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Die Antike am Scheideweg
Zur Zukunft der Klassischen Sprachen in der Schule
Der "andere" Martial - eine
Leseprobe
Heidegger, Seneca, Horaz und die
Zeit
Latein in Deutschland und die Rolle der
indirekten Latinität
Joachim-Friedrich Schulze zum 75.
Geburtstag
Der Verlag C. C. Buchner ehrt seinen Herausgeber Prof. Dr. Klaus
Westphalen
Die Antike am Scheideweg
Zur Zukunft der Klassischen Sprachen in der Schule
In den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als u. a. die Reaktion auf die
diagnostizierte deutsche Bildungskatastrophe" zu einer totalen Erneuerung des
Schulwesens führte (Stichwort: Curriculumreform), kamen die Initiatoren dieser Bewegung
auch aus den Reihen der Altsprachler; sie gaben in Bildungstheorie und Bildungspolitik die
Richtung mit an. Jenes prometheische Feuer ist erloschen. Die ganze Garde der
bildungspolitisch versierten Klassischen
Philologen wird sich bald ganz von ihren Berufsgeschäften zurückgezogen haben. Es klafft
eine Lücke; offensichtlich fehlt es an Nachfolgern, an Fachvertretern, die durch ihre
konzeptionelle Kreativität an der Gestaltung der gymnasialen Bildungsidee mitzuarbeiten
in der Lage sind.
Worin hat dies seinen Grund? Gewiss ist die nachfolgende Generation nicht weniger begabt
und geeignet. Die Klassischen Sprachen können auf einen hervorragenden Lehrernachwuchs
bauen. Fehlen ihm also Mut und Motivation zum fachpolitischen Engagement? Sind die
neuen" Latein- und Griechischlehrer gleichgültig gegenüber dem, was aus ihren
Fächern einmal wird? Sind sie sich der Brüchigkeit des Bodens, auf dem sie im Gymnasium
stehen, zu wenig bewusst? Oder fühlen sie sich einfach überfordert? Die Probleme, die
tagtäglich auf sie eindrängen, sind ja in der Tat enorm: Laufende Reduktion der
Stundenzahlen, immer wieder Änderungen in der Sprachenfolge, Abdrängen der Fächer in
Randpositionen,zunehmender Mangel an Konzentrationsfähigkeit bei den Schülern, oft bis
zur Obsession reichende Begeisterung" der jungen Leute für die
informationstechnischen Medien aller Art, deshalb steigendes Desinteresse für alles nicht
Moderne, also bes. für die toten" Stoffe der Antike, zu geringe Akzeptanz des
altsprachlichen Bildungsangebots in der Öffentlichkeit, ja oft pures Unverständnis
dafür, allmähliches Die Zukunft liegt in unserer Hand" schrieb 1981
Aurelio Peccei, der damalige Präsident des Club of Rome". Seine Prognose zur
Entwicklung der menschlichen Gesellschaft basiert auf der Annahme, dass alles Gelingen von
der kulturellen Gestaltungskraft des Menschen abhängt. Die Zukunft wird ein
kultureller Entwurf sein oder sie wird nicht sein." So Pecceis apodiktisches Urteil.
Kulturell" ist hier im umfassenden Sinne verstanden als Aktivierung des ganzen
schöpferischen Potentials des Menschen, seiner technischen Fähigkeiten nicht weniger als
seiner künstlerischen. Dieser kulturelle Entwurf" scheint gelungen. Die
Lebensgestaltung, im Kleinen wie im Großen, hat enorme Fortschritte gemacht.
Auch die Schule als Teil des Lebens partizipiert daran, zumal das Gymnasium, das sich
zunehmend wieder als niveauorientierte Institution versteht, in der sich die Chance
bietet, Zugang zu finden zu allen Feldern des Wissens undKönnens, im weiteren Sinne des
Verstehens von Welt" (so S. Oelkers: Gymnasiale Bildung für das 21. Jht., 1999). Die
Schule begreift sich verstärkt als Element des kulturellen Entwurfs der
Zukunft". Bildung, Forschung, Innovation: Von dieser Begriffstriade wird unsere
Zukunft maßgeblich bestimmt sein, ob wir das wollen oder nicht." So der Präsident
der
Max-Planck-Gesellschaft, Hubert Markl (1998).
