskreisen, in denen die Probleme der europäischen Wertegemeinschaft kulturhistorisch und philosophisch sowie auch didaktisch-methodisch beleuchtet wurden, bot das Seminar eine Podiumsdiskussion, bei der Vertreter wesentlicher praktischer Lebensbereiche des Menschen wie Wirtschaft (Geschäftsführender Gesellschafter der
Unternehmensgruppe Melitta, Jörg Bentz), Politik (Dipl.-Volkswirt Steffen Kampeter, MdB), medizinischer Wissenschaft (Dr. med. Otto Happel, Minden), Bildung und Erziehung (LRSD Udo Theissmann, Detmold), in Statements ihre Vorstellungen über die Verwirklichung von Werten in Berufswelt und Schule präsentierten. In der Diskussion unter der Leitung von OStD Dr. Werner Busch zeigte sich, wie schwierig es ist, unterschiedliche, in sich durchaus schlüssige Konzepte zu vermitteln, ob es sich nun um das Bemühen des Unternehmers, sozial Wünschenswertes und ökonomisch
Notwendiges zu verbinden, ob es sich um die Lebensverlängerung oder Schmerzlinderung durch neue medizinische Techniken oder ob es sich um den Gedanken der „Subsidiarität" aus politischer Sicht oder um die seitens der Schulbehörde den Schulen gegebene Freiheit zur eigenen Gestaltung und Entwicklung eines Profils ging. In der Diskussion von Pädagogen, Geisteswissenschaftlern und Vertretern der Öffentlichkeit und des praktischen Berufslebens wurde deutlich, wie notwendig
die Vermittlungsrolle des Denkens überhaupt und auf allen Ebenen der Praxis ist.

So hat sich im Verlauf des Seminars die Gültigkeit von Kants ,Weltbegriff` der Philosophie, der dasjenige im Leben des Menschen betrifft, „das jeden notwendig interessiert", durchaus bestätigt. Wenn Philosophie auch in Zukunft ihre orientierende Aufgabe im Leben der Menschen überzeugend erfüllen will, muss sie sich selbst an der realen Welt orientieren. Diese reale Welt ist vor dem Jahrhundert- und Jahrtausendwechsel gekennzeichnet von den Bemühungen um eine menschenwürdige Znkunft.
Zur gegenwärtigen Diskussion um diese Probleme wollte die AIPPh mit dem Mindener Seminar einen Beitrag leisten und Impulse für eine fundierte Werteorientierung  im künftigen Europa geben, die insbesondere der europäischen Jugend Möglichkeiten aufzeigt, die Grundlagen einer zukunftsoffenen und zukunftsfähigen menschenwürdigen Gesellschaft zu schaffen.

antikinitiale2.jpg (4138 Byte)Luise Dreyer, Vorstandsmitglied der AIPPh

 

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Latein und das nächste Millennium

 

„Solange das Kolosseum steht, steht Rom, solange Rom steht, steht die Welt."

(Dum stat Colosseum, stat Roma. Dum stat Roma, stat mundus.)


Aus dieser römischen Redensart spricht das ganze Selbstbewusstsein der antiken Supermacht Rom, deren Expansion bis Britannien und Ägypten, bis Spanien und bis zum Persischen Golf kein Mensch aufzuhalten vermochte; erst die Natur selbst brachte sie an Meeresküsten und Flussufern, an Wüstenrändern und unüberwindlichen Gebirgen zum Stehen. Diese bis dahin unerhörte, scheinbar grenzenlose Macht, so wussten es die Römer, war ihnen von den Göttern gegeben. Kein Wunder also,
dass sich in das römische Selbstkonzept auch der Gedanke der zeitlichen Unbegrenztheit einschlich: Rom würde bis ans Ende der Welt bestehen - ,Roma aeterna'.

In einem Punkt täuschten sich die Herren der alten Welt: Auch ihr Reich wurde, wie alles Menschliche, ein Opfer der Vergänglichkeit. Nach knappen tausend Jahren, einem Millennium des Aufstiegs und des Niedergangs der Stadt Rom, wurde 476 n. Chr. der letzte römische Kaiser abgesetzt, die Macht der Herrscher am Tiber wurde hinweg gespült von den Wogen der Völkerwanderung. Politik wurde künftig in anderen Zentren gemacht.
Und doch war der Optimismus, mit dem man an Roms Unsterblichkeit glaubte, nicht ganz unberechtigt: Die Macht der Stadt war vergangen, doch Rom wurde wiedergeboren als Idee. Es war die Idee der ,humanitas`, die Idee, dass Menschen  besser sein können, als sie sind, es war die Idee der globalen Hochkultur, die Idee der Bildung, es war die Idee der von den Göttern gewollten und von den Menschen vollzogenen Ordnung in einer chaotischen Welt.
Diese Idee gab nicht nur dem von Griechen beherrschten Ostrom am Bosporus, dem späteren Byzanz, Struktur, sodass es noch ein weiteres Millennium bis zur Eroberung durch die Türken (1453) Bestand hatte. Sie verlieh keinem anderen als dem Bischof von Rom die Legitimation, Oberhaupt der katholischen Kirche zu sein. Dieser Idee folgten Jahrhunderte lang die deutschen Könige, wenn sie nach Rom zogen, um sich zum römischen Kaiser krönen zu lassen. Aus ihr lebten die Renaissance und das Denken der Humanisten ebenso wie Dantes ,Göttliche Komödie` oder Shakespeares ,Julius Caesar`. Ihr wussten und wissen sich all die verpflichtet, die in Fragen der Politik und der Rechtsprechung nach den pragmatischen Prinzipien der Römer agierten und noch heute agieren. Mit einem Wort: Europa trägt den Stempel der Romidee.
Dies wäre nicht möglich, hätte sich nicht die Sprache der Römer in einem unglaublichen Siegeszug bis in die Neuzeit hinein zur grenzüberschreitenden Kultur- und Wissenschaftssprache entwickelt. Latein wurde nicht nur in der Kirche, sondern überhaupt in akademischen Bevölkerungsschichten selbstverständlich fließend gesprochen, was durch einen intensiven Lateinunterricht an den Schulen ermöglicht wurde. - Als Alltagssprache hat Latein heute längst ausgedient. Daher fordern seine Kritiker für das dritte Jahrtausend seine endgültige radikale Entfernung aus dem Kanon der Schulfächer. Wird also wiederum mit der Vollendung eines Millenniums ein Stück Rom sterben? Vergeht nach Westrom und Ostrom nun auch seine Sprache und damit über kurz oder lang auch seine Idee?
Wohl kaum! Zu viele Notwendigkeiten machen die Kenntnis des Lateinischen erforderlich _ jetzt und auch im kommenden Millennium.

1. Zwar wächst momentan eine Augenblicksgesellschaft heran, die sich auf eine historische Perspektive der Gegenwart nicht einlassen mag. Und doch wird auch sie nicht umhin können, die Vergangenheit kennenzulernen, wenn sie nicht gezwungen sein will, sie zu wiederholen, wie es der amerikanische Philosoph George Santayana einmal formulierte. Europäische Vergangenheit - und hierin liegt europäische Identität begründet - ist ohne Latein nicht denkbar. Große Texte der
europäischen Literatur wären nicht im Original lesbar. Dem Hinweis auf die mittlerweile reichlich vorhandenen Übersetzungen wird zu Recht Skepsis entgegengebracht. Der Versuch, ,Wanderers Nachtlied` ins Englische zu übersetzen, zeigt sofort, dass Sprachen nicht ohne weiteres kompatibel sind. Gerade die staatstheoretischen oder juristischen Texte der Römer sind voller sensibler und trennscharfer Definitionen, sodass Übersetzungen sozusagen eine sichere Quelle des Missverständnisses sind.

2. Nicht nur ein wissenschaftliches Studium setzt Fremdsprachenkenntnisse voraus. Auch im Kontext des zusammenwachsenden Europas ist die Beherrschung möglichst vieler Fremdsprachen ein wesentliches Qualitäts- und Einstellungskriterium auf dem Arbeitsmarkt. Latein liefert nicht nur das grundlegende linguistische Modell fast aller europäischen Sprachen, sondern auch automatisch in einer Reihe moderner Fremdsprachen ein passives lexikalisches und grammatikalisches Wissen, das die Lektüre italienischer, spanischer, französischer und englischer Texte erheblich erleichtert. Auf der Grundlage der Basis-und Muttersprache Europas gelingt dann die aktive Aneignung ihrer modernen
,Töchter` zum Zweck der sprachlichen Verständigung mühelos.

3. Die zunehmende Technisierung und Verwissenschaftlichung unserer Welt führt zu einer permanenten Anreicherung der Sprache mit neuen Begriffen, die zur Bezeichnung neuer Sachverhalte und Produkte künstlich gebildet werden. In der Regel bestehen diese Wörter - gerade im Bereich der Computer- Technologie - , auch wenn sie oft im englischen Gewand daherkommen, aus lateinischen Elementen wie etwa die modernen Prägungen ,Computer`, ,Server`, ,Access`, ,Office`, ,Editor`, ,Monitor`, ,interaktives Medium` oder ,Corporate Identity`, ,C(ompact) D(isc)` und eben ,Millennium`.

Den Vertretern des Faches Latein an den Schulen ist zu raten, ihren Schülerinnen und Schülern immer wieder anschaulich vor Augen zu führen, dass sich die Aktualität und Weisheit der zur Weltliteratur gehörenden lateinischen Texte gerade im Jetzt bewährt, dass Latein sich unmittelbar in den modernen Fremdsprachen aktivieren lässt, dass seine Kenntnis Klarheit und Ordnung schafft in der verwirrenden Begriffswelt der Moderne. Besonders in der Schule muss deutlich werden, dass Latein auch die Menschen des dritten Jahrtausends täglich in Fremdsprachen und Fremdwörtern umgeben wird, ganz
abgesehen von den unzähligen deutschen Lehnwörtern wie Insel (insula), Ziegel (tegula), Fenster (fenestra) und Rose (rosa). Und nicht zuletzt ist es unerlässlich zu zeigen, dass Latein die Sprache ist, die Kernbegriffe unseres modernen Selbstverständnisses geprägt hat: Zivilisation, Kultur und Staat, Humanität, Liberalität und Rationalität, Errungenschaften, für die auch in der Zukunft kein Einsatz zu hoch ist. Für sie zu streiten setzt allerdings voraus, dass man weiß, was sie bedeuten, dass man weiß, wofür man streitet.
Latein wird nicht mehr im Alltag gesprochen, aber tot - nein, tot ist es wahrhaftig nicht. Als Kommunikationsmittel ist es nach wie vor unersetzlich - und von erstaunlicher Lebendigkeit.
Vielleicht lebt es im kommenden Millennium nicht mehr von der Idee eines unsterblichen Rom, um so mehr aber von der Wirklichkeit einer intelligenten globalen Kommunikation, die Latein nicht mehr als Sprache verwendet, sondern als unerschöpfliche Quelle ihrer Begrifflichkeit.

antikinitiale2.jpg (4138 Byte)Jörg Eyrainer, Donauwörth/Bayern

 

