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Über den Umgang mit Dichterstolz (Horaz, carmen 3,30)
„Er ischt aber auch hochmütig g'wese und hat sich für den gröschte Dichter
g'halte. Aber seine Gedicht' sind arg hochgetrage und nix für d'Landleut." (Bertaux,
226) Das bekommt am Beginn unseres Jahrhunderts ein Besucher des Hölderlinturmes in
Tübingen von jener Frau zu hören, die als Kind die Milch ins Haus brachte.
Und was widerfährt dem Altphilologen, wenn er die seltene Gelegenheit hat, seinen
geliebten Horaz unter die Leute zu bringen? Soll er sich dann hinter den ausnehmend
selbstbewussten Römer und sein carmen 3,30 stellen? Ob nun Hölderlin oder Horaz - der
Milchfrau ist nicht leicht Bescheid zu geben. Wird es Schülern und ihren Eltern
gegenüber wesentlich leichter sein?
Als ich vor einiger Zeit Gelegenheit hatte, junge Erwachsene auf das Kleine Latinum
vorzubereiten, habe ich nicht gezögert, sie (natürlich viel zu früh!?) mit carmen 1,9
und 1,11 bekannt zu machen. Solche Gedichte hatten mir nämlich ein Mangelerlebnis
beschert: Man müsste Latein lernen, um das erst recht genießen zu können! Mit
carmen 3,30 dürfte man es als Vermittler um einiges schwerer haben: es ist nicht nur
„arg hochgetrage", um die Milchfrau zu zitieren; man ist auch noch in der Not,
jenen nicht geringen Anspruch, den Horaz gerade in diesem Gedicht artikuliert (sonst ist
er ja oft liebenswert bescheiden!), erklären oder gar verteidigen zu müssen. Ist er
nicht auch „hochmütig g'wese"?
Es hinge einiges davon ab, den Dichterstolz des Horaz erst einmal in seinem Kontext zu
verstehen, zumal im Kontext der mehr oder weniger traditionellen Formensprache, auf die
sich Horaz bei der Proklamation seines Stolzes bezieht, die auch seinen gebildeten
Zeitgenossen präsent war und an der sie sich zuweilen auch selbst als Dichter versuchten.
So hätte man dann auch eine bessere Ausgangsbasis für eine adäquate Übersetzung des
Gemeinten (in seinem Horatius Travestitus hat übrigens Christian Morgenstern einen
Vorschlag gemacht, mit dem eine Auseinandersetzung durchaus lohnte). Dazu möchten die
folgenden Ausführungen einen kleinen Beitrag leisten: Der geneigte Leser sei eingeladen
zu einem kleinen Streifzug durch die Welt der antiken Epigrammkunst, in der Hoffnung, dass
dieser Streifzug auch für ihn am Ende sich als „Beutezug" entpuppt für eine
vertiefte Interpretation von carmen 3,30!
Seit dem Aufkommen des Buchepigramms in Griechenland am Ende des 4. Jh. v. Chr. waren
das Grabepigramm, wie auch das später zu erörternde Weihepigramm (vgl. Beckby I, 442f.),
nicht selten freigewähltes Thema literarischer Betätigung, ja selbst vom Charakter der
Aufschrift konnte es sich lösen (vgl. Beckby I, 30). Carmen 3,30 kann dementsprechend als
Buchepigramm aufgefasst werden. Beckby beobachtet, dass das Lob der fraglichen Person auf
griechischen Grabepigrammen seit der Zeit nach 450 v. Chr. „viel breiter, intensiver
und rauschender" zum Ausdruck gebracht werden kann (Beckby I,15). Es entsteht eine
eigene Formensprache. Wen wundert es, dass die Epigrammdichter gerade für Dichterkollegen
besonders warme Worte finden, so z. B. Kallimachos für den verstorbenen Herakleitos (A.P.
7,80)?
[...]~ëëJ óO ìÝí ðïõ
îåŠí\ ^Áëéêáñíçóå¯, ôåôñÜðáëáé óðïäéÞ·
á äK ôåáM æþïõóéí ~çäüíåò, Btóéí Ž ðÜíôùí
^ñðáêôLò \Áßäçò ïžê ™ðM ÷åŠñá âáëåŠ.
[...] Nun bist du, / Trauter aus Halikarnass, lange schon irgendwo Staub;
doch deine Lieder, sie leben, die Nachtigallen, und niemals / legt, der alles
entrückt, Hades die Hände auf sie.
(Beckby)
Doch für den reichen Krethon hat ein anderer großer Epigrammdichter, Leonidas von
Tarent (310-240 v. Chr.), nur wohlgewählte Worte des Bedauerns: einst konnte zwar Krethon
dem Gyges Konkurrenz machen, alle priesen ihn glücklich - jetzt ist er nur noch Staub
(A.P. 7,740). Andererseits weiß man leider auch, dass selbst von vielen Musensöhnen kaum
mehr bleibt. Mit der wehmütigen Resignation des Epigonen preist Antipatros von Sidon die
\ÇëáêÜôç und ihre Dichterin (A.P. 7,713):
ÐáõñïåðLò GÇñéííá êáM ïž ðïëýìõèïò ~ïéäáŠò,
~ëë\ fëá÷åí Ìïýóáò ôï¯ôï ôN âáéNí fðïò.
ôïéãÜñôïé ìíÞìçò ïžê gìâñïôåí ïžäK ìåëáßíçò
ÍõêôNò ðN óêéåñB‰ êùëýåôáé ðôÝñõãé,
á ä\ ~íáñßèìçôïé íåáñµí óùñçäNí ~ïéäµí
ìõñéÜäåò ëÞèBç, îåŠíå, ìáñáéíüìåèá.
