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Offizieller Bericht zum DAV-Kongress ´98 in Heidelberg

 

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Zum Goethejahr 1999

 

Ein Volk, das seine großen Dichter kennt und liest - und bei gegebenem Anlass ehrt, dient und ehrt zugleich sich selbst aufs beste.

Wie berechtigt der Gedanke ist, in Goethe einen Menschen zu ehren, dessen Leben und Werk Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit bezeugen, steht außer Frage. Goethe förderte und bereicherte auf vielfältige Weise die Werte deutscher Kultur und trug erheblich zu ihrem Ansehen in der Welt bei. Seine humane Absicht wurde von allen Völkern, so sie Kunde von ihr hatten, beachtet und verstanden. Sie gab Gesellschaften unterschiedlichster Nationalität und Herkunft Orientierungshilfen im Streben nach menschlicher Würde.

„Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!" stellte Goethe der gedankenlos und grausam handelnden Welt entgegen. Aber nicht nur zu seiner Zeit gab es Mächtige und Schmäher, die solchen Anspruch mit Füßen traten; es scheint vielmehr, als würden sie in unserem technophilen Zeitalter übermächtig.

Um so mehr ist es zu bedauern, dass nun kaum ein Jahr im Ausland vergeht, in welchem nicht einige Goethe-Institute zum Leidwesen der betroffenen Länder geschlossen werden. So, als läge den gewählten Vertretern des deutschen Volkes nichts an einer weiteren Erhaltung der humanen Botschafts- und Begegnungsstätten, als deren erster Repräsentant nun einmal Goethe gilt. Sie wären auch keine Politiker, wenn sie für solche kulturellen Abbrüche keine Vorwände und Begründungen hätten. Eine ihrer plausibelsten ist das Geld, und so argumentieren sie, dass sich Deutschland solche finanziellen Aufwendungen aus gebotener Sparsamkeit nicht mehr leisten könne.

Wenn es denn so wäre, gäbe es wohl Grund zur Sorge, aber längst noch keinen, der beunruhigte; denn es tritt hier eine Tendenz zutage, welche darauf abzielt, die Bedeutung Goethes, wie die der
Weimarer Klassik überhaupt, vor aller Welt zu mindern - eine Art verspätete Nachkriegsdemontage der deutschen Kultur, deren Abbau keine Besatzungsmacht der Alliierten so energisch betrieben hat, wie das gegenwärtig der Fall ist. Also nachdem Deutschlands nationale Souveränität und Einheit wieder zugelassen wurde!

Schon 1996 deutete sich anlässlich der Vorbereitungen des zu feiernden Goethejahrs an, wie die Regierung künftig mit dem Weimarer Kulturerbe zu verfahren gedachte. Zunächst einmal machte sie aus der Kultur eine Firma und finanzierte die Gründung einer „Gesellschaft mit beschränkter Haftung". Dieser Kultur-GmbH obliegt es nun auf Kosten von Staatsgeldern, auftragsgemäß mit dem Kulturgut des deutschen Volkes im allgemeinen und mit Goethe im besonderen nach Belieben zu verfahren. Auf diese Weise entledigten sich die politisch Verantwortlichen ganz offiziell der Kulturverantwortung als einen gewichtigen Teils ihres Wählerauftrags. Von nun an war Goethe - und mit ihm die Weimarer Klassik - nicht mehr Sache des Volkes, sondern von Staats wegen Firmensache.

Die Firma steht nun in der Pflicht, in politisch gefälliger Weise, selbstherrlich darüber zu entscheiden, wie Goethes 250. Geburtstag „gewürdigt" wird, wobei eine opportune Umkehrung der Werte das Programm bestimmt. Und dies besagt: das Ansehen der zu ehrenden Persönlichkeit wird im Goethejahr 1999 „feierlich" objektiviert, wenn nicht verlächerlicht.

„Nieder mit Goethe!" prangten in Weimar schon 1996 die GmbH-Plakate in transparentartiger Großaufmachung von den Hauswänden, Bauzäunen und Litfaßsäulen. „Nieder mit Goethe!"- ein Titel zu Hans Magnus Enzensbergers Talk-Show-Klatsch, der mehr ankündigte, als nur die Premiere eines schlechten Theaterstücks.