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antikinitiale2.jpg (4138 Byte)schriftfuhrmann.jpg (12479 Byte)antikinitiale2.jpg (4138 Byte)

Rezeptionsgeschichte als Lexikon

Ein Vortrag zum Erscheinen von Band 13 des Neuen Pauly: Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte A - Fo (Oktober 1999)

Wissen Sie bereits, wie der erste dunkelhäutige, aus Afrika stammende Dichter lateinischer Zunge hieß? Gemeint ist hier nicht der berühmte Terenz, der Meister der römischen Komödie, dessen Beiname Afer wahrscheinlich auf Libyen verweist; gemeint ist vielmehr ein Poet der frühen Neuzeit, aus dem dunkelsten Teil des Kontinents. Da Sie es möglicherweise nicht wissen: Er nannte sich Johannes Latinus (Juan Latino), brachte es zum Professor für Latein an der Universität von Granada
und verfasste neben anderem ein panegyrisches Epos „Austrias", das die Schlacht von Lepanto zum Gegenstand hat - eben jene Schlacht des Jahres 1571, in der Cervantes Teile seiner linken Hand einbüßte.
Oder haben Sie schon von Archäologischen Parks gehört? Vielleicht noch nicht, denn es handelt sich hierbei um eine Novität der jüngsten Zeit, um eine Errungenschaft für den Erlebnismarkt der modernen Zerstreuungsgesellschaft. Der Archäologische Park wartet mit einem Ensemble ganz oder teilweise rekonstruierter Bauten am historischen Orte auf - man spricht da einschmeichelnd von einer besucherorientierten Aufbereitung der Befunde. Schluss also mit dem ratlosen Starren auf
unansehnliche Substruktionen und auf nach Xanten oder Carnuntum, wo der archäologische Park- Gedanke auf mustergültige Weise verwirklicht worden ist.
Worum haben sich vor nunmehr hundert Jahren Karl Bücher und Eduard Meyer gestritten, worum ging es in der B.-M.-K., der Bücher-Meyer-Kontroverse? Wie modern war die Wirtschaft im klassischen Griechenland; gab es dort bereits Fabriken? Bücher wollte die antike Ökonomie auf das Haus verwiesen wissen, auf den dortselbst herrschenden Kreislauf von der Erzeugung bis zum Verbrauch; Meyer hingegen fand _ als Folgen der Geldwirtschaft und Sklavenarbeit - überall im Raume der Ägäis ausgeprägte Handels- und Industriestädte vor.
Wie verbreitet sind Kenntnisse über den Arkadismus? Der Spruch Et in Arcadia ego, „Auch
ich in Arkadien" mag manchem geläufig sein, doch wem ist bekannt, dass ein Symbol, ein Lebensgefühl derart hartnäckig die Jahrhunderte durchzogen hat, dass es sich lohnt, die entlegene zentralpeloponnesische Landschaft mit einem ismus auszustatten?
Wo stehen die philologisch-historische und die archäologische Byzantinistik in besonderem Flor? Denkt da jedermann sofort an die Eheleute Bliss in den Vereinigten Staaten von Nordamerika und an Herbert Hunger in Wien? Die ersteren haben in Dumbarton Oaks, in Georgetown (Washington), eines der bedeutendsten Forschungsinstitute für die byzantinische Kultur gegründet. Hunger wiederum, den die Katalogisierung von Handschriften auf das abseitige Gebiet hingewiesen hatte, errichtete ein eigens hierauf spezialisiertes Dokumentationszentrum.
Welche Bewandtnis hat es mit dem Ober- und Untereigentum des Mittelalters, was soll man von diesen Termini halten, die so klingen, als sollten Herrschaftsrechte an Sachen auf Stockwerke verteilt werden? Tatsache ist, dass man mit Ober- und Untereigentum, mit dem dominium directum und dem dominium utile, das Lehensrecht auf Begriffe zu bringen versucht hat.
Und so sehr die Lehre vom geteilten Eigentum dem Ausschließlichkeitsdogma des römischen Rechts widersprach, so elegant wussten die mittelalterlichen Juristen, die Glossatoren, auch sie aus der Überlieferung, dem Corpus Iuris Justinians, abzuleiten.
Seit wann verfügt das kleine, jetzt wieder auf das einstige Provinzdasein zurückgeworfene Bonn über antike Kunstwerke, und wieviele einschlägige Museen harren dort der Schaulust der Besucher? Es sind deren zwei, das Rheinische Landesmuseum und das in der einstigen Anatomie untergebrachte Akademische Kunstmuseum, und beide verdanken ihre Existenz den Bemühungen Berlins, die rheinische Bevölkerung mit der Tatsache zu versöhnen, dass sie nach den napoleonischen Kriegen preußisch geworden war.
Sie haben längst erraten, dass alle diese Fragen aus Stichwörtern des neuen Lexikons abgeleitet sind, des Bandes daraus, der soeben erschienen ist und den zu würdigen wir hier versammelt sind. Die Stichwörter, die ich benutzt habe - Afrika, Archäologischer Park, Bücher-Meyer-Kontroverse, Arkadismus usw. -, mögen noch so verschiedenartige Inhalte bezeichnen, sie scheinen sich gleichwohl allesamt mühelos den Kategorien unterordnen zu lassen, die der Titel des Bandes nennt, der Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte. Der Titel ist neu, und auch durch seinen Inhalt kann der heute aus der Taufe zu hebende Band beanspruchen, der erste seiner Art zu sein. Es liegt daher nahe, dass wir uns zunächst mit dem wichtigsten, am wenigsten selbstverständlichen Begriff des Titels befassen, mit dem Ausdruck ,Rezeption`.
Wer in den fünfziger oder sechziger Jahren unseres Jahrhunderts, und vielleicht sogar noch in jüngerer Zeit, ein altertumskundliches Studium betrieben hat, der konnte in der einschlägigen Seminarbibliothek auf eine kleine, meist wenig beachtete Abteilung stoßen: „Nachleben der Antike". Dort pflegten Pionierleistungen untergebracht zu sein, die auch heute noch unentbehrlich sind, etwa Georg Voigts „Wiederbelebung des classischen Altertums" oder Karl Borinskis „Antike in Poetik und Kunsttheorie", vielleicht auch „Cicero im Wandel der Jahrhunderte" von Tadeusz Zielinski oder „Vergil, Vater
des Abendlandes" von Theodor Haecker. Gleichwohl: schon die Bezeichnung - „Nachleben" oder auch „Fortleben" - lässt darauf schließen, dass man nur die antiken Ursprünge für wirklich lebendig hielt und dass man allem Späteren als bloßem Abglanz oder Widerschein eine mindere Seinsqualität beimaß. Und anders als die Autoren der genannten Pionierleistungen pflegte man auch in der Sache mit jenem ,Nachleben` so umzugehen, als handele es sich um nichts als ,Nachleben`: Humanistische Voreingenommenheit und klassizistisches Regeldenken stempelten die Wirkungen oder Folgen antiker
Gegebenheiten als richtig oder falsch ab und gefielen sich darin, apodiktisch zu unterscheiden, ob dieses oder jenes Stück Altertum im Laufe der Zeiten verstanden oder missverstanden worden sei. Die Periode der ,Nachleben`-Studien gehört der Vergangenheit an; man pflegt jetzt alles Anknüpfen an Antikes nicht mehr als Abglanz oder Widerschein, sondern als selbständige, von je eigenen Antrieben
des Anknüpfenden geleitete Umprägung zu deuten, und man würdigt nicht nur den die Jahrhunderte durchziehenden Zettel der Antike-Tradition, sondern auch den von Jahrhundert zu Jahrhundert die Farbe wechselnden Einschlag der modifizierenden Übernahme als ernst zu nehmende Größe. Diese Änderung der Betrachtungsweise ist schlechtweg dadurch bedingt, dass wir Heutige nicht nur die Gegenstände ferner Vergangenheiten als historische und somit relative Größen zu betrachten versuchen
(das ist seit den Tagen Friedrich August Wolfs schon immer geschehen), sondern auch unsere eigene Epoche, unseren eigenen Standpunkt: Wir radikalisieren den Historismus, indem wir dessen Leitgedanken, dass alles sich im ständigen Fluss der Entwicklung befinde, auf uns selbst anwenden und uns somit nicht mehr im Besitz unverrückbar richtiger Maßstäbe wähnen.
Die neue Betrachtungsweise erhielt, wie es sich gehört, einen neuen Namen, und an die Stelle der ,Nachleben`-Studien trat die Erforschung der Wirkungs- oder Rezeptionsgeschichte. Der Begriff ,Rezeption` ist erst seit den siebziger Jahren Gemeingut aller geisteswissenschaftlichen Fächer. Man schlage in der siebzehnten Auflage des „Großen Brockhaus" nach: Erst der Supplement-Band des Jahres 1976 sucht den Benutzer einschlägig zu belehren. Dasselbe gilt für Gero von Wilperts
„Sachwörterbuch der Literatur": Dort erscheint das neue Stichwort nicht vor der sechsten Auflage, vom Jahre 1979.
Von Rezeption spricht man auch in der Psychologie und Sinnesphysiologie. Dort meint man mit ,Rezeptivität` - wie es der Herkunft vom lateinischen recipere, „entgegennehmen", „aufnehmen", entspricht - das Aufnehmen von Reizen und Eindrücken sowie die Fähigkeit, Reize aufzunehmen; als Gegenbegriffe dienen die Kategorien ,Produktivität` (die Fähigkeit des Hervorbringens) und ,Spontaneität` (die Fähigkeit psychischer Kräfte, aus eigenem Antrieb tätig zu werden). Dem Ausdruck haftet somit in der Psychologie ein Moment des Passiven an. Den Geisteswissenschaften wäre mit dieser Verwendungsweise schlecht gedient: Sie vertriebe den Teufel ,Nachleben` mit dem Beelzebub bloßer Hinnahme. In den Geisteswissenschaften kommt es vielmehr darauf an, dass sich der Aufnehmende, der Rezipierende bei der Aufnahme eines beliebigen Elements aus irgendeiner
kulturellen Hinterlassenschaft aktiv beteiligt, indem er das Aufzunehmende seinen eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen anpasst: durch Hinzufügen, Weglassen oder Ändern, in der Literatur nicht selten durch allegorisches oder sonstiges Umdeuten. Die Vervollständigung eines geflügelten Wortes zeigt, dass schon die Antike einen Begriff von diesem alle Tradition bestimmenden Vorgang gehabt hat. Die bekannte Sentenz Habent sua fata libelli, „Es haben ihr Schicksal die Bücher" stammt von Terentianus Maurus, einem Autor des späten 2. Jahrhunderts n. Chr., der einige Lehrgedichte über
Gegenstände der Grammatik hinterlassen hat. Dieser Vers, ein Hexameter, lautet unverstümmelt: Pro captu lectoris habent sua fata libelli - „Wie der Leser sie aufnimmt, haben die Bücher ihr Schicksal". Hier enthält captus als Stellvertreter von recipere ein subjektives Element, das auf den bedingenden, Änderungen verursachenden Horizont des Rezipienten verweist.
Der heutige geisteswissenschaftliche Rezeptionsbegriff scheint aus der juristischen Romanistik, der Kunde vom römischen Recht, hervorgegangen zu sein. Dort ist der Ausdruck seit Jahrzehnten gängige Münze. Er bezeichnet das Phänomen der Auf- und Übernahme als einen Vorgang, der in die Substanz des Aufgenommenen eingreift  es sei an das Beispiel des römischen Eigentumsbegriffs erinnert, der unter den Händen der Glossatoren zum lehnsrechtlichen Ober-und Untereigentum wurde. Der
Rahmen hierfür war die Übernahme oder Rezeption des gesamten Corpus Iuris Justinians durch die kontinentaleuropäischen Völker.
Dieses Werk hatte nur noch als Buch, als Dokument einer vergangenen Epoche existiert, als jene dreiteilige Anthologie aus einer vielfältigen Rechtsüberlieferung, die in den Jahren um 530 auf Befehl Kaiser Justinians angefertigt worden war. Im hohen Mittelalter, als man nur noch die alten germanischen Stammesrechte, also ein vorwissenschaftliches, fester Begrifflichkeit ermangelndes Brauchtum kannte und anwandte, begannen Gelehrte, zunächst in Bologna, dann auch an anderen Universitäten, die im Corpus Iuris bewahrte Rechtsmasse mit den Methoden der Scholastik zu erläutern. Hieraus ging die europäische Rechtswissenschaft mit ihren rationalen Methoden der Rechtsauslegung und anwendung hervor, sowie ein wissenschaftlich geschulter Juristenstand, der
überall in den Staaten und Städten großen Einfluss gewann. Eine ältere, der Romantik verpflichtete Forschungsrichtung hat diese Entwicklung dahingehend missdeutet, dass mit ihr Eigenes verlorengegangen und Fremdes an dessen Stelle getreten sei-  man beschrieb die Rezeption des römischen Rechts als ,Überfremdung`, als einen Prozess, bei dem sich die übernehmenden Völker, zumal die Deutschen, gänzlich passiv verhalten hätten. Der Rechtshistoriker Franz Wieacker sah
sich noch im Jahre 1952 veranlasst, gegen diese Auffassung anzugehen; „als ob überhaupt", schrieb er in seiner „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit", Seite 64, „von einem lebenden Volk Recht übernommen werden könnte, ohne völlig angeeignet und dadurch verwandelt zu werden".
In den philologischen Disziplinen kann man mit Rezeption sämtliche Vermittlungsbedingungen von Literaturwerken, also all das bezeichnen, was die Literatursoziologie zu untersuchen pflegt: Welche Literatur wird unter welchen Voraussetzungen von welchen Gruppen und Schichten gelesen usw. Wichtiger sind jedoch zwei genauer umschriebene Bereiche rezeptionsorientierter Literaturbetrachtung: die Rezeptionsästhetik und die Rezeptionsgeschichte. Literaturwerke üben ja
nicht nur von ungefähr Wirkungen aus; sie sind vielmehr von vornherein auf bestimmte Wirkungen hin angelegt. Hieraus ergeben sich die genannten beiden Grundrichtungen rezeptionstheoretischen Betrachtens. Man kann einerseits analysieren, welche Wirkung das Werk nach der Absicht des Autors hat erzielen sollen. Hierher gehört die bekannte Lehre vom impliziten Leser, von der in das Werk hineinkomponierten Leserrolle. Man kann andererseits zu ermitteln suchen, welche Wirkungen ein gegebenes Literaturwerk tatsächlich erzielt hat: sowohl bei denen, für die es ursprünglich bestimmt war, als auch bei allen Späteren. Dieser faktischen Wirkung gilt die rezeptionsgeschichtliche Betrachtungsweise; wer sich auf sie einlässt, benötigt außer dem Werk selbst Materialien, die die Reaktionen der Aufnehmenden dokumentieren. Die Rezeptionsästhetik, die Ermittlung des Verhaltens, das der Autor dem Leser zugedacht hat, untersucht das Werk im Blick auf das Publikum; die
Rezeptionsgeschichte untersucht das Publikum im Blick auf das Werk.
Bei der rezeptionsgeschichtlichen Betrachtungsweise muss man, wie schon angedeutet, die Rezeption der Zeitgenossen von der irgendwelcher späterer Rezipienten unterscheiden. Die Rezeption der Zeitgenossen pflegt nur für Werke vom 18. Jahrhundert an hinlänglich dokumentiert zu sein; nur bei ihnen lässt sich auf differenzierte Weise dartun, wie sie sich in ihrem ursprünglichen Horizont ausgenommen haben. Aus älteren Epochen ist über die Reaktionen der primären Rezipienten
nur gelegentlich diese oder jene Einzelheit bekannt. Wenn z. B. Sueton meldet, der Schulmeister Caecilius Epirota habe schon zu Vergils Lebzeiten dessen Werke erklärt, dann kann man daraus schließen, dass Vergil von Anfang an ein erfolgreicher Autor war. Im allgemeinen aber reichen die meist spärlichen und isolierten Hinweise für eine überzeugende Rekonstruktion des primären Horizonts nicht aus. Andererseits sind die Literaturwerke aus älteren Zeiten, insbesondere die
der Griechen und Römer, durch viele Hände gegangen, ehe sie uns erreichten. Sie haben eine lange Rezeptionsgeschichte hinter sich, und so kann man denn die wechselvollen Wirkungen nachzeichnen, die diese Werke in späteren Zeiten erzielt haben - sei es bei den verschiedenen Gruppen von Lesern und Benutzern, sei es bei anderen Autoren, die das betreffende Werk nachzuahmen, abzuwandeln oder zu überbieten suchten.
Soviel zum Begriff der Rezeption. Die Rechtshistoriker hatten ihn einfach ihren Quellen entnommen: In den Digesten verlautet oft, dass etwas - ein Gesetz, ein Rechtsgrundsatz, ein Rechtsgeschäft - receptum, in Aufnahme gekommen, anerkannt sei: Die Gesetze sind durch Volksabstimmung, iudicio populi, anerkannt, die patria potestas durch Brauch, moribus, usw. In der Literaturwissenschaft wurde
der Ausdruck zu Beginn der sechziger Jahre heimisch; die Bände der Reihe „Poetik und Hermeneutik" belegen, dass deren Autoren ihn vom Jahre 1964, von ihrem zweiten Kolloquium an im Munde führten.