ëùßôåñïò êýêíïõ ìéêñNò èñüïò gå êïëïéµí
êñùãìNò ™í åœáñéíáŠò êéäíÜìåíïò íåöÝëáéò.
Wenige Verse nur schrieb und wenige Lieder Erinna, / aber dies kleine Gedicht haben
die Musen geweiht.
Darum wird man auch nie ihren Namen vergessen, und niemals / hüllen der dunklen Nacht
schattende Flügel sie ein.
Wir aber heut, Myriaden von neuen Sängern, wir fallen, / Scharen um Scharen, mein
Freund, bald dem Vergessen anheim.
Süßer als Krächzen der Dohlen, von dem im Frühling die Wolken / hallen, ertönt des
Schwans kurzer, bezaubernder Sang. (Beckby)
In den Kommentaren zu Horaz, carmen 2,20 und 3,30, findet man die Nachweise für die
Beliebtheit des Topos von der Unsterblichkeit des Dichters in seinem Werk (vgl. z. B.
Syndikus, I, 480f.). Doch so beliebt es ist, große Dichterkollegen derart zu rühmen, so
vergleichsweise selten geht man das Risiko ein, den Topos auf sich selber anzuwenden und
dann vielleicht doch nur als Dohle zu enden. Sappho hatte derartiges gewagt und Ennius
verfasste für sich sogar einen entsprechenden Grabspruch, den Cicero überliefert (Tusc.
1,15,34 und 1,49,117). Aber wie Horaz seinen Anspruch in carmen 3,30 vorträgt, ist
derart, dass man der Suche nach Vorbildern nicht recht froh wird („Eine so stolze
Selbstrühmung findet sich, soviel ich sehe, bei griechischen Dichtern, soweit uns ihre
Texte erhalten sind, nicht [...]."; Pöschl, 248, zu carmen 3,30) oder dass man es
für notwendig erachtet, den geliebten Dichter ein wenig in Schutz zu nehmen („Der
selbstbewußt vorgetragene Anspruch [...] mag manchen Leser, der den unprätentiösen,
selbstironischen Horaz liebt, befremden."; Syndikus, I, 489, zu carmen 2,20).
Nun hat man längst festgestellt, „dass sich Horaz durch das hellenistische
vielfach fiktive Grabepigramm, das bisweilen wohl ebenfalls als Buchschluß diente, hat
anregen lassen." (Korzeniewski, 32) So haben die ersten beiden Worte von carmen 3,30
Signalwirkung: „exegi monumentum" klingt für den antiken Leser wie eine
Variation des in Grabepigrammen üblichen feci, aedificavi, apsolvi monumentum (vgl.
Nachweise ibid.; vgl. auch Heinze, 382). Das sich selbst zu Lebzeiten bereitete Denkmal,
worauf das „exegi" bei Horaz anspielen dürfte, ist durchaus üblich (vgl. z. B.
CIL I², Nr. 1713; XI 961; A.P. 7, 228. 330. 417-419). Das Pochen auf die eigene Leistung
ist in antiken Grabepigrammen gemeinhin akzeptiert. „Die vorurteilhafte Scheu vor dem
Selbstlob kannte man da [...] nicht." (Pfohl, 27). So zeigen etwa die Grabinschriften
der Scipionen oder die der Claudia (CIL I² 6ff. und 1211) nichts von einem Tabuverbot,
die eigenen Verdienste in der 1. P. Sg. vorzuführen. Dass die Vorfahren und die
Heimatgemeinde auf einen stolz sein können, darf ebenso herausgestellt werden wie die
Tatsache, dass man etwas als erster vollbracht hat (vgl. einige Beispiele bei Korzeniewski
33f. und auch A.P. 9,598.600). Wenn ein Kind oder Erwachsener ohne nennbare Verdienste
stirbt, ist es sogar möglich, den Ruhm der Vorfahren „ersatzweise" anzuführen
- eine Möglichkeit übrigens, die einem Mann wie Horaz gerade nicht zu Gebote steht (vgl.
CIL I², 12; XI, 6334; XIV, 3606). Entsprechende Elogien von Musensöhnen sind jedoch
nicht eben häufig anzutreffen. Man hat aber, neben dem Grabspruch des Ennius, im
griechischen Bereich ein Grabepigramm ausfindig machen können (vgl. Pasquali, 317ff.),
das den eigenen Nachruhm reflektiert, wenn die Verfasserschaft des Leonidas von Tarent
auch nicht unumstritten ist (A.P. 7,715; vgl.
Beckby II, 607; vgl. auch A.P. 7,326 mit A.P. 7,325 und 16,27):
ÐïëëNí ~ð\ \Éôáëßçò êåŠìáé ÷èïíNò fê ôå ÔÜñáíôïò
ðÜôñçò· ôï¯ôï äÝ ìïé ðéêñüôåñïí èáíÜôïõ.
ôïéï¯ôïò ðëáíßùí eâéïò âßïò· ~ëëÜ ìå Ìï¯óáé
fóôåñîáí, ëõãñµí ä\ ~íôM ìåëé÷ñNí f÷ù.
ïjíïìá ä\ ïžê gìõóå Ëåùíßäïõ· ážôÜ ìå äµñá
êçñýóóåé ÌïõóÝùí ðÜíôáò ™ð\ šåëßïõò.
Fern von Italien lieg ich und fern von der Erde der Heimat, / von Tarent - das ist
bittrer mir noch als der Tod.