„Übermalen" lautete denn auch das Kultur-Motto der Weimar-Firma. Also eignete sich Enzensbergers Theatertitel großartig für eine Bilderstürmerei in Form von plakativer Tünche - als Poster, als Aufkleber und als Postkarte: „Nieder mit Goethe!" wohin man sah.

Die programmatisch auflösende Absicht schien so unglaublich, dass man sie als solche zunächst nicht zur Kenntnis nehmen mochte. Seit 1998 aber manifestiert sich das Unglaubliche in dem Programm zum Goethejahr 1999. Es kündigte an und dokumentiert das ganze Ausmaß eines deutschen Kulturskandals.

Hierfür nur ein trauriges Beispiel von vielen: Die „Weimar 1999 - Kulturstadt Europas GmbH", wie sich die Firma inzwischen nennt, hat sich einfallen lassen, Goethes Gartenhaus zu vervielfältigen und nimmt diesem Kulturdenkmal damit seine Einmaligkeit. Ein architektonisches Plagiat ließ man neben dem Gartenhaus errichten und gleich noch eine Miniaturausgabe dazu will man erstellen.

Damit nun die Absicht des Relativierens eines deutschen Kulturdenkmals nicht gleich als Schändlichkeit erkannt werde, begründeten die Kulturprogrammisten ihren heimlichen Anschlag mit dem Vorwand, dass dadurch das Original geschont werde, weil man dann in der Lage sei, den Besuchern des Goethe-Gartenhauses ersatzweise die Besichtigung einer Bauattrappe anzubieten. Seltsam ist nur, dass für solcherlei Rummel-Absurditäten genügend Geld vorhanden ist. Das Argument der Sparsamkeit scheint angesichts dieser Infamie nicht in die Planung zu passen, und der sonst herbeizitierte Denkmalsschutz unterliegt hier wehrlos dem Extrem. Also: „Nieder mit Goethe"?

antikinitiale2.jpg (4138 Byte)  Wilfried Liebchen, Sandberg

 

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antikinitiale2.jpg (4138 Byte)     wimmel.jpg (7655 Byte)     antikinitiale2.jpg (4138 Byte)

Pädagogische Methode einer Dichterin und Lehrerin

 

Der Beruf des Dichter-Lehrers oder lehrenden Dichters hat in Marburg - vor allem in Verbindung mit der lateinischen Sprache - eine ehrwürdige Tradition.

Eobanus Hessus (aus Haina/Halgehausen) und Euricius Cordus (aus Simtshausen, beides Orte bei Marburg) waren europaweit führende neulateinische Dichter ihrer Epoche, der frühen Lutherzeit. Als Lateinlehrer hatten sie manchen Kummer und viel Ungerechtigkeit in deutschen Städten und Schulen zu erdulden, bevor der hessische Landgraf Philipp durch Professorenstellen an der neugegründeten Marburger Universität für sie sorgte.

Auch heute zählt ein bedeutendes neulateinisches Dichtungstalent zu Marburgs Einwohnern. Anna Elissa Radke wurde der lokalen Öffentlichkeit durch einige Verhandlungen am Arbeitsgericht bekannt, wo sie um ihre Position als Lateinlehrerin an einer Marburger (staatlich geförderten) Privatschule zu kämpfen hätte.

Ihr Dichtertum geht bei der sprachlichen Lehre nicht nebenher, sondern gehört zum pädagogischen Konzept, wie besonders in ihrem neuesten Gedichtbuch deutlich wird (Ars Paedagogica, Würzburg 1998, vgl. Andreas Fritschs Besprechung, Forum Classicum 41,1998,123ff. sowie A. E. Radke, Die Sprache lehrt die Schüler, in: F. Maier (Hg.): Latein auf neuen Wegen. Bamberg: Buchner 1999 (Auxilia 44), 66-86).

Es dürfte hilfreich sein, an einem Einzelfall aus diesem Gedichtbuch zu exemplifizieren, auf welchem Sonderweg der Didaktik der lateinische Sprachunterricht (neben der üblichen und von Radke sogar streng ausgeübten Lehre) alternativ gehen kann, und was dabei zu gewinnen ist.