Was nun den „Neuen Pauly" angeht, so findet Rezeptionsgeschichte durchaus nicht nur in dem hiernach betitelten, soeben erschienenen Bande statt; wie jeder Benutzer weiß, enthalten auch die bisher publizierten Teile der Hauptreihe allerlei Rezeptionsgeschichtliches. Dort enden die Artikel über literarische Größen regelmäßig mit einem Ausblick auf deren Wirkung (nur beim alten Cato, dem Begründer der lateinischen Prosa, habe ich dergleichen vermisst), und auch bei den historisch bedeutenden Persönlichkeiten ist dies oft der Fall (z. B. bei Caesar - nicht hingegen bei Catilina, dem von den Dramatikern des Barock, bis hin zu Voltaires „Rome sauvée" viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde). Eigenartigerweise hat man sich im allgemeinen nicht dazu verstanden, bei den Figuren des Kults und des Mythos ebenso zu verfahren; der Gott Dionysos zählt in dieser Hinsicht zu den wenigen Ausnahmen. Da die rezeptionsgeschichtliche Abteilung des Lexikons von Artikeln über Personen gänzlich absieht, klaffen infolgedessen Lücken im Gesamtwerk: Wer etwas über Daidalos oder
Elektra als Figuren der europäischen Dichtung oder Kunst erfahren will, muss nach wie vor zu einem mythologischen Speziallexikon oder zu Elisabeth Frenzels „Stoffen der Weltliteratur" greifen.