Ach, solch schweifendes Leben kann Leben nicht heißen. Doch liebten / mich die Musen,
ein Trost, der mir den Kummer versüßt.
Und des Leonidas Name vergeht nicht; die Gaben der Musen / werden mir Herolde sein bis
an das Ende der Zeit." (Beckby)
Die stolze Selbstaussage, nicht nur eine „Dohle" zu sein, ist hier jedoch,
vergleicht man etwa Ennius, durch den Verweis auf die schenkenden Musen gleichsam
gedämpft. Welche Rolle die Muse in carmen 3,30 für die superbia des Horaz spielt,
wird weiter unten zu klären sein.
Epigrammdichter haben Mittel und Wege gefunden, den Topos ,Unsterblichkeit des Dichters
in seinem Werk` noch wirkungsvoller auszugestalten. Man kann z. B. die Wirkung durch eine
Kontrastierung mit dem Schicksal gewöhnlicher Denkmäler erhöhen. So versucht etwa
Tullius Laureas (oder Laurea), ein Freigelassener Ciceros (vgl. Beckby I, 41; Kl. Pauly s.
v. Tullius I. Nr. 15), dem beliebten Nachrufthema „Sappho" neuen Reiz zu geben
(A.P. 7, 17):
ÁœïëéêNí ðáñJ ôýìâïí œþí, îÝíå, ìÞ ìå
èáíï¯óáí
ôJí Ìéôõëçíáßáí fííåð\ ~ïéäïðüëïí·
ôüíäå ãJñ ~íèñþðùí fêáìïí ÷Ýñåò, fñãá äK öùôµí
™ò ôá÷éíLí fññåé ôïéÜäå ëçèåäüíá.
ní äÝ ìå ÌïõóÜùí ™ôÜóBçò ÷Üñéí, wí ~ö\ ŠêÜóôçò
äáßìïíïò eíèïò ™ìB‰ò è‰êá ðáñ\ ™ííåÜäé,
ãíþóåáé, ò \Áßäåù óêüôïí fêöõãïí ïžäÝ ôéò
fóôáé
ô‰ò ëõñéê‰ò Óáðöï¯ò íþíõìïò šÝëéïò.
Gehst du an meinem Grab im aiolischen Lande vorüber, / nenne die Sängerin, Freund,
aus Mytilene nicht tot.
Menschenhände erschufen dies Grab und Denkmal, und solche / Werke der Sterblichen
fliehn rasch der Vergessenheit zu.
Prüfst du mich aber nach dem, was die göttlichen Musen mir gönnten, / die neun
Blumen dem Werk meiner neun Bücher geschenkt,
siehst du, mich traf nicht das Dunkel des Hades: nie kommt eine Stunde, / da man die
Lyrikerin Sappho mit Namen nicht nennt. (Beckby)
Das wird noch eindrucksvoller, wenn man die Zeit als allesverschlingenden Widerpart
auftreten lässt (A.P. 7, 225; vgl. 16,334):
ØÞ÷åé êáM ðÝôñçí Ž ðïëOò ÷ñüíïò ïžäK óéäÞñïõ
öåßäåôáé, ~ëëJ ìéB‰ ðÜíô\ ëÝêåé äñåðÜíBç·
dò êáM ËáÝñôáï ôüä\ šñßïí, b ó÷åäNí ~êô@ò
âáéNí eðï, øõ÷ñµí ëåßâåôáé ™î åôµí.
ïjíïìá ìLí Sñùïò ~åM íÝïí· ïž ãJñ ~ïéäJò
~ìâëýíåéí áœþí, êní ™èÝëBçò, äýíáôáé.
Selbst einen Felsen zernagt die Länge der Zeit, sie verschont auch / nicht das
Eisen und mäht alles im nämlichen Schwung.
So auch das Grab des Laertes, das nur noch vom strömenden Regen / hier, nicht fern vom
Gestad, kühl eine Spende empfängt.
Ewig frisch aber bleibt der Name des Heros: nie breitet, / ob sie auch wollte, die Zeit
Nacht über Dichters Gesang. (Beckby)
Der Dichter - wahrscheinlich Antiphilos von Byzanz, einer der bekannteren
Epigrammspezialisten der Zeit des Augustus (vgl. Beckby I, 42 und II 583; vgl. Kl. Pauly
s. v. Antiphilos 2.) - hat sich möglicherweise ebenso wie Horaz von Formulierungen bei
Simonides und Pindar (vgl. die Nachweise zuletzt bei Syndikus II, 276) inspirieren lassen.
Sein ~åM íÝïí (vgl. auch A.P. 9,522) ist dabei offensichtlich ebenso wie das usque
ego postera crescam laude recens, dum ... des Horaz ein Versuch, die übliche
Formulierung zu variieren. Das allzu abstrakte ~åM hat Horaz durch einen konkreten
Temporalsatz vermieden, ein Kunstgriff, den man etwa auch bei Theognis, Kriton (vgl. die
Nachweise bei Syndikus, II, 277) und Vergil (Aen. 1,607-609 und 9,446ff.; vgl.
Korzeniewski 33) finden kann (zur Formulierung des Horaz vgl. vor allem Fraenkel, 358f.).