Ich schlage Seite 40 auf. Da findet sich, in kunstvollem horazischen oder: sapphisch-horazischen Versmaß, lateinisch und deutsch, das Gedicht über eine junge Reiterin und ihr Pferd. Der Text hat eine Adresse, einen Vorspanntitel. Er lautet: „An Carolina S., die in der Lateinstunde fehlte, weil ihr Pferd erkrankt war". Das ist der auslösende Tatbestand. Er hat etwas Vertrautes.

Der Leser spürt unmittelbar die damit gegebene schulische Spannung und Frage heraus: „Entschuldigung oder Ausrede?" Und die Überlegung der Lehrerin, die in solchem Falle wohl erwägt, ob sie rügen oder die Sache durchgehen lassen soll. Und umgekehrt von Carolina kann man sich vorstellen, dass sie sich bei dem Entwurf der Entschuldigung gefragt hat, in vorauseilendem Trotz sozusagen: „Bin ich nicht voll im Rechte und müsste eigentlich gelobt werden für meine Fürsorge?" Und: „Geht Fürsorge nicht vor Latein?"

Diese Doppelerwartung trägt in den Zusammenhang hinein. Doch lässt die erste Strophe schon einige Bereitschaft der klugen Lehrerin ahnen, etwas von ihrer schulischen Rechtsposition aufzugeben:

Sag Carolin, du kühne

Reiterin, warum ist dein Pferd jetzt deine größte Sorge?

Warum ziehst du den Stalldienst

jetzt der Dichtung vor, widmest dich jetzt lieber

Pferdebüchern?

Ihre Fragen sind zwar druckvoll und heischend, reichern sich aber, während der ganze Sachverhalt deutlicher wird, mit Verständnis an. Umso mehr, als auch der ,Pferdedienst` seine Bücher, seine eigene literarische Seite hat, im rivalisierenden Sinn freilich.

Doch tritt mit der zweiten Strophe das Verständnis noch mehr heraus. Der Anteil an Vorwurf verflüchtigt sich weiter. Und im Fragen entwickelt die Autorin die Argumente des Mädchens so ein
sichtig fort, als ob es die eigenen wären. Als da sind:

Die Pflicht der jungen Pferdebesitzerin, sich dem Tier als Freund und Mit-Kreatur zu widmen; Ärzte heranzuziehen, um seine Leiden am Huf und insgesamt zu diagnostizieren. Dann wird der Heilungserfolg nicht ausbleiben und die Reiterin wird die Führerin (dux) zur Heilung gewesen sein, so die dritte Strophe. Und verdientermaßen werden Reittier und Besitzerin, wiedervereinigt und in neuer Frische, durch Wald und Felder jagen können.

Nicht nur Insidern wird schon aufgefallen sein, dass wir im kurzen Gedicht so etwas wie eine sanftere Version der Erzählung vom ,Pferdeflüsterer` vor uns haben (obwohl die Dichterin dieses viele Tierfreunde aufwühlende künftige Kultbuch sichtlich nicht gekannt hat).

Es handelt sich dort um die Geschichte eines Reit-Unfalls durch Kollision mit einem gigantischen Lastwagen auf glatter Fahrbahn. Pferd und Reiterin (Schülerin auch sie) erleiden schwerste Verletzungen. Der Schulabschluss wird fraglich: die Familie gerät an den Rand der Zerstörung. Nach der Heilung des fast hoffnungslos verletzten Pferdes (die zugleich ein langwieriges psychotherapeutisches Problem stellt) kommen Mädchen und Pferd in Befreiung und Genesung wieder zusammen.

Das entspricht auch dem Verlauf in unserem Gedicht, wo ein bakchantisches Bewegungserlebnis das Fest der Wiedervereinigung in freier Natur krönt. - Solches Fest hat seinen Wert in sich, und das Gedicht könnte zuende sein. Und die Autorin trägt die versäumte Lateinstunde nicht nach. Vielmehr wird Carolina mit der altitalischen Reiter-Amazone Camilla verglichen und damit in die Welt der Latinität nachdrücklich wieder aufgenommen.