Doch nun zu dem rezeptionsgeschichtlichen Bande A - Fo, dem ersten Teil einer auf drei Teile berechneten Reihe. Sein Titel enthält, indem er als zweites Gebiet die Wissenschaftsgeschichte namhaft macht, genau besehen eine Redundanz. Denn auch die wissenschaftliche Befassung mit der Hinterlassenschaft der Antike ist nichts anderes als Rezeption. Gleichwohl hat der Herausgeber recht daran getan, die Dimension der Wissenschaftsgeschichte explizit zu nennen: Der auf festen, meist
staatlichen Institutionen beruhende Forschungs- und Lehrbetrieb ist ganz und gar auf die Rekonstruktion und Vermittlung dessen gerichtet, was einmal war; bei aller übrigen Rezeption hingegen dient das antike Substrat neuen, durch die jeweiligen Umstände bedingten Zwecken.
Die Stichwörter des rezeptionsgeschichtlichen Bandes bestehen, da die bunte Vielfalt der Personennamen entfällt, aus Begriffen und geographischen Bezeichnungen. Deren sind indes in dem ganzen Band nicht mehr als etwa einhundertfünfzig an der Zahl, und hiervon wiederum nehmen 35, deren Länge sich auf zehn Spalten und darüber beläuft, knapp zwei Drittel des verfügbaren Raumes von etwa 1160 Spalten ein. Man sieht sich also einem alphabetisch geordneten Bündel von
Kurzmonographien gegenüber, das man kaum noch als Lexikon im üblichen Sinne des Worts bezeichnen mag.
Dieser Befund scheint befremdlich; zu seiner Erklärung sei ein kurzer Blick auf die Geschichte der Lexikographie oder besser der Enzyklopädie geworfen (die beiden Ausdrücke werden oft _ nicht ganz zu Recht - promiscue gebraucht). Der Gedanke, dass es sowohl Köpfe als auch Bücher geben müsse, die alles wichtige Wissen ihrer Zeit enthielten, entstammt der Antike. Dem Hellenismus war das Ideal der ,enkyklios paideia` geläufig, einer Form der Allgemeinbildung, deren Bezeichnung von den Römern als orbis doctrinarum, als „Kreis von Wissenschaften" gedeutet wurde. Literaturwerke, in
denen sich diese Konzeption niederschlug, sind erst aus spätantiker Zeit überliefert, insbesondere in Gestalt einer Schrift von Martianus Capella (5. Jahrhundert n. Chr.), die wegen ihrer allegorisch-mythologischen Einkleidung den Titel „De nuptiis Philologiae et Mercurii" - „Philologias Vermählung mit Merkur" trägt. Dort werden in systematischer Form die Artes liberales abgehandelt: zunächst das sprachliche Trivium, bestehend aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik, und sodann das
mathematische Quadrivium, d. h. die vier Fächer Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musiktheorie. Etwa zwei Jahrhunderte später erschienen die „Etymologiae" Isidors von Sevilla, die umfassendste Summe alles Wissens aus der Spätantike. Dort folgen auf die sieben Artes einige weitere Disziplinen, darunter die Theologie, sowie eine systematisch geordnete Darstellung sämtlicher Realien; diese behandelt sowohl  die Gegenstände der beschreibenden Naturkunde als auch die gesamte menschliche Zivilisation.
Wie ersichtlich, hat sich der enzyklopädische Gedanke während der Antike in Werken konkretisiert, die aus einer Folge von jeweils nach einem System arrangierten Sachgebieten bestanden. Lexika im eigentlichen Sinne, Nachschlagewerke also, die ihr Material in alphabetisch geordneten Stichwörtern darboten, waren auch in Gebrauch, jedoch weniger verbreitet. Die umfänglichste erhaltene Unternehmung dieser Art ist ein byzantinisches Lexikon, entstanden um das Jahr 1000 und überliefert
unter dem rätselhaften Titel „Suda".
In den mittelalterlichen Enzyklopädien behielt das System die Vorherrschaft; dasselbe gilt für die ersten Jahrhunderte der Neuzeit. Erst mit der Aufklärung begann sich die alphabetische Ordnung auszubreiten. Ein weit herausragender Markstein in der Geschichte der Lexikographie ist die berühmte „Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers" die - in 35 Bänden - 1751 bis 1780 in Paris, Neuchâtel und Amsterdam erschien. Ein wesentliches Merkmal sowohl dieses Werkes als auch der übrigen Lexika jener Zeit bestand darin, dass die einzelnen Stichwörter jeweils größere Sachgebiete behandelten. Die Gepflogenheit, auch mit kleinen und kleinsten Artikeln aufzuwarten, ist erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Friedrich August Brockhaus, dem bekannten Verlagsgründer, eingeführt worden.
Dass ein Lexikon auf Lemmata geringen Umfangs verzichtet, dass es statt dessen eine Sequenz von Kurzmonographien bringt, ist also nichts Neues: Man gewährt dem systematischen Prinzip von einst in verkleinertem Maßstab wieder Einlass, indem man eine Kette von Subsystemen vorführt, die ihrerseits der alphabetischen Ordnung gehorcht. Noch heutzutage hat z. B. die „Encyclopaedia Britannica" ein derartiges Aussehen.
Vor allem aber ist das im Falle des rezeptionsgeschichtlichen Teiles des „Neuen Pauly" gewählte Verfahren dortselbst durch die Sache gerechtfertigt: Jegliche Überschau über große, oft verwickelte Zusammenhänge fordert vom Verfasser Einlässlichkeit und vom Benutzer Geduld - dieser muss sich darauf einstellen, dass das Werk weniger zu eiligem Nachschlagen taugt als zu eingehender Lektüre. Dafür aber, dass die Suche nach einem geeigneten Stichwort nicht enttäuscht wird, ist durch eine vorangestellte alphabetische Liste derselben gesorgt, und vielleicht schlüsselt der Herausgeber die
Inhalte am Ende des dritten Bandes noch durch ein detailliertes Sachregister auf - etwa nach dem Muster der „Theologischen Grundbegriffe" von Heinrich Fries, einem zweibändigen Werk, das lediglich aus großen Artikeln besteht, wo man aber durch ein umfangreiches Verzeichnis von Begriffen an die Einzelheiten herangeführt wird.
Was den Inhalt betrifft, so verwendet der neue Band den Begriff Rezeption als umfassende Formel für alles, was Europa, ja der Globus von der Antike empfangen hat und noch stets empfängt. Vielleicht sollen die Bereiche der Alltagskultur wie Kleidung, Hausgerät und Handwerk weniger berücksichtigt werden (hier lässt der erste Band allein noch keine zuverlässigen Schlüsse zu); im übrigen aber scheint - nach Orten, Zeiten und Gegenständen - Vollständigkeit angestrebt zu sein, weit über die üblichen Domänen der Rezeptionsgeschichte, über die Literatur, die Philosophie, die Kunst und das
Recht, hinaus. Dass man sich hierbei auf das Wesentliche beschränken muss, bedarf kaum der Erwähnung - nicht jede Akademie in Mittelamerika, nicht jeder klassizistische Impetus im Hausbaustil Australiens kann erwähnt werden.
Das Vorwort teilt die Stichwörter in sechs Kategorien ein: in die Sachgebiete der Rezeption (wie Literatur, Bildung, Philosophie usw.), in Länder und Kulturräume, in kulturelle Richtungen und Epochen, in wissenschaftliche Disziplinen, in Forschungs- und Bildungsinstitutionen sowie in bedeutende archäologische Ausgrabungsstätten.
Wenn man nun versucht, die Ausführung dieses Programms zu beurteilen, dann tut man gewiss gut daran, einen Hinweis des Herausgebers zu beherzigen: Mit der Spezialität Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte wird lexikographisches Neuland betreten. Demgemäß wollen die hier gelegentlich eingeflochtenen Hinweise auf formale Unstimmigkeiten nicht allzu schwer genommen werden: Sie stehen in keinem Verhältnis zu dem, was dort inhaltlich geleistet worden ist.

Die Wirkung lässt sich naturgemäß nicht gänzlich von der Sache trennen, die jeweils gewirkt hat _ so erklärt sich leicht, dass bisweilen die Interdependenz zwischen dem Hauptteil des „Neuen Pauly" und dem rezeptionsgeschichtlichen Supplement prekär ist: Der rezeptionsgeschichtliche Artikel bringt gelegentlich zu viel oder zu wenig für einen glatten Anschluss an das Pendant im Hauptteil. Im Falle der ,Apotheose` fehlt ein solches Pendant gänzlich; folglich ermangeln die Ausführungen des
Rezeptionsbandes der antiken Basis. Sub verbo ,Botanik` begnügt sich der Hauptteil mit dem Verweis „s(iehe) Pflanzenkunde"; das rezeptionsgeschichtliche Analogon hingegen befasst sich großenteils mit dem antiken Substrat, insbesondere den einschlägigen Werken Theophrasts. Der ,Aphorismos` des Hauptteils enthält bereits zur Hälfte Wirkungsgeschichte; die ,Argumentationslehre` im Rezeptionsband führt zunächst auf über vier Spalten die antiken Grundlagen vor. Mitunter scheint problematisch, ob der Einfluss der Antike tatsächlich so mächtig war, wie der rezeptionsgeschichtliche Artikel wahrhaben möchte - etwa bei ubiquitären Erscheinungen wie der Autobiographie oder dem
Brief.
Eine ziemlich häufige Praxis besteht darin, dass eine unnötig hohe Systemstufe bevorzugt wird: Man hätte als besonderen Artikel bringen können, was jetzt in den Bereich eines umfassenderen Stichworts inkorporiert ist. Über die Agrimensoren, die römische Zunft der Feldmesser, soll erst das Lemma ,Metrologie` Auskunft geben; über Akustik, Alchemie und manches andere wird der Benutzer erst im Dachartikel ,Naturwissenschaften` belehrt werden, und für die Dialektik hole man sich Rat im Stichwort ,Philosophie`. Warum wird die Diatribe der ,Satire` zugewiesen und der Dithyrambus der ,Lyrik`? Und die wenig gebräuchliche Kategorie ,Adaptationen` umfasst so verschiedene Dinge wie Antike-Romane, Kompilationen, Übersetzungen und Travestien.
Was die geographischen Artikel angeht, so hätten sich heutige Länder wie Albanien, Estland oder Finnland ebensogut im Rahmen größerer Regionen wie Balkan, Baltikum oder Skandinavien abhandeln lassen; mit dem Artikel ,Arabisch-islamisches Kulturgebiet` ist dies in beispielhafter Weise geschehen. Dagegen, dass auch alte Staatsgrenzen manchmal Zusammengehöriges trennen, ist
schwerlich immer Abhilfe möglich: Dänemark war unbedingt mit einem eigenen Artikel zu bedenken, obwohl die dortige altertumswissenschaftliche Blüte zumal des 19. Jahrhunderts eng mit der gleichzeitigen deutschen zusammenhing.
Der Artikel ,Deutschland`, mit siebzig Spalten der längste des Bandes, sowie der zusätzliche Artikel ,Bayern` mit siebzehn Spalten vermitteln dem Leser einen vorzüglichen Überblick über wesentliche Teile der Bildungs- und Geistesgeschichte Mitteleuropas, und wenn man noch das Stichwort ,DDR` (siebzehn Spalten) hinzunimmt, dann empfängt man auch einen nachhaltigen Eindruck von den Wunden, die die ideologischen Irrwege des 20. Jahrhunderts der einstigen Hochburg der Altertumswissenschaften beigebracht haben. Der imposante Überblick scheint allerdings einen Aspekt, die Rezeption der Rezeption, d. h. die Strahlkraft der Antikeverehrung der Goethezeit, hintangestellt zu haben: Er verrät nichts über die enormen bildungspolitischen Auswirkungen des Neuhumanismus zumal in ganz Osteuropa.
Die Rubrik kulturelle Richtungen und Epochen ist einstweilen nur durch wenige Artikel repräsentiert. Beim ,Alexandrinismus` stellen sich Fragen: Dieses Stichwort enthält in Wahrheit zwei _ die eine Verwendungsweise, die philosophische, leitet sich von dem Aristoteles-Kommentator Alexander von Aphrodisias ab, die andere, die literarische (die nicht erst durch Nietzsche bekannt wurde), von der Stadt Alexandria. Der Artikel ,Aufklärung` ist ein Kabinettstück; die Beschränkung auf das für die Antike-Rezeption Wesentliche gelang dort erheblich besser als in dem gelegentlich ausufernden Artikel ,Barock`. Eine besondere Erwähnung verdient das Lemma ,Epochenbegriffe`; dort wird die in allen drei altertumswissenschaftlichen Hauptdisziplinen in Gang befindliche Diskussion auf souveräne Weise zusammengefasst.
Antike-Rezeption findet am handgreiflichsten durch Ausgrabungen und sonstige Funde statt,
und so dokumentiert der Band die Freilegung bedeutender Ruinenfelder ebenso wie die Bestände der wichtigsten archäologischen Museen. Der reich bebilderte Artikel ,Athen` ist mit 54 Spalten der Spitzenreiter, gefolgt von Byzanz mit 31. Man fragt sich, ob Aizanoi (Aezani) in der Türkei so wichtig ist, dass ihm mit acht Spalten mehr Raum zugebilligt wurde als dem berühmten Kultmittelpunkt Delphi - vielleicht hat sich der Eifer des hierfür zuständigen Bearbeiters nicht bremsen lassen. Zu den Orten, die man vermisst, zählen Agrigent, Didyma und Epidauros. Die Reihe der einlässlich beschriebenen
Museen beginnt mit dem Allard Pierson Museum in Amsterdam und führt über Bagdad, Basel und Berlin weiter bis zu den Kunstsammlungen in Dresden. Museen, die kein eigenes Stichwort erhielten, sind den Länder-Artikeln zugeordnet.