Das Werk des Musensohnes lässt sich natürlich nicht nur bezüglich der
Dauerhaftigkeit, sondern auch der Beweglichkeit (Pindar, N. 5,1ff.; vgl. Syndikus, II,
276, Anm. 24), der Schönheit (Isokrates Antid. 7; vgl. Pöschl, 248f.), schließlich der
Größe den Denkmälern aus Stein oder Erz entgegenstellen. Der Bezug auf die Größe ist
in hellenistischen Epigrammen besonders beliebt (vgl. etwa A.P. 7,84 (für Thales); 7,240
(für Alexander den Großen); 7,136 (für Priamos); 7,137 (für Hektor); 7,45-47 (für
Euripides)). Der Epigrammdichter macht sich dabei gleichsam auf die Suche nach einem
Denkmal von angemessener Größe, um den Prominenten zu ehren. Zu Recht erinnert
Korzeniewski bei seiner Behandlung von carmen 3,30 auch an den „hellenistischen
Architekturgeschmack": „Man braucht nur an die hochgezogenen zylindrischen
Grabtürme zu erinnern, das Grab der Caecilia Metella an der Via Appia (67 v. Chr.) und
das der Gens Plautia am Ponte Lucano bei Tivoli (frühe Kaiserzeit)." (Korzeniewski,
31; vgl. weitere Beispiele ibid., Anm.1).
Tullius Geminus, ein epigrammbegeisterter Römer (consul suffectus 64 n. Chr.; vgl. Kl.
Pauly s. v. Tullius II. 2.), zieht bei der Verwendung dieses Topos gewissermaßen das
letzte rhetorisch- theatralische Register, wenn er den toten Prominenten sich
höchstpersönlich (in einer sermocinatio, fictio personae,
ðñïóùðïðïéÀá oder auch åœäùëïðïéÀá , vgl. Lausberg, §§
820-826) beschweren lässt (A.P. 7,73):
\ÁíôM ôÜöïõ ëéôïŠï èKò ^ÅëëÜäá, èKò ä\ ™ðM ôáýôáí
äïýñáôá âáñâáñéê@ò óýìâïëá íáõöèïñßáò
êáM ôýìâCù êñçðŠäá ðåñßãñáöå ÐåñóéêNí GÁñç
êáM ÎÝñîçí· ôïýôïéò èÜðôå ÈåìéóôïêëÝá.
óôÜëá ä\ ^ ÓáëáìMò ™ðéêåßóåôáé fñãá ëÝãïõóá
ô~ìÜ. ôß ìå óìéêñïŠò ôNí ìÝãáí ™íôßèåôå;
Statt dieses kläglichen Grabs nimm Hellas! Wirf Kiele als Sinnbild / für die
Vernichtung der Macht persischer Schiffe darauf!
Mach zum Sockel der Gruft den barbarischen Heersturm und Xerxes! / Dann erhältst du
das Grab, wie es Themistokles ziemt.
Salamis türme als Denkstein, der soll meine Taten berichten! / Sagt, warum macht ihr
das Grab für meine Größe so klein? (Beckby)
Wenn also Horaz betont, sein Dichterwerk gebe ein größeres monumentum ab als
die Pyramiden, so ist das für den antiken Leser jedenfalls nicht abwegig oder schlechthin
anstößig. Eher wird er sich gefragt haben, ob die Nachwelt einen solchen Anspruch
bestätigen werde. Vielleicht wird er auch die kühne Selbstaussage bewundert haben, mit
der der stolze Dichter ein Risiko auf sich nimmt, das angesichts der Pyramiden nicht
gerade gering ist, zumal wenn man folgendes Epigramm hinzunimmt, dessen letzte Zeile an
carmen 1,1,36 erinnert (A.P. 9,710; Verfasser unbekannt):
GÏóóáí ™ð\ ÏžëýìðCù êáM ÐÞëéïí øùèÝíôá
øåõäLò óôïñßçò œ‰óéò ~íåðëÜóáôï·
Ðõñáìßäåò ä\ fôé í¯í Íåéëùßäåò eêñá ìÝôùðá
êýñïõóéí ÷ñõóÝïéò ~óôñÜóé ÐëçéÜäùí.
Dass man den Ossa dereinst und den Pelion auf den Olympos / türmend gestülpt hat,
ist Schwatz, den eine Sage erzählt.
Die Pyramiden jedoch am Nil recken heut noch die Spitzen / bis zu des Siebengestirns
goldenen Sternen empor. (Beckby)
Vergleicht man also carmen 3,30 mit der Formensprache antiker Grabepigramme, so
verliert das Gedicht erheblich von dem Geruch des Außerordentlichen, den es für einen
modernen Leser haben mag, für den Selbstlob einer Tabuverletzung gleichkommt.
Mit diesem Fazit werden allerdings die zweieinhalb Schlusszeilen des Gedichtes samt den
Problemen, die sie aufwerfen, unterschlagen. Ihr Gehalt lässt sich nicht einfach mit
Aussagen in Grabepigrammen parallelisieren (gegen Korzeniewski, 34). Zwar ist die Anrede
an eine Person als dialogisches Element seit dem 5. Jh. v. Chr. in Grabepigrammen
nachweisbar (vgl. Beckby, I,16). Auch findet sich in Grabepigrammen immer wieder der
Bericht über die verdienstvollen Taten und die Beschreibung der Art des Nachruhmes mit
einer Schlussbitte vereint, die sich an die Vorbeigehenden richtet (zwei derartige
Beispiele bei Korzeniewski, 34). Doch nach einem Gebetsanruf als Schlussbitte (vgl. das
Signalwort „volens" und die Parallelen dazu bei Syndikus, II, 280, Anm. 52), der
dem des Horaz vergleichbar wäre, schaut man sich im Bereich der Grabepigramme weitgehend
vergeblich um (christliche Grabepigramme, wie A.P. 15,29, bleiben außer Betracht), mag
A.P. 7,36 immerhin auch als eine Reihe guter Wünsche für Sophokles formuliert sein,
deren letzter lautet: „dass [...] ewig ein Kranz grün dir die Locken umsäumt"
(verfasst von Erykios von Kyzikos, um 40 v. Chr.; vgl. Beckby IV, 758).