Man meint, jetzt fehle nur noch eine Schlussfolgerung dieser Art: „Also Carolina, lerne Latein, da bist du richtig: Auch bei den Römern gab es weibliche Pferdeleidenschaft." Aber so endet das Gedicht nicht. Denn da übersteigert plötzlich eine ganz andere Pointe den Erwartungshorizont:

Kennst du das Pferd Medusas,

Pegasus, der dich, Carolin, aus dem Parcours davonträgt

bis zu den höchsten Sternen

auf der Dichtung Fittichen und Worten der alten Römer?


Ad C. S.

quae lectioni Latinae non interfuit, quia equus eius morbo quodam affectus erat.

 

Cur, Carolina Amazon,

dic mihi, cur sit tibi equus maxima cura amorque?

cur stabuli laborem

artibus praefers studiis dedita nunc equinis?

 

Esse tuum adiuvare

semper et servare animal quadrupedemque amicum,

et medicos vocare, ut

ungulam claudam inspiciant invalitudinesque?

 

Te duce equus valescet,

te feret cursu rapido per nemora atque campos!

O eques erudita,

forte nutrita es ut equae lacte prius Camilla.

 

 

Est equus et Medusae,

Pegasus, qui te, Carolina, evehet ex arena

pennigeris ad astra

versibus vatum veterum perque latinitatem!

 

An C. S.

die in der Lateinstunde fehlte,

weil ihr Pferd erkrankt war.

 

Sag, Carolin, du kühne

Reiterin, warum ist dein Pferd jetzt deine größte Sorge?

Warum ziehst du den Stalldienst

jetzt der Dichtung vor, widmest dich jetzt lieber

Pferdebüchern?

 

Sagst, daß es deine Pflicht sei,

helfend beizustehn deinem Pferd, Mitkreatur und

Freund auch,

Ärzte zu rufen, daß sie

seine Vorderhand inspiziern, Krankheiten auch behandeln.

 

Du wirst dein Pferd kurieren!

Bald schon wird es dich im Galopp tragen durch Wald

und Felder.

O kleine Amazone,

wie Camilla hast du vielleicht Stutenmilch einst

getrunken!

 

Kennst du das Pferd Medusas,

Pegasus, der dich, Carolin, aus dem Parcous davonträgt

bis zu den höchsten Sternen

auf der Dichtung Fittichen und Worten der alten Römer?

Nur scheinbar steht diese letzte Strophe parallel zur vorletzten. Aber Pegasus ist nicht ein Geschöpf wie Camillas Pferd. Und wenn im gedanklichen Experiment Carolina das geflügelte Dichterpferd beritten macht und so zum Himmel von Poesie und Weltenschau getragen wird, dann ist das kein unverbindliches Angebot aus der Konvention der Dichtungsmetaphorik.

Vielmehr wird alles Schulische überschattet durch den Lebensernst, durch das intellektuelle Risiko, dem sich jeder stellen muss, der sich heute auf das Leben, Sinnen und Singen in den alten Sprachen einlässt. Pegasus ist kein spielerisches Gleichnis für Dichtung. Denn mit seiner makabren Geburt aus dem Halsstumpf der geköpften Medusa (an die der Text erinnert), dann mit dem schrecklichen Trauma vom Siegeskampf und späteren Todessturz seines Reiters Bellerophon, bekommen die peinvoll nervösen Hufschläge des Pferdes, aus welchen Dichterquellen entsprungen sind, eine andere, ungewohnte Wertigkeit.

Es ist kein leichtes, kein unbedingt verlockendes Los, das mit dem Himmelsflug der Dichtung ausgedrückt wird. Pegasus ist ein Schicksalswesen, kein Glückspferd.

Das antike Bild vom ebenso strahlenden wie leidvoll befangenen Götter-Ross ergibt einen zwingenden Abschluss. Es spendet dem gegenwärtigen Vorfall jene zeitenmächtige Transparenz und letztlich heilende Harmonie, die sich aus eigenen, bloß-jetzigem Vermögen nicht mehr einstellt.

Andere Kurzgedichte aus A. E. Radkes ,Pädagogischer Kunst` gehen in anderer Weise - stets liebevoll sorgend, dabei aber fest in der lehrenden Grundhaltung - auf das Wesen und die Probleme der einzelnen Schülerinnen und Schüler ein. Sie haben dabei, wie sich denken lässt, viel Resonanz gefunden. Und das gewiss nicht nur im Gedanken an das eventuelle Weiterleben des eigenen Namens in künftiger literarischer Tradition.