Haben die schulischen Vertreter der Antike diesen Trend wahrgenommen? Ist ihnen vielleicht
gar die Möglichkeit, Zukunft mitzugestalten, aus den Händen geglitten? Hat das
mühselige Tagesgeschäft der Sprachlehre und des Übersetzungstrainings mit den Schülern
ihnen am Ende den Blick verstellt für die großen Zusammenhänge der gesellschaftlichen
Entwicklung, die im ausgehenden Jahrtausend überall nachhaltig reflektiert werden. Der
Eindruck, dass es so ist, drängt sich zumindest auf; denn es rührt sich nichts oder
wenig in der klassisch philologischen Szene, das von einer engagierten und kompetenten
Teilhabe am Zeitdialog über die Bildung für die Zukunft" zeugen könnte.
Wegbrechen der Stützen humanistischer Bildung in den administrativen Institutionen,
überhaupt in der Öffentlichkeit, weitere Erosion der Anforderung von
Latein-/Griechischkenntnissen als Voraussetzung für universitäre Studiengänge (zuletzt:
Mit dem Latein am Ende", SZ Juli 1999), mangelnde Information über das
Leistungsangebot der Klassischen Sprachen in den öffentlichen Medien usw. Wer will, wer
kann, wer soll heute den immer schwerer werdenden Sisyphus-Felsbrocken den Philologenberg
hinaufwälzen? Nie ist der Rechtfertigungsdruck wohl stärker, nie die Legitimationsarbeit
schwieriger gewesen.
Und doch gibt es ohne engagierte Fachpolitik keine Zukunft der Antike. Sie ist der
wesentliche Teil der Fachdidaktik. Es genügt nicht, den friedlichen" Teil der
altsprachlichen Vergangenheit wissenschaftlich aufzuarbeiten. Didaktik ist vor allem
gegenwartsbezogen und zukunftsorientiert. Sie verlangt aktuelle Überzeugungsarbeit.
Deshalb ist eine Beschränkung auf bloße Methodendiskussion, wie sie im
Altsprachlichen Unterricht", dem einzigen Fachperiodikum, in letzter Zeit
praktiziert
wird, ungenügend, geradezu als Flucht vor der fachpolitischen Verantwortung zu bewerten.
Die mit aller Entschiedenheit in der öffentlichen Gesellschaft zu diskutierende Frage
muss sein, ob humanistische Bildung heute - an der Wende der Zeiten - noch einen Sinn
macht. Ist sie wirklich zukunftsrelevant? Deshalb sollte auch die Zeitschrift, die den
Namen der Schulgattung trägt, in der sich die Bildungskräfte der Antike entfalten, das
Gymnasium", den zweiten Teil ihres Profils als Zeitschrift für Kultur
der Antike und Humanistische Bildung" noch sehr viel stärker betonen; sie zeigt sich
in letzter Zeit - wohl mangels einschlägiger Beiträge - auffallend introvertiert.
Der Einstieg der Altsprachler in die Neue Welt" der informationstechnischen
Medien ist gewiss keine Ersatzbefriedigung; er ist dringend geboten; die Klassischen
Sprachen müssen sich hier als integrationsfähig erweisen; womöglich wird dadurch der
Unterricht attraktiver und wirkungsvoller. Latein per Mausklick - Langweiliger
Unterricht wird multimedialaufgemöbelt" (so eine kürzliche Zeitungsnotiz).
Die neue, vierte Kulturtechnik ist auch in Latein und Griechisch einzusetzen, zu fördern
und zu üben _ allein schon um Vorurteilen entgegenzuarbeiten. Doch das zukunftssichere
Heil kommt von dort nicht; man sollte sich hier nicht täuschen. Computer und Internet
machen den Unterricht gewiss variabler; sie lassen die Schüler von der Oberfläche
der Informationsflut in die Tiefe tauchen"; es kommt auch mehr Wissen über die
Antike in geballter Form" unters Volk. Aber den Sinn Klassischer Studien machen
diese Medien einer immer skeptischer werdenden Öffentlichkeit gegenüber keineswegs
plausibler; ihretwegen werden nicht mehr Schülerinnen und Schüler in den Bänken sitzen.