Die Nähe der vorangehenden dreizehneinhalb Zeilen zum Grabepigramm ließ Heinze carmen
3,30 als „gleichsam eine Aufschrift für das monumentum" des Dichters
deuten. Doch die Rede von einem „monologisch empfundenen, durch die Anrede an die
Muse nur scheinbar darüber hinausgehobenen" Gedicht (Heinze, 382), lässt Fragen
offen. Numberger geht noch einen Schritt weiter: „Die Ode ist äußerlich der
Melpomene (v.16) gewidmet" (Numberger, 317). Die Rede von „scheinbar" und
„äußerlich" verrät das kaum bewältigte Problem: Ist carmen 3,30 ein
selbstbewusster Monolog, dem am Ende in einer Art Apostrophe eine Musenanrede angehängt
ist, oder hat die Musenanrede größeres Gewicht? Man mag mit Kroll so manche Anrede bzw.
Widmung im Bereich der Oden des Horaz für eher konventionell und ohne Schaden für das
Gedichtganze austauschbar halten, ja für „eine unorganische Zutat, die ebensogut
wegbleiben könnte" (Kroll, 232), die nur dazu da ist, „das Gedicht konkreter
und persönlicher zu machen" (ibid.). Vor der Anwendung einer solchen Erklärung
warnt im Falle von carmen 3,30 jedoch bereits, dass Horaz in seiner Schlussbitte eine -
zumindest im römischen Kontext - „überraschende Erfindung" (Heinze, 385) in
Gestalt des poeta laureatus präsentiert, die noch dazu am Ende des ganzen
Gedichtbuches zu stehen kommt. So hat sich Fraenkel ausdrücklich dagegen verwahrt, die
„Schlußbitte" in carmen 3,30 als „bloße poetische Konvention"
misszuverstehen. Horaz habe empfunden, „daß die Inspiration, die ihn große Dichtung
schreiben ließ, nicht mit Wendungen von gewöhnlichen menschlichen Fertigkeiten erklärt
werden konnte; er war überzeugt, sie komme vom Himmel" (Fraenkel, 362). Aber wie
äußert sich diese Überzeugung in carmen 3,30?
Das Gedicht hat gerade dadurch Anstoß erregen können, dass hier das Pochen auf die
eigene Leistung den Geschenkcharakter überspiele: Die Aufforderung des Dichters an die
Muse, „den Stolz, den ihm der Ruhm seiner Gedichte gewährt, sich anzueignen, ist ein
so seltsamer Gedanke, wie nur möglich" (Mueller, 340f). Mueller zitiert carmen
1,26,9 „nil sine te mei prosunt honores", um zu zeigen, wie Horaz sonst sein
Verhältnis zur Muse beschreibt: Horaz sehe sich dort ganz auf die Muse angewiesen. Auch
das spätere carmen 4,3 hätte Mueller heranziehen können, wo man liest: „totum
muneris hoc tui est" (v. 21; vgl. auch carmen 4,6,29f.). So erscheint die
Aufforderung an die Muse, die „superbia" anzunehmen, „als die grösste
Anmassung. Man erwartet also vielmehr einen Ausdruck wie: zürne meinem durch Verdienste
erworbenen Stolze nicht, und davon wird die Emendation auszugehen haben" (Mueller,
341). Es gibt jedoch einen deutlichen Unterschied zwischen der Art der Ansprache an die
Gottheit in carmen 1,26 (vgl. auch 4,3 und 4,6) und in carmen 3,30. Für den Kontext von
carmen 1,26 stellt Syndikus fest: „Hymnisch sind der feiernde Relativsatz in Vers 6f.
und die Anrede mit dem preisenden Attribut in Vers 9" (Syndikus, I, 255).
Entsprechendes gilt auch von carmen 4,3 und 4,6 (vgl. Syndikus, II, 313 und 347). Carmen
3,30 ist jedoch nicht den Formgesetzen des Hymnus verpflichtet. Was im Hymnus anmaßend
klänge, kann in einem anderen genus, das andere Aspekte wahrgenommener
Wirklichkeit zur Sprache bringt, akzeptiert sein.
Auf jeden Fall ist es Horaz möglich, einerseits zu bekennen „totum muneris hoc
tui est", (carmen 4,3,21), und andererseits (zumal im Gegensatz zum
Gelegenheitsdichterling) die in Schweiß und Mühen entstandene Leistung des Dichters
herauszustellen (vgl. epist. II,1,93ff. 161ff. 221ff.; 2,65ff.; 3 passim). Ob und wie
beide Aspekte in carmen 3,30 präsent sind, ist durchaus umstritten. Symptomatisch dafür
ist die Unsicherheit bei der Deutung der merita in Zeile 15: Ist die Leistung des
Horaz oder der Gnadenerweis der Muse (meritum im Sinne von beneficium, wie
etwa bei Cicero, Catil. 3,15; vgl. dazu ThLL s. v. ,meritum`, Bd. VIII, Sp. 815) gemeint?
In einem Grabepigramm mag man zuerst „meritis meis" zu verstehen geneigt sein,
doch das oben zitierte Epigramm A.P. 7,715 weist wiederum in die andere Richtung.