Zum Schluss noch ein Wort über die altertumskundlichen Disziplinen und Institutionen. Sie gehören zum Besten des Bandes. Nicht leicht begegnet man an anderer Stelle derart gründlichen Zusammenstellungen und Übersichten; die einschlägigen Artikel behandeln mit großer Sachkunde Gegenstände, die sich im Alltag der Forscher- und Lehrtätigkeit als nicht deutlich wahrgenommene Voraussetzungen mit einer Randposition begnügen müssen. Unter den Disziplinen und deren
Besonderheiten könnten Stichwörter wie ,Altorientalische Philologie und Geschichte` oder ,Archäologische Methoden` besonders geeignet sein, Neugier zu wecken. Bei den Institutionen seien die Lemmata ,Altsprachlicher Unterricht` oder ,Bibliothek` zustimmend hervorgehoben - während man sich bei der mit sechzehn Spalten bedachten ,Akademie` fragt, was daran - außer dem Namen - auf die Antike zurückweist.
Mit dieser durch wenige Beispiele illustrierten Übersicht ist noch lange nicht alles genannt, was genannt zu werden verdiente. Der Band unternimmt neben anderem das Wagnis, das Altertum bis an die Gegenwart heranzuführen: mit Stichwörtern wie ,Faschismus` und ,Demokratie`, wie ,Comics` und ,Film`.
Wir können uns des erschienenen Teils der Rezeptionsgeschichte freuen und mit guter Zuversicht der beiden, die noch ausstehen, harren - vielleicht gilt für sie schon nicht mehr in demselben Maße wie für den ersten, dass dort lexikographisches Neuland betreten wird. Jedenfalls  wünschen wir den Herausgebern und Autoren einen gedeihlichen Fortgang ihrer Arbeit.

antikinitiale2.jpg (4138 Byte)Manfred Fuhrmann, Konstanz

 

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Erziehung im humanistischen Geist?

Ansprache des Schulleiters bei der Abiturientenentlassungsfeier des Alten
Gymnasiums, Oldenburg, am 3. Juli 1999

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,

[...] Ich weiß nicht, welche Motive bei Ihnen bzw. Ihren Eltern den Ausschlag gegeben haben, als Sie vor der Entscheidung standen, eines der Oldenburger Gymnasien zu wählen - Familientradition, die Freundschaftsgruppe, die Sprachenfolge, der Ruf der Schule als Institution des Bildungsbürgertums oder welcher Grund sonst. Ich weiß nur, dass zumindest in einem Fall die geistige Tradition, in der das Alte Gymnasium steht, ausschlaggebend war. Bei meinem ersten Elternsprechtag an dieser
Schule im Februar 1994 kam eine der heute hier anwesenden Mütter auf mich zu, um mich am Beispiel der zerrissenen Gardinen in der Klasse ihres Sohnes auf Verwahrlosungserscheinungen im Gebäude hinzuweisen. Angesichts rückläufiger Anmeldezahlen nahm das Gespräch aber rasch eine Wendung zum Grundsätzlicheren. Eine Erziehung im humanistischen Geist war, wenn ich mich recht erinnere, die zentrale Erwartung an das Alte Gymnasium. Was genau damit gemeint war, blieb eher unbestimmt. Ein wertorientiertes, anspruchsvolles Bildungsangebot, das die alten Sprachen mit einbezieht, den
Herausforderungen der Moderne aber Rechnung trägt und nicht in alten Positionen verharrt - so etwa habe ich die an mich herangetragene Vorstellung verstanden.

Triebkraft bei dieser Suche nach einer Erziehung im humanistischen Geist war vermutlich die Sorge um Orientierung angesichts einer als zunehmend unübersichtlich empfundenen Umbruchs- und Krisensituation - die Hoffnung auf  verlässliche Wegmarken in einer Zeit vielfältiger und konkurrierender Sinnangebote und Lebensentwürfe. Es ist sicher kein Zufall, dass in den letzten Jahren in den USA und in Deutschland verschiedene Anthologien erschienen sind, in denen unter dem Namen prominenter Herausgeber an alte Tugenden und Werte wie Selbstdisziplin, Mitleid, Wahrhaftigkeit,
Zivilcourage, Verantwortungsbereitschaft, Zuverlässigkeit und Treue erinnert wird - William Bennetts „Book of virtues" (1993), Ulrich Wickerts „Buch der Tugenden" (1995) und Friedrich Schorlemmers „Buch der Werte" (1995). Bezeichnend ist auch, dass eine Wochenzeitung wie „Die Zeit" in den letzten Jahren immer wieder die Frage nach dem literarischen Kanon, dem Verzeichnis der prägenden Werke, aufgeworfen und dafür plädiert hat, die Schülerinnen und Schüler mit intellektuell fordernder großer Literatur zu konfrontieren. „Spaß ohne Mühe ist die Langnese-Devise", so „Die Zeit". „Jeder
weiß doch, daß Kinder erst dann richtig glücklich und stolz sind, wenn sie die kleinen Katastrophen des Scheiterns und der Verzweiflung überstanden haben und endlich auch radfahren oder schwimmen können oder Englisch sprechen oder Fontane verstehen. Das macht Kinder froh und Erwachsene ebenso." (Die Zeit, 13. Juni 1997, S. 49)

Ich habe den Elternwunsch nach einer Erziehung im humanistischen Geist immer auf dem Hintergrund solcher Suche nach verlässlichen Orientierungspunkten gesehen, als „Versuch der grassierenden Beliebigkeit der Postmoderne entgegenzutreten", wie Friedrich Schorlemmer in seinem „Buch der Werte" (S. 20) sagt. Die Frage ist aber, ob der Begriff des humanistischen Geistes, der humanistischen
Bildung oder - vorsichtiger - des humanistischen Erbes geeignet ist, das Bildungsangebot zu charakterisieren, mit dem Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, hier am Alten Gymnasium konfrontiert worden sind - zumal die wenigsten von Ihnen Griechisch als dritte Fremdsprache gewählt haben.

Der Begriff der humanistischen Bildung ist jedenfalls nicht unbelastet, und wo ich ihn in den letzten Jahren in Zusammenhang mit dem Schulprofil ins Gespräch gebracht habe, bin ich auf Unsicherheit und Zögern gestoßen - auch bei Altphilologen. Aus gutem Grund. Einige von Ihnen kennen vielleicht Alfred Anderschs autobiographische Erzählung „Der Vater eines Mörders" (1980), in dem Andersch eine Griechisch-Stunde in den späten zwanziger Jahren schildert. Hauptfigur ist der Rex, der Direktor eines renommierten Münchener Gymnasiums, ein von der Sprache Homers und Sophokles' schwärmender
Sokrates-Verehrer, ein sich jovial gebender menschenverachtender Autokrat, der seine Macht dadurch beweisen zu müssen glaubt, dass er Schüler und Lehrer in der Öffentlichkeit bloßstellt. Der Name dieses Direktors: Himmler. Im Buch wird er der alte Himmler genannt, im Gegensatz zu seinem Sohn, dem jungen Himmler. Des Nachdenkens würdig ist es doch, schreibt Andersch, „daß Heinrich Himmler [...] nicht, wie der Mensch, dessen Hypnose er erlag, im Lumpenproletariat [richtiger müsste es heißen, im Kleinbürgertum] aufgewachsen ist, sondern in einer Familie aus altem, humanistisch fein
gebildetem Bürgertum. Schützt Humanismus denn vor gar nichts? Die Frage ist geeignet, einen in Verzweiflung zu stürzen." (Taschenbuchausgabe 1982, S. 136)

Nein, humanistische Bildung und Humanitätsideale sind keine Garantie für humanes Leben. Wer in die europäische Kulturhauptstadt des Jahres 1999 nach Weimar reist, kann dies sinnfällig erleben an einer freigelegten Jagdschneise, die unter der Bezeichnung „Zeitschneise" versucht, einen Bezug zwischen dem Schloss Ettersburg, der Sommerresidenz der kulturliebenden Herzogin Anna Amalia, und Buchenwald herzustellen   und so das Humanitätsideal der deutschen Klassik und die Wirklichkeit nationalsozialistischer Konzentrationslager einander anzunähern.

Belege für die Brüchigkeit humanistischer Bildungsanstrengungen gibt es aber nicht nur in Bayern und Thüringen. Zwar war nach übereinstimmender Darstellung von Zeitzeugen die Zahl der überzeugten Nationalsozialisten an dieser Schule eher gering. Zwar gab es Zeichen der Distanzierung von der herrschenden Ideologie - den Kampf um die Schülermützen als Symbol der Eigenständigkeit gegenüber der Hitler-Jugend, das in schwejkscher Manier perfektionierte Unterlaufen des geforderten Hitlergrußes oder das ostentative Geschlossenhalten der Lippen beim Absingen des Horst-Wessel-Liedes. Grund zur Selbstzufriedenheit bieten solche vereinzelte Demonstrationen geistiger Unabhängigkeit aber nicht. Schon 1934 wurden für die Lehrerbücherei Titel wie „Nationalsozialistische Erziehung", „Rassenkunde des jüdischen Volkes" oder „Weltgeschichte auf rassischer Grundlage" angeschafft - und dies unter der Leitung eines Direktors, der als Humanist alter
Prägung im Griechisch-Unterricht jede Gelegenheit zu Exkursen in allgemein-menschliche, philosophische und politische Bereiche nutzte und seine Schüler ständig zu kritischer Einstellung aufrief. Solche Zerrissenheit blieb nicht ohne Folgen. Zu den unauslöschlichen Schandmalen der Schulgeschichte gehört das Schweigen von Schülern und Lehrern angesichts der Herabsetzungen und Misshandlungen, die der letzte jüdische Schüler des Oldenburger Gymnasiums, Helmut Goldschmidt,
über sich ergehen lassen musste.

Schützt Humanismus denn vor gar nichts? Der Stachel von Anderschs Frage sitzt tief, und er bohrt sich tiefer ein, wenn man an das Stück denkt, mit dem die Theater-AG uns im letzten Jahr vor Augen geführt hat, wie das Wahre, Gute und Schöne als Dekoration des Besitzstandes, als Mittel der individuellen und gemeinschaftlichen Selbstdarstellung missbraucht werden kann: Dürrenmatts tragische Komödie oder, wie es ursprünglich hieß, seine Komödie der Hochkonjunktur „Der Besuch der Alten Dame" (siehe Kasten).
Nein, ein ungebrochenes Anknüpfen an den Geist der humanistischen Gymnasien ist nicht Bekenntnis eines Humanisten - Epilog des Lehrers „Ich bin ein Mörder. Wir alle sind es. Wir damals verarmten Güllener haben unseren geschätzten Mitbürger, den Krämer Alfred III umgebracht, alle zusammen, als offiziellen Akt. Die Milliardärin Claire Zachanassian schenkte uns dafür eine Milliarde. III hatte sie in Jugendjahren ins Elend gestoßen. Die Milliarde zog uns aus aller Armut, und wir wurden wieder
glücklich. Wir hätten Alfred III nicht töten müssen. Wir hätten arm bleiben können. Aber wir wurden lieber reich und blutbefleckt. Ich habe mitgetötet. Dabei bin ich doch der Humanist in unserer traurigen Geschichte, und das ist nicht gelogen: Schon als Musterschüler studierte ich Plato, wurde ein Freund der alten Griechen, las Shakespeare und begann zu verstehen, was ein guter Mensch ist, und nahm mir vor, immer einer zu sein, die Menschlichkeit als das Wichtigste walten zu lassen, die Gerechtigkeit und das friedliche Zusammenleben zu fördern. Schon allein mein Beruf verpflichtete mich dazu,
schließlich wollte ich ein guter Lehrer sein. Da ich, außer kleine Prügeleien zu beenden, nie etwas Humanistisches zu tun hatte, konnte ich mich einen Humanisten nennen. Ich glaubte auch wirklich an die Gerechtigkeit und Menschlichkeit und hatte in den langen Zeiten, in denen keiner satt wurde, immer etwas, was mich davon abhielt, Böses zu tun und vermittelte dies den Schülern.