Gefordert ist die harte Auseinandersetzung in den Bildungsgremien innerhalb und außerhalb
der Schule; dazu bedarf es Mut, Durchsetzungsvermögen und Kompetenz auf Seiten der
Fachvertreter. Die Zukunft der Fächer liegt ausschließlich in der Hand der Klassischen
Philologen. Daher der Appell an die junge Generation, sich Kenntnisse in Bildungstheorie,
Gymnasialpädagogik, in den pädagogischen Bezugsdisziplinen, in Lehrplanforschung und
-gestaltung u. ä. anzueignen sowie allmählich durch den Blick über die Fachgrenzen
hinaus ein Verständnis für die großen Zusammenhänge zwischen Politik,
Gesellschaft, Wissenschaft und Schule zu gewinnen. Der Altsprachler muss in der
Bildungsdiskussion präsent bleiben. Das Angebot der Antike hat ohne Zweifel Zukunft,
seine Chancen werden eher größer angesichts der Herausforderungen der Zeit (etwa: Suche
nach einer europäischen Identität, humanistische Kompensation des technologischen
Totalitätsanspruchs u. a. m.). Nur muss dieses Angebot mit persuasiver Strategie der Welt
vorgestellt werden - offensiv und ostentativ.
Natürlich sollten für diese Aufgabe schon in der Universitätsausbildung die Grundlagen
gelegt werden. Doch hier herrscht weithin Fehlanzeige. Die Fachdidaktik-Ausbildung der
Latein- und Griechischlehrer ist - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - ein Skandalon
ersten Ranges. Die Institute lassen sie fast überall auf Sparflamme brennen (in Form von
einigen schulpraktischen Übungen), als ob die philologia perennis der Universität von
sich aus auch in der Schule eine Existenz für alle Ewigkeit zugebilligt bekäme. Man
sollte ja nicht die bisherigen Erfolge als Beweis dafür anführen.
Was in den Fächern Englisch, Französisch, Mathematik, Physik, Religion, Musik usw. voll
ausgebaute
Fachdidaktik-Lehrstühle erarbeiteten, wurde in den Jahren 1960-2000 größtenteils von
den Amateuren" der Latein- und Griechischdidaktik geleistet; sie mussten es
tun, um ihre Fächer in den Kontext der allgemeinpädagogischen Bezugswissenschaften zu
integrieren, sie modern zu gestalten und für sie einen wissenschaftlich abgesicherten
Begründungszusammenhang zu schaffen. Fachdidaktik hat neben der Lehre auch schwierige
Forschungsaufgaben. Nun aber steht zu erwarten, dass der Konkurrenznotstand nicht mehr von
Seiten der Schule zu beseitigen ist. Die Universität muss sich
in die Pflicht nehmen lassen, sofern sie an einer Lehrerausbildung weiterhin interessiert
ist und sich nicht mit dem Status von esoterischen Disziplinen begnügen will, für die
schwierigen und mit Sicherheit am schwersten legitimierbaren Fächer des Gymnasiums die
fachdidaktische Kerrnerarbeit entweder selbst mitzuübernehmen oder dafür kompetente
Fachleute einzustellen. So viel ist jetzt schon sicher: Die Fachwissenschaft wird - allein
schon wegen ihrer fachbedingten
Rückwärtsgewandtheit - die sich immer höher auftürmende Mauer der Antike-Feindlichkeit
allein nicht zu durchbrechen in der Lage sein. Da hierzu aber in organisierter Form kein
fachdidaktischer Nachwuchs herangebildet werden konnte, liegt das Dilemma der Klassischen
Bildungsfächer offen zutage. Die Folgerung: In der Problematik der Fachdidaktik besteht
auf jeden Fall zwischen Universität und Schule ein dringender Diskussionsbedarf.
1983 hat Eckhard Lefèvre in seiner Analyse Die Zukunft der Antike" (Freiburg)
im Blick auf die Schule festgestellt, daß der Vertreter der Latinistik in eine
rosigere Zukunft schauen kann als der Vertreter der Gräzistik". Seine Prognose hat
sich in etwa bestätigt; auch die Relation zwischen den beiden Fächern Latein und
Griechisch ist geblieben. Doch ist die Situation des altsprachlichen Unterrichts heute
zweifellos sehr viel prekärer als damals. Ob die Klassischen Sprachen und ihre
Literaturen im kommenden Jahrhundert bildungswirksam bleiben, ob Humanistische
Bildung weiterhin ein Angebot des Gymnasiums sein wird, ist völlig ungewiss; zu rasch und
zu grundstürzend ändern sich die schulischen Rahmenbedingungen. Blauäugiger Optimismus
ist fehl am Platze.