Aber wie hat man nun die Aufforderung sume superbiam quaesitam meritis in carmen
3,30 zu verstehen, wenn sie sich vom Grabepigramm her nicht begreifen lässt? Hier könnte
nun ein Blick auf die Formensprache antiker Weihepigramme weiterhelfen. Üblicherweise
wird die Weihung als vollzogen protokolliert, z. B. in A.P. 7,53, das den sagenhaften
Dichteragon zum Thema hat:
^Çóßïäïò Ìïýóáéò ^Åëéêùíßóé ôüíä\ ~íÝèçêá
VìíCù íéêÞóáò ™í ×áëêßäé èåŠïí DÏìçñïí.
Ich, der Hesiodos, weihte hier diesen [Dreifuß] des Helikons Musen, / als ich im
Singen zu Chalkis den hehren Homeros besiegte. (Beckby)
Doch es gibt im Bereich der Buchepigramme daneben andere Aussageformen. So kann die
Weihung auch nur durch eine Aufforderung oder Bitte um Annahme (z. B. äÝîï oder
äÝ÷íõóï angesprochen werden (vgl. A.P. 6,12. 19. 23. 40. 55. 77f. 178. 190f. 225.
243. 253. 274. 286. 300. 334), von weiteren möglichen Variationen des Ausdrucks ganz zu
schweigen, die sich der Freiheit hellenistischer Dichter gegenüber traditionellen Mustern
verdankt. In dieser Hinsicht wäre es also möglich, das sume superbiam quaesitam
meritis in carmen 3,30 auf einen Weiheakt zu beziehen.
Was Mueller in carmen 3,30 als anmaßend empfand, ließe sich so im Kontext eines auch
sonst belegbaren Dichterbrauchs verstehen, den vielleicht Hesiod als erster übte (vgl.
Erga vv. 654-59). Mit welcher Intention eine solche Weihe erfolgen kann, spiegelt etwa das
folgende Epigramm (A.P. 6,338; Verfasser: Theokrit von Syrakus):
^ÕìŠí ôï¯ôï, èåáß, êå÷áñéóìÝíïí eíèåôï ðÜóáéò
ôkãáëìá ×åíïêë‰ò, ôï¯ôï ôN ìáñìÜñéíïí,
ìïõóéêüò· ïž÷ ŠôÝñùò ôéò ™ñåŠ. óïößAá ä\
™ðM ôA@äå
áuíïí f÷ùí ÌïõóÝùí ïžê ™ðéëáíèÜíåôáé.
Euch, ihr göttlichen Neun, euch allen hat Xenokles heute
dieses marmorne Werk dankbaren Herzens geweiht,
er, der Musen Genoß. Das bestreitet ihm keiner. Und weil ihm / Ruhm dieses Können
gebracht, denkt auch der Musen er selbst. (Beckby)
In dieser Weise thematisieren die Epigramme immer wieder die Übereignung der im
musischen Agon errungenen Preise oder darauf Bezug nehmender Votivgaben (vgl. A.P. 6,213.
339; 7,53), ganzer Kunstwerke (z. B. eine Statue; A.P. 6,260) oder auch der verwendeten
Instrumente (z. B. ein Barbiton; A.P. 5,201). Dabei wird weder die Tatsache der Begnadung
noch die menschliche Leistung überspielt: der Musensohn, im Genuss der Früchte seines
Könnens, gedenkt der Musen, die ihn zu seinem Können verhalfen. Die Pioniertat des Horaz
(princeps Aeolium carmen ad Italos deduxisse modos) wäre in diesem Kontext etwas,
das nicht nur das große Können des Dichters dokumentiert, sondern auch als eine große
Begnadung erscheint. Das Letztere kann sich in einer Übereignung an die Muse
artikulieren: nimm (meinen) Stolz, weil ich (ihn) durch dein Verdienst erlangt habe! (meritis
könnte prinzipiell auch auf das Prädikat bezogen werden: nimm verdientermaßen; vgl.
das in Weihepigrammen anzutreffende merito, z. B. CIL I² 972; vgl. auch Heinze,
382).
Doch wie steht es mit der bei Horaz unmittelbar folgenden Bitte um den Lorbeerkranz?
Syndikus will die Bitte des Horaz weniger als die Kundgabe einer Begnadung (vgl. Lucr.
1,930 und Properz 3,1,19f.) verstehen, sondern eher als Anerkennung dafür, dass Horaz
„sich wahrhaft als Dichter ausgewiesen hat, daß er den Dichternamen im höchsten
Sinne verdient." (Syndikus, II, 281) Im Hintergrund stehe letztlich der Ehrenkranz
der Pythischen Spiele (vgl. ibid.). Allerdings lässt sich auch um einen solchen
Ehrenkranz wie um eine besondere Gunst bitten (A.P. 6, 313; Bakchylides an Nike):
Êïýñá ÐÜëëáíôïò ðïëõþíõìå, ðüôíéá Íßêá,
ðñüöñùí Êñáííáßùí ìåñüåíôá ÷ïñNí
áœKí ™ðïðôåýïéò, ðïëÝáò ä\ ™í ~èýñìáóé
Ìïõó@í
ÊçßCù ~ìöéôßèåé Âáê÷õëßäBç óôåöÜíïõò.