Trotzdem wurde ich ein Mörder. Seit der Kundgebung der Milliardärin war es unüberseh
bar, dass Güllens Armut zu bitter und die Versuchung zu groß war, als dass es auf die Milliarde hätte verzichten können. Ich wusste es, von Anfang an, und ich wusste auch, dass auch ich mitmachen würde. Allerdings muss man zugeben, dass ich es war, der am längsten durchhielt, der am längsten Widerstand bot. Immerhin war ich es, der zu Frau Zachanassian ging und sie anflehte, den unheilvollen Gedanken der Rache fallen zu lassen, während sogar der Bürgermeister schon auf IIIs Tod spekulierte. Und wenn es auch im Rausch geschah, war ich der erste und letzte, der sich traute, die Wahrheit zu verkünden,
wie es um uns und III stand.

Aber am Ende war auch ich ein Mörder. Die schändliche Milliarde hat eben jedem im Herzen gebrannt. Mein Glaube an die Humanität wurde immer machtloser. Zum Schluss habe ich dann unser Vorhaben als humanes Handeln verstanden. Jetzt weiß ich das alles und frage mich, was all die Gedanken an die Humanität bewirken in der Welt. Mir haben sie nichts gebracht, die ganzen Theorien waren umsonst, denn reden konnte ich viel, aber tun konnte ich nichts, als es drauf ankam.

Sie können jetzt natürlich sagen, das ist bei mir so, deswegen müssen ja nicht alle so einen schwachen Charakter haben, aber wenn ich mich mal mit Ihnen vergleiche, frage ich Sie: Hätten Sie es anders gemacht? Hätten Sie nicht getötet? Hätten Sie es wirklich anders gemacht?" Jasper Beutin
möglich, und das elitäre Bewusstsein, das sich auch an dieser Schule artikulierte, als nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschlands aus der Oberschule mit altsprachlichem Gymnasium wieder das altsprachliche Gymnasium mit Oberschule geworden war, ist höchst anfechtbar. „Die Horde der Barbaren trottete wieder hinter der Schar der Humanisten her. Ich, bislang Schüler einer sogenannten Deutschen Oberschule im preußischen Küstrin," heißt es in dem
Rückblick eines der an das Oldenburger Gymnasium verschlagenen Flüchtlingskinder, „fühlte mich geistig geliftet, als ich am zweiten Schultag in einem kalten Klassenzimmer meine neue schulische Identität erfuhr." Die Horde der Barbaren, die wieder hinter der Schar der Humanisten hertrottet _ eine
solche Formulierung mag verständlichen Stolz angesichts der Rehabilitierung altsprachlicher Bildung nach den Jahren der nationalsozialistischen Indoktrination spiegeln. Sie wirft dennoch die Frage auf, ob Selbstvergewisserung und Selbstbestätigung mit der Herabwürdigung anderer einhergehen müssen. Überdies ist zweifelhaft, inwieweit der hohe moralische Anspruch humanistischer Bildung nach dem zweiten Weltkrieg eingelöst werden konnte. Zwar erinnern sich die Nachkriegsjahrgänge mit großer Liebe an ihre Schulzeit, in der  sie - auch in der Auseinandersetzung mit der Antike - Leitlinien einer geistigen Orientierung gewannen. Klaus Modick aber schreibt in seinen Erinnerungen an die sechziger Jahre am Alten Gymnasium, die Schule habe jeden Winkelzug der Punischen Kriege und jede grammatische Variante des Gallischen Krieges eingepaukt, sich aber nahezu vollständig ausgeschwiegen, wenn von dem Krieg und seiner Vorgeschichte die Rede hätte sein müssen, den die meisten Lehrer noch selbst erlebt hatten (Schwarten, Pauker, Blaue Briefe, 1998, S.10).

Die Frage bleibt und stellt sich mit neuer Dringlichkeit. Was bleibt vom humanistischen Erbe, das diese Schule über weite Strecken ihrer Geschichte geprägt hat? Der Elternvertreter bei der Entlassungsfeier 1995 sah das bewahrenswerte Anliegen des Humanismus des 16. und 19. Jahrhunderts in dem Bemühen um Selbsterkenntnis, das heute auf sehr viel mehr Feldern als
nur in der Auseinandersetzung mit der Antike zu erfolgen habe: erstens in der Beschäftigung mit fremden Sprachen und Kulturen der Gegenwart, in denen man dem anderen Menschen begegne, den es zu verstehen gelte, zweitens in den Naturwissenschaften, in denen der Mensch mit den rätselhaften und nicht hintergehbaren Strukturen seiner Weltwahrnehmungsmöglichkeiten und der Frage nach der ethischen Verantwortung der Wissenschaft konfrontiert werde, und drittens im schöpferischen Spielen und Nachspielen, in dem vielleicht der größte Schatz des Menschlichen überhaupt liege.

Damit sind zweifelsohne wesentliche Elemente jeder Bildung genannt, wenn auch zentrale Bereiche fehlen: die politische und ökonomische Bildung mit dem Ziel der aktiven Teilhabe an der res publica. Aber wenn damit zeitgemäße humanistische Bildung hinreichend definiert ist, dann ist jede Schule dem humanistischen Bildungsanspruch verpflichtet. In gewissem Sinn ist dies auch richtig. Im Niedersächsischen Schulgesetz heißt es zum Bildungsauftrag der Schule: „Die Schule soll [...] die
Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage des Christentums, des europäischen Humanismus und der Ideen der liberalen, demokratischen und sozialen Freiheitsbewegungen weiterentwickeln." Aber  die genannten Elemente - das Erlernen moderner Fremdsprachen, die Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften, ästhetische Praxis, politische und ökonomische Bildung - reichen nicht aus, die Besonderheiten Ihres Bildungsganges zu kennzeichnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten.

Das Alte Gymnasium hat versucht, Ihnen den Reichtum der abendländischen Tradition von der Antike bis zur Moderne zu erschließen, ohne deren Schattenseiten zu verdrängen. Bei dem Festakt zu unserem 425-jährigen Bestehen im vergangenen Jahr sind wir daran erinnert worden, dass Europa mehr ist als die Bezeichnung eines geographischen Raumes oder eines wirtschaftlichen und politischen Zusammenschlusses von Staaten. Europa, das ist auch ein geistiger Raum, der mit seiner Betonung rationaler Weltsicht, verfassungsmäßig garantierter Rechte und der unveräußerlichen Würde des Einzelmenschen von der griechischen Philosophie, dem römischen Recht und der jüdisch-christlichen Tradition geprägt ist. Wir haben versucht, Ihnen dieses Erbe nahezubringen, ob wir mit Ihnen die Methoden exakter Naturwissenschaft erprobt, über den europäischen Imperialismus oder die Zukunft der Industriegesellschaft nachgedacht haben, ob wir mit Ihnen über längere Zeiträume an schweren, großen Musikstücken gearbeitet oder mit ihnen prägende Werke der Weltliteratur gelesen haben.
Dabei ging es nicht um unkritische Reproduktion der Klassiker, vielmehr um kritische Bewahrung und Aufarbeitung unserer Vergangenheit, um die Gewinnung geistiger und moralischer Leitlinien.

Wir haben bei unserer Bildungsarbeit die antiken Traditionen stärker berücksichtigt, als dies andernorts der Fall ist - nicht weil wir glauben, dass wir dadurch besser sind als andere, sondern weil wir überzeugt sind, dass Europa dieses Erbe braucht. Dass die Antike auch heute noch einen nicht aufgebrauchten humanen Überschuss besitzt, dass man aus der Auseinandersetzung mit ihr Wegweisung und Stärkung für ein menschenwürdiges Leben gewinnen kann, zeigt das Beispiel Nelson Mandelas, der während seiner Haft auf Robben Island klassische griechische Dramen las und die Antigone mit
seinen Mitgefangenen aufführte. Für ihn waren die antiken Protagonisten Identifikationsfiguren, die ihn inspirierten und ihm halfen, selbst unter den härtesten Prüfungen nicht zusammenzubrechen, ungerechten Gesetzen im Namen eines höheren Rechts zu widerstehen und Gerechtigkeit und
Barmherzigkeit in der politischen Führung miteinander zu verbinden („Long Walk of Freedom", The Autobiography of Nelson Mandela, 1994/1995, S. 456). Angesichts eines solchen humanen Potenzials freuen wir uns, dass die skeptischen Prognosen vom bevorstehenden Ende des Griechisch-Unterrichts am Alten Gymnasium bislang nicht eingetroffen sind und dass wir bei der diesjährigen Abiturprüfung erstmals wieder zwei Prüflinge in Griechisch hatten - auch wenn die Realisierung mit niveau- und jahrgangsübergreifenden Kursen allen Beteiligten ein hohes Maß an Flexibilität und Kreativität
abverlangt hat. Wir leisten uns den Luxus eines solchen Minderheitenangebotes, nicht weil wir von der besonderen Subtilität und Dignität des Griechischen im Vergleich zu anderen Sprachen und Kulturen überzeugt sind, sondern weil wir glauben, dass die Minderheit der Schülerinnen und Schüler, die Griechisch wählt, uns allen einen Dienst erweist, indem sie uns an wichtige Wurzeln unserer Kultur erinnert.
Die stärkere Einbeziehung der Antike bei unserem Bemühen um Maßstäbe für eine humanes Leben war ein Merkmal unseres Bildungsangebotes an Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten. Ein anderes war dessen Breite. Wir haben Ihnen mit unserem Drei-Sprachen-Modell [Latein/Englisch ab Klasse 5, Englisch/Latein ab Klasse 7, Französisch/Griechisch ab Klasse 9] mehr angeboten und mehr abverlangt als die meisten anderen Schulen. Wir haben Sie nicht zurückgehalten, wenn Sie in Klasse 11 drei Fremdsprachen oder drei Naturwissenschaften oder in der Kursstufe bis zu 36 Wochenstunden belegen wollten. Wir haben Sie ermutigt, sich über den Unterricht hinaus in Chor, Orchester, Theater-AG, Debating Society oder bei der Model-UN zu engagieren. Wir haben dies getan, weil wir überzeugt sind, dass das alte humanistische Leitbild von der allseitig oder doch zumindest vielseitig gebildeten Persönlichkeit auch heute noch gültig ist. Wir haben Ihnen die Mehrbelastung zugetraut und zugemutet in der Überzeugung, dass ein breit angelegtes, forderndes Bildungsangebot Ihnen am
ehesten hilft, Ihre Stärken und Schwächen zu erfahren und Ihre Begabungen zu entfalten. In gewissem Sinn haben wir damit auf eine Elite gezielt - aber nur im Sinne einer Funktions- und Verantwortungselite, wie sie von der Elternvertreterin bei der Entlassungsfeier 1996 beschrieben wurde - einer Elite,

• die eine nationale Identität hat, aber über Deutschland hinaus denkt und sich ihrer globalen Verantwortung stellt,

• die nicht in erster Linie eigene Interessen verfolgt, sondern dem Gemeinwohl dient,

• die in alle Überlegungen die Leistungsschwächeren einbezieht,

• die sich den Grundwerten der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verpflichtet fühlt und die unaufhebbare Spannung zwischen diesen Werten aushält,

• die um die eigene Verführbarkeit weiß,

• die sich immer wieder legitimieren und zu jeder Zeit überprüfen lassen muss.