Eine Lehrerin, die ihre Schüler derartig mit dem Lernproblem und dem Altsprachenproblem zugleich in die Fragen der weitesten menschlichen Existenz hereinzunehmen vermag, bietet meines Erachtens ein sehr hohes Maß von dem, was man von Erziehung überhaupt erwarten kann.

antikinitiale2.jpg (4138 Byte)  Walter Wimmel, Marburg

 

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Fliegen im Internet - Graben im Lateinischen

 

I. Fliegen über den Graben - Der Befund

„In den Datenwelten braucht es Intelligenz, Reaktionsfähigkeit, intuitives Vermögen, aber sie integrieren sich nicht zu einer psychischen Gesamtheit, wie es beim Lesen einer spannenden Geschichte der Fall ist. Alle Aufmerksamkeiten und sinnlichen Konzentrationen bewegen sich sprunghaft und unvorhersehbar wie die Spieler selber. (...) Dies alles ist neu. Und ist der Grund, weshalb die Institutionen der Pädagogik, die Kinderpsychologen und die Mitarbeiter in den zahlreichen Beratungsstellen (...) vor diesem Phänomen einer technologisch-medial geprägten Kindheit hilflos verharren - ohne plausible Erklärung für die Faszination der Datenwelten (...)"1

Ja, geben wir es offen zu: Wir sind hilflos. Hilflos gegenüber Schülern, die im Unterricht müde herumhängen, weil sie nächtens durchs Internet surfen, hilflos gegenüber Schülern, für die es höchste Strafe bedeutet, einen Text als Übung mit der eigenen Handschrift statt per Computer abzuschreiben, hilflos gegenüber Schülern, die sich von den faszinierenden Gestalten und bunten Ereignissen der Antike, wenn überhaupt, dann nur noch kurzfristig, aber nicht kontinuierlich über Wochen fesseln lassen, deren rückläufige Fähigkeit und Bereitschaft zu beständiger Beschäftigung mit der auf unerlässlichen Grundlagen aufbauenden Sprache aufgrund massiver Übersetzungsprobleme eine zunehmend längere Verweildauer bei einzelnen Werkabschnitten, Autoren, Gestalten und Ereignissen zur Folge hat.

Schneller ermüdende und sogar abstumpfende Schüler, die nur ungern analysieren und noch weniger gern problematisieren, und zugleich eine längere Verweildauer beim Einzelabschnitt der Lektüre lassen Werbung für Latein bisweilen zu einer derart schwierigen PR-Aktion werden, als gälte es, eine Werbekampagne für die flächendeckende freiwillige Einnahme von Lebertran oder Rizinus im Medium Fernsehen zu konzipieren.

 

II. Faszination Fliegen, Langeweile Graben - Die Analyse

„Computerwelten sind auf eigentümliche Weise der Zeit enthoben und von den Bindungen und Beengungen des Raumes befreit. Sie malen phantastische Welten auf den Monitor, dringen in die Tiefen des Mikrokosmos, befreien sich mit einem Schlag aus ihnen und fliegen hoch hinaus, erzeugen magische Bildbewegungen von jener Grenzenlosigkeit, die wir im Universum vermuten. Grenzenlos, zeitlos, raumlos - und dabei (fast) immer von ungeheurer Geschwindigkeit. Die wirkt wie ein Sog."1

Dädalus und Ikarus, die ihre Zwangsheimat Kreta verlassen wollten, um mit selbstgebastelten Flügeln - den Raum überwindend - in ihre Heimat zurückzukehren, gehören zum Kulturerbe der Menschheit. Sie verkörpern als erste den Wunsch des Menschen, seiner Existenz gesetzte Grenzen zu überschreiten, in der Weite und Höhe, ins Unendliche zu ziehen, in der Entthronung von Raum und Zeit diese zur Belanglosigkeit zu verschmelzen und sich selbst als autonomes Wesen zu setzen. Auch sportlicher Ehrgeiz mag sie getrieben haben, dennoch ist es die Sehnsucht nach dem Vertrauten, die sie zum Wagnis des Unvertrauten drängt.