Schau, du Tochter des Pallas, vielnamige, göttliche Nike, / auf des kranäischen
Volks liebliche Chöre voll Huld
immer hernieder und schlinge dem Keer Bakchylides vielmals / bei dem musischen Spiel
Kränze des Sieges ins Haar. (Beckby)
Eine solche Bitte kann sich im Kontext des Weihepigramms sogar einem do ut des nähern
(A.P. 6,279; Verfasser: Euphorion; 3. Jh. v. Chr.):
Ðñþôáò Žððüô\ fðåîå êáëJò Åjäïîïò ™èåßñáò,
ÖïßâCù ðáéäåßçí kðáóåí ~ãëáÀçí.
~íôM äÝ ï ðëïêáìŠäïò, ^Åêçâüëå, êÜëëïò ™ðåßç
÷áñí‰èåí ~åM êéóóNò ~åîüìåíïò.
Als Eudoxos sein herrliches Haar sich erstmals geschoren, / weihte er Phoibos die
Pracht, die seine Kindheit geschmückt.
Gib ihm anstelle der Locken, Ferntreffer, als Zierde den Efeu, / der seit ewiger Zeit
stets in Acharnai ergrünt. (Beckby)
Eine zum Weiheakt selbst hinzukommende Bitte an eine Gottheit ist, zumindest im
Buchepigramm, überhaupt recht beliebt (vgl. A.P. 6,16. 34. 63. 68. 89. 91. 102. 106. 155
usw.), sei sie nun konkreter oder ganz allgemein auf das eigene Wohlergehen bezogen (vgl.
z. B. A.P. 6,158 [Mehrung der Herde, der Quelle, des Weines]; 6,189 [Schutz im
allgemeinsten Sinne]; 6,137. 138. 280. 346 [Gnade]; 6, 202. 269 [Ruhm]). Es ist ja ganz
menschlich, sich durch ein Geben zu einer Gegenbitte berechtigt zu fühlen, indem man
gleichsam das Eisen schmiedet, solange es noch heiß ist (A.P. 6,13. 17. 42. 75. 80. 99.
105. 118. 154. 182. 187; ausdrückliches do ut des etwa in CIL I² 364; Gelübde
werden nur zuweilen erwähnt, z. B. A.P. 6,41. 146f. 157. 231. 242. 301; vgl. auch CIL I²
972; XIII 6474).
Auch in der folgenden Schlussbitte um einen (weiteren) Siegeskranz ist nicht der
Leistungsaspekt, sondern der Gnadenaspekt (mehr oder weniger mit einem do ut des verbunden)
thematisch. Das Epigramm stammt nach Beckby vermutlich von einem römischen Zeitgenossen
des Horaz, Marcus Argentarius (vgl. Beckby, I,41 und 694; IV, 756). Es bewegt sich ganz in
der gängigen Formensprache des Weihepigramms, wie man sie in der Anthologia Graeca zu
Hunderten finden kann, jedoch rhetorisch angereichert durch eine fêöñáóéò (vgl.
Lausberg §§ 810. 1133) der Weihegegenstände (A.P. 6, 246):
ÊÝíôñá äéùîéêÝëåõèá öéëïññþèùíÜ ôå êçìNí
ôüí ôå ðåñM óôÝñíïéò êüóìïí äïíôïöüñïí
êáM øÞêôñçí Tððùí ™ñõóßôñé÷á ôÞí ô\ ™ðM íþôùí
ìÜóôéãá œïßæïõ ìçôÝñá èáñóáëÝçí
êïœóõÀíçí ôLí œÜâäïí ™ðM ðñïèýñïéóé,
Ðüóåéäïí,
~íèåôü óïé íßêçò ×Üñìïò ~ð\ \ÉóèìéÜäïò.
~ëëJ óý, Êõáíï÷áŠôá, äÝ÷åõ ôÜäå, ôNí äK Ëõêßíïõ
õuá êáM åœò ìåãÜëçí óôÝøïí \ÏëõìðéÜäá.
Schrittefördernde Stacheln, der nüsternliebende Maulkorb, / zähnetragender
Schmuck, Pferden die Zierde der Brust,
dieser Striegel zum Strählen des Fells, eine Peitsche, die kecken / Knall gebärend
dem Pferd über den Rücken sich stürzt,
und diese weidene Gerte: das ist es, Poseidon, was Charmos / dir im Vorflur geweiht, da
er am Isthmos gesiegt.
Du aber, Dunkelgelockter, o nimm es und setz auch zur großen / Olympiade Lykins Sohne
den Kranz auf das Haupt. (Beckby)
Hier wird die göttliche Gunst für die Siege verantwortlich gemacht - in einer
Gebetsbitte verständlich. Damit soll jedoch die Notwendigkeit der Anspannung aller
Kräfte seitens des Menschen sicherlich nicht geleugnet werden.
Jedenfalls lässt sich in den Bitten um den Siegeskranz, wie sie sich im Bereich der
Epigrammkunst finden, ein Vorherrschen des Leistungsaspektes nicht entnehmen. Der
Gnadencharakter steht durchaus im Vordergrund. Und dies dürfte auch im Falle von carmen
3,30 so sein, falls es denn richtig ist, die Schlusszeilen dieses Gedichtes nach
Formensprache und Gehalt zu den Weihepigrammen in Beziehung zu setzen. Auch das von Horaz
verwendete volens wäre dann mehr als bloße Konvention oder gewahrte Etiquette.
Die vorliegende Untersuchung hat carmen 3,30 vorwiegend anhand der Frage nach
erkennbaren Vorbildern behandelt. Unter diesem Blickwinkel erscheint das Dichterwerk
weitgehend als Kombination bereitliegender Formelemente, ohne dass die Leistung des
Dichters dadurch geschmälert würde: „Jede reife Kunst hat eine Fülle Convention
zur Grundlage: insofern sie Sprache ist. Die Convention ist die Bedingung der großen
Kunst, nicht deren Verhinderung [...]." (Nietzsche, 297).