So entlassen wir Sie denn - in dem Bewusstsein um die Vorläufigkeit und Gefährdetheit unserer Bildungsbemühungen, in der Hoffnung, dass die uns tragenden Traditionen ihren unaufgebrauchten humanen Überschuss in Ihrem Leben entfalten und Ihnen Halt und Orientierung geben mögen.

antikinitiale2.jpg (4138 Byte)Jens-Peter Green, Oldenburg

 

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Elefant und Ameise in der römischen Literatur

Ein Beispiel für Intertextualität im Rahmen der Vergillektüre

Ein deutsches Sprichwort besagt, man solle aus einer Mücke keinen Elefanten machen, womit gemeint ist, dass man eine relativ unbedeutende Angelegenheit nicht zu einer großen Affäre hochstilisieren soll. Entsprechend dieser Mahnung versteht sich dieser Beitrag zuvörderst als bescheidener Streifgang durch die römische Literatur auf der Suche nach dem Motiv von Elefant und Ameise und in zweiter Linie als kleine Anregung, die Schüler im Rahmen der Vergillektüre an einem Beispiel mit dem Phänomen der Intertextualität vertraut zu machen.
Vergils Aeneis kann in der Schule, wie Fachdidaktiker und Praktiker wissen, nur in Auszügen gelesen werden. Konsens herrscht darüber, dass das vierte Buch mit seiner Beschreibung der Liebe zwischen Dido und Aeneas in keiner Auswahl fehlen darf. Daraus leitet sich die Berechtigung ab, folgenden Abschnitt aus diesem Buch als Ausgangspunkt weiterer, ausdrücklich auch unterrichtsrelevanter Überlegungen zu nehmen.

In diesen Versen wird die Situation geschildert, wie Aeneas, der Weisung Jupiters gehorchend, seinen Gefährten aufträgt, die Schiffe für die Abreise von Karthago startklar zu machen. Dido betrachtet das darauf einsetzende Treiben der Trojaner am Strand von erhöhter Warte aus (arce ex summa, 4, 410), das ihr nicht zuletzt wegen dieser Perspektive wie Ameisengewimmel vorkommt:

migrantis cernas totaque ex urbe ruentis.

ac velut ingentem formicae farris acervum

cum populant hiemis memores tectoque reponunt,

it nigrum campis agmen praedamque per herbas

convectant calle angusto: pars grandia trudunt

obnixae frumenta umeris, pars agmina cogunt

castigantque moras, opere omnis semita fervet. (4, 401-407)

Besonders interessieren soll hier der Halbvers it nigrum campis agmen. Bei ihm handelt es sich um einen Originalvers aus dem Epos des Ennius (Vahlen2, frg. 474), der sich laut Servius auf Elefanten bezog und den Vergil durch seine Verwendung in neuem Kontext konterkariert: aus der respekteinflößenden Schar schwarzer Elefanten ist ein Häuflein Ameisen geworden.
Inwiefern sich hinter diesem gewitzten intertextuellen Spiel poetologische Kritik des kallimacheisch geschulten Vergil an seinem Vorgänger verbirgt, kann hier nicht in extenso thematisiert werden, doch ist immerhin denkbar, dass die Reduktion der Elefanten auf Ameisen auch subtile Chiffre für die seit Ennius gewandelte Dichtungsauffassung sein könnte, weg vom ìÝãá âéâëßïí hin zum alexandrinisch verfeinerten Kleingedicht.1
Abgesehen von solchen Implikationen wird diese den ursprünglichen Sachverhalt umwertende Anspielung ein Hochgenuss für das literarisch versierte zeitgenössische Publikum gewesen sein, um so mehr, wenn man bedenkt, wie vergleichsweise dröge Accius schon vor Vergil diesen Ennius-Halbvers zur Beschreibung der Indi verwendet hat (Frg. 26 Morel, FPL).
In seiner Spätschrift Naturales Quaestiones greift Seneca seinerseits den vielzitierten ennianischen Halbvers auf:

Si quis formicis det intellectum hominis, nonne et illae unam aream in multas provincias divident? Cum te in illa vere magna sustuleris, quotiens videbis exercitus subrectis ire vexillis et, quasi magnum aliquid agatur, equitem modo ulteriora explorantem, modo a lateribus affusum, libebit dicere „it nigrum campis agmen": formicarum iste discursus est in angusto laborantium. Quid illis et nobis interest nisi exigui mensura corpusculi? (Sen. nat. 1 praef. 10)

Diese Stelle steht im Zusammenhang der moralphilosophischen Betrachtung, dass die Menschen sich vor Augen halten sollten, wie klein die scheinbar große Menschenwelt tatsächlich sei: Hoc est illud punctum, quod inter tot gentes ferro et igne dividitur? O quam ridiculi sunt mortalium termini! (Sen. nat. 1 praef. 8f.)2

Wenn Seneca diesen Ennius-Vers zitiert, hat er, wie der Folgesatz mit seiner Bezugnahme auf das Ausschwärmen von Ameisen (formicarum iste discursus ...) zeigt, offenkundig seine oben beschriebene vergilische Adaption vor Augen. Bezweckte Vergil mit der Bezugnahme auf Ennius möglicherweise literarische Kritik, so gebraucht Seneca den Ennius-Vers in der schon vergilisch
gebrochenen Form zu philosophischer Kritik an der Selbstüberschätzung der Menschen.

In satirischem Kontext findet sich das Motiv von Ameise und Elefant in einem spätantiken Epigramm des Anicius Probinus auf einen kleinwüchsigen Menschen (In Faustum staturae brevis. Anicii Probini):

Faustulus insidens formicae ut magno elephanto

decidit et terrae terga supina dedit,

moxque idem ad mortem est mulcatus calcibus eius,

perditus ut posset vix retinere animam.

vix tamen est fatus: „quid rides, improbe livor,

quod cecidi? cecidit non aliter Phaethon." (Epigrammata Bobiensia ed. W. Speyer, 65)

Der kleine Faustus, der auf einer Ameise ritt, als wäre sie ein großer Elefant, / fiel herab und lag rücklings auf der Erde. / Bald darauf wurde er von ihren Tritten beinahe zu Tode getrampelt, / so dass er, verloren schon, sein Leben kaum behalten konnte. / Unter größter Anstrengung hub er an: „Was lachst du, schlimmer Neid, / dass ich gestürzt bin? Es stürzte nicht anders Phaethon." (Eigene Übersetzung)

Der Witz des Textes liegt in der Diskrepanz zwischen realer Kleinheit des Faustus einerseits und angemaßter Größe andererseits. Bereits der erste Vers macht dies durch die Doppelantithese mit dem Deminutiv Faustulus und dem Adjektiv magno und der Gegenüberstellung der denkbar konträrsten Tiere Ameise und Elefant deutlich. In satirischer Übertreibung wird Faustus auf einer Ameise reitend vorgestellt, von der er stürzt und beinahe totgestampft wird - böse Überzeichnung der geringen Körpergröße des Faustus. Vollends vernichtend aber wird der Spott im letzten Distichon: nicht genug, dass der kleine Mann  von einer Ameise stürzt, vergleicht er seinen Sturz gar mit dem des Heliossohnes Phaethon von hohem Himmelspol herab.
Die Wichtigtuerei des Faustus entlarvt sich so zum einen in seiner lächerlich wirkenden Selbstermächtigung zur mythischen Persönlichkeit (cecidit non aliter Phaethon) und zum anderen in der Stilhöhe des epischen Sprachduktus, der der Banalität der Situation nicht angemessen ist (fatus est). Um auf das bereits zu Anfang des Beitrags zitierte Sprichwort zurückzukommen: der von Probinus karikierte Faustus versteht es zu seinem eigenen Schaden, aus einer Mücke, nämlich sich, einen Elefanten zu machen.

Dieses kleine Textcorpus lässt sich im Unterricht durchaus als Zwischenexkurs im Rahmen der Vergillektüre einbauen. An ihm kann exemplarisch das für die römische Literatur so wichtige Phänomen der Intertextualität aufgezeigt werden. Die Erfahrungen aus der eigenen unterrichtlichen Praxis des Verfassers zeigen, dass der feinsinnige Witz römischer Autoren von Oberstufenschülern goutiert wird und ganz neu für die Lektüre der nur scheinbar langweiligen Klassiker zu motivieren
vermag - ohne Zuhilfenahme von Asterix und anderen Comicfiguren mit lateinischen Sprechblasen. Nur Mut! Probatum est.

1) Insofern greift auch hier die These von der „subversion by intertextuality" im vergilischen Epos. Vgl. dazu R.O.A.M. Lyne, Vergil's Aeneid: Subversion by intertextuality. Catullus 66.39-40 and other examples, Greece and Rome 41, 1994, S. 187-204. Vgl. für weitere Beispiele auch M. Lobe, Die Gebärden in Vergils Aeneis. Zur Bedeutung und Funktion von Körpersprache im römischen Epos, Frankfurt a. Main 1999, S. 112.

2) Mit Stoßrichtung gegen die Selbstüberhebung des Welteroberers Alexander des Großen schreibt Seneca ganz ähnlich in epist. 91,17: Alexander Macedonum rex discere geometriam coeperat, infelix, sciturus quam pusilla terra esset, ex qua minimum occupaverat.

antikinitiale2.jpg (4138 Byte)Michael Lobe, Dinkelsbühl

 