Dieser Antrieb ist bei den Anhängern heutiger Extremsportarten wohl nicht mehr ausgeprägt, wenn sie den Nervenkitzel und die Selbstüberschreitung suchen. Der Gedanke der Selbstüberschreitung durch Ausbruch aus der als beengend empfundenen Gegenwart des Lebens in der gewohnten Umgebung bleibt freilich prägend. Beständiges Training als Vorbereitung auf den meist kurzen, ungewöhnlichen Moment ist häufig unerlässlich.

Jene körperlichen Voraussetzungen des Außergewöhnlichen und Bahnbrechenden entfallen allerdings beim Surfen in den Computerwelten. Lediglich etwas Computer-Know-how und geschicktes Hantieren mittels Mausklick genügen, sich die Raum und Zeit sprengenden Fluchtburgen auf den Bildschirm zu holen.

Während die Computerwelt aber das Extremerlebnis gefahrlos auf den Bildschirm zaubert, bieten wir - etwas altmodisch-beharrlich - Kommunikation mit der Geschichte, mit prägenden Gestalten aus Politik und Philosophie, mit Menschen des alten Rom, mit Dichtern und Salonlöwen, mit dem Volk und seinen Herrschern.

Allerdings sind die Gestalten sperrig, die Straßen, die ins alte Rom führen, manchmal steinig; wir bieten den Durstigen bei der Rast eher einen Schluck köstlichen reinen Quellwassers an als jene Energiedrinks, die Flügel zu verleihen versprechen. Wir bieten an, das Erdreich umzugraben, wir wollen die Schüler dazu bringen, selbst zur Schaufel zu greifen, anzupacken, auch wenn der Schweiß rinnt.

 

III. Gefahren des Fliegens, Landen im Graben - Die Risikoabschätzung

„Das Bild des Fliegers gilt in der psychoanalytischen Literatur als ein Grundbild des narzißtischen Charakters, des Traums der Vollkommenheit. Er rührt her aus der frühen Mutter-Kind-Symbiose, deren Befriedigungspotential unbegrenzt war, ein leiblich-seelischer Raum, in dem die Ströme der Lust und der triebhaften Befriedigung unbehelligt flossen. (...) Diese Phase muss überwunden, diese heile Welt verlassen werden - damit beginnt das Drama des Kindes bei der Entfaltung seiner Autonomie."1

Wir alle wollen fliegen, Grenzen austesten, Persönlichkeit entwickeln, den Begrenzungen unserer - durchaus auch liebenswerten, gar liebevollen - Umwelt zumindest zeitweise entkommen.

Wer nicht mehr fliegen will, kann nur noch resignativ das Dasein verwalten.

Wer aber zu fliegen sich anschickt, benötigt äußere Aus- und innere Zurüstung.

Zur Ausrüstung gehört realistische Selbsteinschätzung: Der Mensch ist kein Vogel. Wenn er zeitweise fliegen kann, dann nur unter bestimmten Voraussetzungen. Das Material des Gleiters muss wetterfest und strapazierfähig sein. Der Fliegende muss sich zuvor körperliche Fitness erarbeitet haben. Er muss sich über die Beschaffenheit des Fluggebiets und mögliche Landeplätze informiert haben. Er sollte auch mögliche Zwischenstopps einplanen.

Auch zur Zurüstung gehört realistische Selbsteinschätzung: Wieviel kann ich mir zumuten? Lasse ich mich von der Begeisterung des Augenblicks zu lebensgefährlichen Manövern hinreißen? Mit wem sollte ich auch während des Fliegens Kontakt halten? Welche Routen sollte ich angesichts eigener Defizite meiden? Wer dagegen beim Surfen in den Computerwelten den Rausch des Fliegens erlebt, läuft Gefahr, bei allem Gefühl der Intensität dieses rauschhaften Erlebens sich selbst zu vergessen oder aber sich narzißtisch an der virtuellen Allmacht seiner ausgelebten Schaffens- oder Zerstörungsgelüste zu weiden. Die reale Welt um den Computerfetischisten herum zerfällt, ja entfällt seinem Bewusstsein.