Die Alte Welt droht aus der Erinnerung der Menschen zu verschwinden. Die Antike steht am
Scheideweg, entweder sie driftet ab oder sie setzt sich durch. Das eine, wenn man die
Dinge sorglos treiben lässt, das andere, wenn alle Kräfte dafür mobilisiert werden.
Herakles, das antike Modell in der gewählten Metapher, hat sich bekanntlich nicht für
den bequemen Weg entschieden; als jugendlicher Kämpfer hat er den harten Weg gewählt.
Der antike Held sollte Chiffre sein für den
Vertreter der Antike auf jenem Kampffeld, wo über Schule und Bildung der Zukunft
entschieden wird.
Friedrich Maier
Der "andere" Martial - eine Leseprobe
Man kann die 1557 Gedichte des Epigrammatikers wie einen
Gesellschaftsroman in Aphorismen lesen; Mosaiksteinchen gleich fügen sie sich fast von
selbst zu einem facettenreichen Gesamtbild zusammen, in das die Reaktionen des Dichters
auf seine Zeit und auf einen ungemein voraussetzungsreichen persönlichen, literarischen
und gesellschaftlichen Hintergrund eingegangen sind. Die thematische Vielfalt in ihrer
Mischung von Fiktionalem und Realem, von Preziösem und Banalem, von Empfindsamem und
Obszönem, von Witzigem und Geschmacklosem, von Tiefsinnigem und Leichtfertigem, all das
wirkt auf uns heute irgendwie ,postmodern` aktuell. In ihrer formalen Vollkommenheit
gleichen Martials Epigramme Monaden: Sie haben keine Fenster, und sie lassen auch
niemanden ohne weiteres hinein; und doch gestatten sie bisweilen einen Blick hinter die
vielfältigen Masken und Maskeraden des Dichters und lassen einen empfindsamen und
nachdenklichen Menschen
erahnen, der nicht nur ein Meister der Entlarvung und der Satire ist, sondern auch der
praktischen Lebensweisheit - und ein Mensch auf der Suche nach dem gelingenden Leben.
In meiner kleinen Martial-Präsentation stelle ich zehn Gedichte aus verschiedenen
Büchern vor.1 Die Auswahl ist nicht repräsentativ, doch werden darin einige von den
Themen und Lebenshaltungen angesprochen, die für Martials Epigrammatik charakteristisch
sind: Freundschaft, Todesgewissheit, Literaturkritik, Heimatliebe, seine Fähigkeit zu
detailgenauer Beschreibung und zur Ironisierung von Situationen. Ich meine, es ist an der
Zeit, Martial im Kontext der Schulautoren den Platz einzuräumen, der ihm als einem der
Großen der lateinischen Literatur zukommt. Die derzeit weltweit einsetzende
Martial-Renaissance und -Rezeption gibt dafür deutliche Signale.2
1. Memento mori (II 59)
Mica vocor: quid sim cernis, cenatio parva:
ex me Caesareum prospicis ecce tholum.
frange toros, pete vina, rosas cape, tinguere nardo:
ipse iubet mortis te meminisse deus.
Kleiner Bissen" nennt man mich; was ich bin, siehst du: ein kleiner Raum zum
Speisen. / Von mir aus blickst du, schau nur, auf das Mausoleum der Caesaren. / Lass dich
in die Polster fallen, bestelle Weine, greif nach den Rosen, beträufle dich mit
Nardenöl! / Der Gott selbst fordert dich auf: Denk an den Tod!