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Weltbürgertum in der Antike


Vor 12 Jahren stellte mir ein mit mir befreundeter Politologe die Frage: „Gab es vor dem Christentum ein ethisches System, das gesamtmenschheitliche (d. h. die ganze damalige Oikumene umfassende) Gültigkeit beanspruchte?" - ich  schickte ihm daraufhin eine Übersetzung der folgenden Stelle aus Ciceros „De officiis" zu (die übrigens auch den bayerischen Abiturienten im Jahre 1993 als Prüfungsaufgabe vorgelegt wurde, vgl. Anregung 5/93) und fügte noch einige kommentierende Bemerkungen bei, von denen ich annehmen konnte, dass sie den Empfänger, dem bei seiner beruflichen
Tätigkeit immer auch an den größeren geschichtlichen Zusammenhängen gelegen war, interessieren könnten. - Der Text und die vier kommentierenden Bemerkungen könnten vielleicht auch als Ergänzungen zu dem wichtigen historischen Überblick verstanden werden, den Friedrich Maier jüngst in der „Anregung" („Die geistigen Wurzeln einer europäischen Wertegemeinschaft in Antike und christlichem Abendland", Heft 4/99) zu dieser Thematik gegeben hat (vgl. da besonders die Seiten 227-229).
„Wenn die Natur gebietet, dass der Mensch auf seinen Mitmenschen Rücksicht nimmt, u. zwar ohne Ansehen von dessen Person (wörtlich: „wer auch immer dieser Mitmensch sei"), sondern eben nur, weil dieser ein Mensch ist: so muss gemäß derselben Natur der Nutzen aller Menschen ein gemeinsamer sein. Und wenn das so ist, gilt für uns alle ein und dasselbe Gesetz der Natur; und wenn wiederum dieses letztere gilt, dann verbietet uns dieses Gesetz eindeutig, einem anderen Menschen wehe zu tun. - Absurd ist nämlich, was einige (Philosophen) behaupten: natürlich würden sie, um einen Vorteil zu erlangen, ihrem Vater oder Bruder nichts wegnehmen, aber hinsichtlich der übrigen Mitbürger stehe es anders. Diese (Philosophen) bestreiten also, dass es so etwas wie eine Rechtsgemeinschaft oder eine Gemeinschaft des Nutzens zwischen den Bürgern eines Staates gibt - eine These, die jede staatliche Gemeinschaft über den Haufen wirft. Absurd aber auch das, was eine andere Gruppe (von Philosophen) behauptet: Rücksicht auf alle Mitbürger ja, nicht aber auf Ausländer. Diese (Philosophen) zerstören die Gemeinschaft des Menschengeschlechts (dirimunt communem humani generis societatem).
Damit aber negieren sie die Tugenden der Wohltätigkeit, Großzügigkeit, der Güte, der Gerechtigkeit von Grund aus; und Leute, die das tun, müssen auch als Frevler gegen die unsterblichen Götter betrachtet werden. Denn sie wollen die Gemeinschaft beseitigen, die von den Göttern zwischen den Menschen (gemeint: zwischen allen Menschen) eingerichtet worden ist." (De off. III 27/28).

Kommentar:

Natürlich ist hierbei zu beachten, dass Cicero hier aus griechischen Vorlagen für den römischen Leser referiert, also nicht unbedingt persönlich mit dem Gesagten zur Deckung gebracht werden kann. Die römische Geschichte zeigt, dass die Römer (auch Cicero selber) im Schnitt alles andere als stoische Kosmopoliten waren. - Bezüglich Ihrer Frage ist also im ganzen folgendes festzuhalten:

1. Jahrhunderte bevor das (Ur-)Christentum mit seiner Moral der Nächstenliebe auf den Plan trat, gab es in der mittelmeerischen Oikumene in der Theorie den stoischen Kosmopolitismus.

2. Umgekehrt kann man sagen, dass dieser stoische Denkansatz der Nährboden (oder das „Ambiente") war, in dem sich das christliche Gebot der Nächstenliebe, die ja ursprünglich und primär auf den sinnlich greifbaren „Nächsten" bezogen war (vgl. etwa das Gleichnis vom barmherzigen Samariter), mit der Zeit immer mehr „universalisieren" konnte.

3. Das Amalgam aus stoischer und christlicher Ethik ist dann später in der europäischen Aufklärung wieder zu neuem Leben erwacht. Denn Philosophen wie Kant oder einflussreiche Schriftsteller wie Voltaire lösten sich zwar vom christlichen Gottesglauben, nicht aber von der christlichen Ethik. Dabei spielte Cicero als Vermittler der stoischen Ethik eine entscheidende Rolle. Friedrich der Große pries speziell „De officiis" mit den wärmsten Worten und sorgte für eine Übersetzung ins Deutsche.

4. Was sich in jüngster Zeit in dieser Richtung regt (z. B. die sogenannte „Friedensbewegung") ist also nur ein letztes Glied in einer mehr als 2000-jährigen Tradition. - Betont sei aber nochmals, dass diese Tradition vorwiegend eine theoretische war, die an der politischen Praxis, also z. B. an den nationalstaatlichen Interessen und den daraus folgenden Konflikten, leider nur wenig ändern konnte.

antikinitiale2.jpg (4138 Byte)Heinz Munding, Schwegenheim

 

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Ehrung für Klaus Sallmann



Am 6. November 1999 fand in der Universität Mainz die akademische Feier anlässlich der Entpflichtung von Herrn Professor Dr. Klaus Sallmann statt, der am 24. September sein 65. Lebensjahr vollendet hatte. Die vielen Gäste aus dem In- und Ausland zeigten augenfällig die Weite seiner Arbeit für die alten Sprachen und den altsprachlichen Unterricht.
Fachwissenschaftler rühmten seine Arbeit auf dem Gebiet der antiken Fachliteratur und des Neulateins. Lehrer und Kollegen zeigten, dass sie der von Klaus Sallmann vorbildlich praktizierten lebendigen Anwendung des Lateinischen anhängen und in ihm einen ihrer Vorreiter sehen. Vertreter politischer und kultureller Vereinigungen, die sich zum Ziel gesetzt haben, über die Grenzen des Faches und des eigenen Landes hinweg zu denken und zu arbeiten, zeigten den Wert von Sallmanns
Mitarbeit in diesen Gremien. Kollegen und Freunde ehrten ihn durch eine Festschrift mit dem Titel „Vivida loquela", die Herr Professor Blänsdorf im Rahmen seiner lateinischen Ansprache überreichte.

Klaus Sallmanns Verdienste um den Deutschen Altphilologenverband passen in dieses Bild ei
nes strengen Philologen und gleichzeitig stets der Gegenwart verpflichteten politisch denkenden Menschen. Hier seien vor allem drei Verdienste hervorgehoben. Klaus Sallmann hat zusammen mit Erich Burck, Adolf Clasen und Andreas Fritsch eine kleine „Geschichte des Deutschen Altphilologenverbandes 1925-1985" herausgegeben (1987 als Sonderheft des Mitteilungsblattes und als Broschüre erschienen). Er hat damit die Anfänge und die Entwicklung unseres Fachverbandes
festgehalten. Er hat aber auch die Notwendigkeit der Werbung und Öffentlichkeitsarbeit erkannt und als erster Pressesprecher des Verbandes gewirkt. Immer wieder hat er in Zeitungsartikeln und Leserbriefen zu den Problemen, Leistungen und Forderungen unserer Fächer Stellung genommen. Schließlich hat er in die Zukunft gedacht. Es war seine Erkenntnis, dass der Sache der alten Sprachen auch dadurch gedient wird, wenn sich die Verbände der Lehrer der alten Sprachen auf europäischer Ebene zusammenschließen und die Arbeit der nationalen Verbände durch einen Dachverband
unterstützt und begleitet wird. Er ist einer der Gründungsvater des Gesamtverbandes EUROCLASSICA und hat auch an seiner Satzung entscheidend mitgearbeitet (vgl. MDAV 1/92). Klaus Sallmann hat sich um DAV und EUROCLASSICA große Verdienste erworben, beide Verbände sind ihm zu großem Dank verpflichtet.

Andreas Fritsch u. Hans-Joachim Glücklich

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Dank an Peter Petersen


Peter Petersen hat im September dieses Jahres den Vorsitz im Landsverband Schleswig-Holstein an seinen gewählten Nachfolger Herrn OStD Rainer Schöneich, Leiter der Kieler Gelehrtenschule, übergeben. Das ist mir Anlass, meinem Freund, Kollegen und Mitstreiter seit nahezu 30 Jahren persönlich und im Namen des DAV den herzlichsten Dank auszusprechen. Petersen hat sich wahrlich um die Alten Sprachen in Deutschland verdient gemacht. Seit der „Pädagogischen Wende" der Curriculumreform hat er an führender Stelle an der Entwicklung des altsprachlichen Unterrichts mitgewirkt.
Zu allererst in der sog. EPA-Kommission, in der die einheitlichen Anforderungen in der Abiturprüfung Latein/Griechisch festgelegt wurden; daraus ist die sog. Hansen/Petersen-Matrix zur Erstellung der Interpretationsaufgabe in den Prüfungen hervorgegangen. Die angemessene Leistungsbeurteilung ist seitdem ein zentrales Anliegen von Petersen geblieben; hierzu leitete er bis vor kurzem eine Kommission des DAV. Hohe Kompetenz erwarb er sich zudem auf dem Gebiet der Textgrammatik und der Unterrichtsgestaltung nach modernen Methoden. Als Fachdidaktiker an der Universität Kiel für
Latein und Geschichte hat er sich in die pädagogische Literatur bestens eingelesen.
Peter Petersen ist einer jener Fachvertreter, die mit Leidenschaft und bildungstheoretischem Wissen auf der politischen Bühne die Sache des Lateinischen zu vertreten versuchen. Sein Wirken war hier sehr erfolgreich. Auf unzähligen Fortbildungsveranstaltungen hat er sein Wissen weitergegeben und gibt es weiter, wobei immer die nahezu sprichwörtlich gewordenen „Petersen-Papers" (umfangreiches Kopiermaterial) die Grundlage bilden.
Als Referent genießt er hohes Ansehen. Dass ihn sein Können auch die Berufung in Lehrbuch- Autorengremien eingebracht hat, war eine ganz natürliche Folge. Dort versucht er seine Vorstellungen von einem moderen Lateinunterricht zu verwirklichen.

Freilich haben sein Engagement und die damit verbundenen Belastungen seiner Gesundheit geschadet. Petersen stellte die Sache zu sehr über seine Person. Das ist nicht ohne Gefahr. Doch scheint es eine prägendes Kennzeichen seiner Persönlichkeit zu sein, für das als richtig Erkannte zu kämpfen und sich für andere einzusetzen. Das macht ihn sympathisch und zeugt von seinem hohen menschlichen Wert. Wie viele andere habe auch ich von ihm sehr viel gelernt und oft Hilfe bekommen. Deshalb ist und war mir die Freundschaft mit ihm sehr viel wert. Ich wünsche ihm eine Stabiliserung seiner Gesundheit und, soweit es ihm möglich ist, ein weiterhin erfolgreiches Wirken auf all jenen Feldern, auf denen er sich bisher bewährt hat.

Friedrich Maier

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Glückwünsche an Hans-Joachim Glücklich


Prof. Dr. Hans Joachim Glücklich ist mit dem Jahr 1999 für vier Jahre zum Vorsitzenden der EUROCLASSICA gewählt worden. Dafür seien ihm auch an dieser Stelle die herzlichsten Glückwünsche ausgesprochen. Möge es ihm gelingen, diesem Zusammenschluss der europäischen Landesverbände eine stärkere Dynamik als bisher zu geben. Dringend erwünscht wäre eine Resolution, die sich an die zuständige Behörde im Europazentrnm in Brüssel richtet und in der die identitätsstiftende Kraft herausgestellt wird, die in der Beschäftigung mit den Wurzeln der europäischen Kultur steckt. Eine positive Aussage dazu „von oben" wäre allen nationalen Verbänden eine echte Hilfe.
Herr Glücklich wird seine Funktion als Landesvorsitzender von Rheinland-Pfalz aufgeben, um sich ganz der neuen, verantwortungsvollen Aufgabe widmen zu können. Für alles bisher von ihm im Dienste des DAV Geleistete sei ihm auch an dieser Stelle Dank und Anerkennung ausgesprochen.

Friedrich Maier