Es wäre allerdings verfehlt, carmen 3,30 nun entsprechend auch einer traditionellen
Gattung um jeden Preis zuordnen zu wollen. Horaz hat jenen Abstand zur literarischen
Tradition, der für einen bedeutenden Teil der hellenistischen Dichtung typisch ist.
Dieser Abstand kann sich verschieden auswirken: Traditionelle Muster fristen bei den
bloßen Nachahmern nur noch „ein Scheindasein" (Kroll, 202) im Bemühen um immer
neue Variation des Altbekannten. Zugleich bemächtigt sich aber die Experimentierlust der
alten Formen und Stoffe, die neue Effekte zu erreichen sucht. Daneben findet sich aber
auch die eindringliche Suche nach Formen, in denen Aspekte wahrgenommener Wirklichkeit zur
Sprache gebracht werden können, und die gerade darum die traditionellen Formen nicht
verachtet, sondern auf ihren Wert für die eigene Gegenwart sorgfältig prüft - etwa so,
wie es Walter Jens über Lessing gesagt hat: Dem ginge es nicht einfach „um Bewahrung
des Gestern, sondern um jene Rettung des Heute, die den Anverwandler keinen Imitator,
sondern einen Künstler gleichen Ranges sein ließ [...]." (Jens, 247)
Die Freiheit gegenüber der Tradition zeigt sich nun u. a. in dem, was etwa Kroll als
„Kreuzung der Gattungen" behandelt hat (ibid.). Ein Beispiel ist Horaz' carmen
3,22, „ein Mittelding zwischen Weihepigramm und Hymnos" (Kroll, 209; vgl.
Fraenkel, 239). Ähnlich steht es mit carmen 3,13 (vgl. Fraenkel, 240f.) und dann auch,
wenn die oben gegebene Deutung richtig ist, mit carmen 3,30, bei dem Grab- und
Weihepigramm Pate gestanden haben.
Anders als viele der Epigramme, die in der Anthologia Graeca versammelt sind, ist
carmen 3,30 kein unverbindliches Spiel, kein Experiment, das beweisen soll, was sich alles
aus traditionellen Formen machen lässt. (Oben war Gelegenheit, auch einige Beispiele
römischer Zeitgenossen des Horaz zu zitieren. Angesichts solcher griechischsprachiger (!)
Epigramme lässt sich die Leistung des Horaz noch um einiges besser ermessen.) Vielmehr
verlangt die Odensammlung I-III als geschlossenes Werk offensichtlich nach einem Epilog
mit Aussagen, wie sie eben traditionellerweise im Grabepigramm einerseits, andererseits
aber im Weihepigramm gemacht zu werden pflegen: der Hinweis an die Mit- und Nachwelt auf
eine wie auch immer besondere und individuelle Lebensleistung einerseits, andererseits der
Ausdruck für die Gewissheit des Dichters, in all' dem von einer göttlichen Macht
begünstigt worden zu sein. In diesem Epilog zeigt sich Horaz einmal mehr als „Anverwandler"
(Jens), und zugleich feiert dieses Gedicht eine große Anverwandlung, die Horaz gelungen
ist, auf ganz eigene Weise. Das zeigt sich zumal dann, wenn man sein Gedicht mit anderen,
zum Teil zeitgenössischen Gedichten vergleicht, wie es hier versucht worden ist.
Für die Ermunterung zur Veröffentlichung und wichtige Hinweise danke ich vor allem
Gerhard Perl.
Bibliographie
Anthologia Graeca, Griechisch - Deutsch, ed. H. Beckby, 2. verb. Aufl., München o. J.
(1. Aufl. 1957/58) [Aussagen des Herausgebers zitiert als: Beckby I, II, III, IV; die
Texte als: A.P. mit Buch und Epigrammnummer].
P. Bertaux, Friedrich Hölderlin, Berlin / Weimar 1987.
E. Fraenkel, Horaz, Darmstadt 1967.
W. Jens, Lessing und die Antike, in: ders., Die Friedensfrau. Ein Lesebuch, Leipzig
1989, S. 245-265.
A. Kiessling / R. Heinze / E. Burck, Q. Horatius Flaccus, Oden und Epoden, 12. Aufl.,
Dublin/Zürich 1966.
D. Korzeniewski, Monumentum regali situ pyramidum altius, in: MNEMOSYNE, ser. IV, vol.
XXI, Leiden 1968, 29-34.
W. Kroll, Studien zum Verständnis der römischen Literatur, Stuttgart 1924.
H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München ²1973.
L. Mueller, Q. Horatius Flaccus, Oden und Epoden, II. Theil: Commentar, St.
Petersburg/Leipzig 1900.
F. Nietzsche, Kritische Studienausgabe, G. Colli u.a. (Hg.), Bd. 13, Berlin u.a. 1969.
K. Numberger, Horaz. Lehrer-Kommentar zu den lyrischen Gedichten, Münster 1972.
G. Pasquali, Orazio lirico, Florenz 1920.
G. Pfohl, Griechische Inschriften, München o. J.
V. Pöschl, Horazische Lyrik. Interpretationen, Heidelberg 1970.
H. P. Syndikus, Die Lyrik des Horaz, Bd. I, 2. Aufl., Darmstadt 1989.
Ders., Die Lyrik des Horaz, Bd. II, Darmstadt 1973.
Reinhard Gruhl,
Berlin
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