Dies wäre an sich nicht bedrohlich, dienen doch auch herkömmliche Werke z. B. der Literatur dem zeitlich begrenzten Eintauchen in eine vom eigenen Leben unterschiedene Welt. Trotzdem stehen sie unserer realen Welt nahe.

Davon ist aufgrund der Fremdheit der erzeugten Welten, der unbarmherzigen Darstellung ihres gläsern-metallischen Seins, ihrer funkelnden Ästhetik der Künstlichkeit, nicht zuletzt aufgrund
ihrer Geschwindigkeit das computersimulierte Universum des Fliegens qualitativ abzuheben. Entsprechend länger hallt dessen Wirkung nach, entsprechend schwerer findet sich der Fliegende in seiner Realität zurecht.

Wird das real Ferne zum medial Nächsten, droht der real Nächste im virtuell verbogenen Bewusstsein zum Fernsten zu werden. Es drohen Verrohung, Unfähigkeit zu qualitativ hochwertigen zwischenmenschlichen Beziehungen, Verabsolutierung des Ichs oder Autismus.

„Natürlich bewegen sich auch die Kinder eines technologischen Zeitalters in einer sozialen Realität, die die alten Werte und Vorschriften braucht, um überhaupt ein gemeinschaftliches Überleben zu sichern. (...) Aber gleichzeitig - und das ist offenbar für Pädagogen und Psychologen, Lehrer und Eltern so schwer zu verstehen und wohl gar nicht zu akzeptieren-, gleichzeitig bewegen sie sich mit einem Teil ihrer psychischen Entwicklung in imaginären Räumen, entfalten dort ihre Vollkommenheitsträume."1

 

IV. Chancen des Grabens, Fliegen durch Graben - Der Ausblick

„Wo die Realität unausweichlich ihre Forderungen an ein Kind stellt - seien es die der Schule, der Familie oder die Regeln der ,peer-group`-, behalten sie immer etwas dem Kind Äußerliches. Sie berühren den Kern des Psychischen nicht oder nur abgeschwächt."1

Da die Realität auch künftig unbezweifelbar ihre Forderungen an das Kind stellen wird, empfiehlt es sich, in einer Entwicklungsphase, in der es besonders bildbar ist, das Realitätsprinzip behutsam heranzutragen.

So lassen sich Defizite in der Sprache durch das Erlernen von Latein als erster Fremdsprache
erkennen und - sofern nicht zu gravierend - noch aufarbeiten.

Die fremde Welt der Römer mit ihrer scheinbar sperrigen Sprache erlaubt in diesem Alter noch die begeisterte Lektüre von Mythen, das Eingehen in die Welt der Senatoren und Kaiser, der Sklaven und Familienväter, der Wagenrennen und Spiele. Die Phantasie bekommt Flügel, ohne dass der Bezug zur Realität verloren ginge, denn die Sprache erlaubt keinen gierigen Reizkonsum und stellt die Welt der Römer bei aller Nähe als eine von uns abgehobene dar.

Und dennoch bleiben die Kinder in der Realität des gemeinsamen Erbes aller Europäer. Sie versinken nicht in die Zeit- und Ortlosigkeit. Sie stehen nicht unter dem unbarmherzigen Diktat medial vorgegebener Geschwindigkeiten.

Die Konfrontation mit der auch abgründigen Realität ist keine real blutspritzende, aber auch keine virtuell verharmlosende.

Die Kinder lernen die Köstlichkeit des verdienten Schluckens reinen Quellwassers kennen, sie schärfen ihre Sinne für den Wert einer wohlverdienten und selbst erarbeiteten Belohnung.

Der Weg zum Natürlichen ist unverstellt, Hindernisse können durch Anstrengung beseitigt werden.

Natürlich sollte auch Latein als Unterrichtsfach die Möglichkeit des Internet, z. B. zu grenzüberschreitenden Unterrichtsprojekten nutzen. Im Sinne der inneren Zurüstung für das Leben und nicht nur der äußeren Ausrüstung mittels eines Zeugnisses, können wir heute erst recht für die Fremdsprache Latein plädieren.

1) Wolfgang Bergmann, Fliegen im Internet, in: Süddeutsche Zeitung. 28./29.3.1998, S. VI (SZ am Wochenende)

antikinitiale2.jpg (4138 Byte)  Josef Zellner, Tegernsee