Die bescheidene (cenatio parva) ,Imbissstube` bildet zu dem Rundbau (tholus: v. 2) des
Mausoleum Augusti auf dem Marsfeld einen starken und bewussten Kontrast; Wein, Rosen und
Nardenöl sind Ingredienzien eines typischen Gelages; die Pointe ist die gleiche wie V
64,5-6: Zu leben mahnen uns die Mausoleen ganz in der Nähe, da sie uns belehren,
dass selbst Götter sterben können." Der epikureisch bescheidene Lebensgenuss-Moment
in der Imbissstube resultiert aus der
Todesgewissheit, die sich - eine provokante Nuance - gerade im Blick auf die ,sterblichen
Götter` im Kaiserpalast - als unabwendbar erweist.3
2. Der Landsitz des Julius Martialis (IV 64)
Iuli iugera pauca Martialis
hortis Hesperidum beatiora
longo Ianiculi iugo recumbunt:
lati collibus eminent recessus
5 et planus modico tumore vertex
caelo perfruitur sereniore
et curvas nebula tegente valles
solus luce nitet peculiari;
puris leniter admoventur astris
10 celsae culmina delicata villae
hinc septem dominos videre montis
et totam licet aestimare Romam,
Albanos quoque Tusculosque colles
et quodcumque iacet sub urbe frigus,
15 Fidenas veteres brevesque Rubras,
et quod virgineo cruore gaudet
Annae pomiferum nemus Perennae
illinc Flaminiae Salariaeque
gestator patet essedo tacente,
20 ne blando rota sit molesta somno,
quem nec rumpere nauticum celeuma
nec clamor valet helciariorum,
cum sit tam prope Mulvius sacrumque
lapsae per Tiberim volent carinae.
25 hoc rus, seu potius domus vocanda est,
commendat dominus: tuam putabis,
tam non invida tamque liberalis,
tam comi patet hospitalitate:
credas Alcinoi pios Penates
30 aut facti modo divitis Molorchi
vos nunc omnia parva qui putatis,
centeno gelidum ligone Tibur
vel Praeneste domate pendulamque
uni dedite Setiam colono,
35 dum me iudice praeferantur istis
Iuli iugera pauca Martialis.
Die wenigen Morgen des Julius Martialis, / prächtiger noch als die Gärten der
Hesperiden, / liegen am langgestreckten Berghang des Janiculum. / Weite Refugien erheben
sich auf den Hügeln, /5/ und der flache Gipfel mit seiner geringen Erhöhung / genießt
ein besonders heiteres Himmelsblau: / Während der Nebel die Talmulden einhüllt, /
leuchtet jener allein in ungewöhnlichem Lichte. / Zu den klaren Sternen steigt sanft /10/
der reizende Giebel des hochragenden Landhauses empor. / Von der einen Seite kann man die
sieben beherrschenden Hügel sehen / und ganz Rom würdigen, / desgleichen die
Albaner- und Tuskerberge / und alle kühlen Orte in der Umgebung der Stadt: /15/ das alte
Fidenae und das kleine Rubrae / und den obstreichen Hain der Anna Perenna, / der sich am
Jungfrauenblut erfreut. / Von der anderen Seite ist auf der Via Flaminia und der Salaria /
der Reisende zwar zu sehen, doch ohne dass man den Wagen hört, /20/ so stört kein Rad
den sanften Schlaf (der Hausbewohner); / den vermögen auch keine Ruderkommandos oder Rufe
von Treidlern zu unterbrechen, / obwohl die Mulvische Brücke so nahe ist und durch den
heiligen / Tiber die Schiffskiele schnell dahingleiten. /25/ Diesen Landsitz, den man
besser ein Palais nennen sollte, / macht sein Herr empfehlenswert. Du wirst ihn für
deinen eigenen halten: / so großzügig, so einladend, / mit so liebenswerter Gastlichkeit
steht er offen. / Du fühlst dich wie in dem gastfreundlichen Heim des Alkinoos /30/ oder
des Molorchus, kurz nach dem er reich geworden ist. / Ihr aber, die ihr das alles jetzt
für unansehnlich haltet, / bearbeitet nur mit hundert Hacken das eiskalte Tibur / oder
Praeneste, und übergebt die Hänge / von Setia an einen einzigen Pächter, /35/ wo doch -
so mein Urteil - all dem vorzuziehen sind / die wenigen Morgen des Julius Martials.
Von 4,64, einem der schönsten, aber auch kompliziertesten Gedichte Martials, kann hier
nicht mehr als ein Eindruck vermittelt werden; ich begnüge mich mit einigen Hinweisen.
Der Adressat des Gedichtes, Julius Martialis, ist einer der engsten Freunde des Dichters;
ihm ist u. a. das Gedicht 1,15 gewidmet, eine Mahnung an den Freund, das Leben nicht zu
verschieben, sondern heute schon zu leben: vive hodie! Wir begegnen ihm nachher wieder als
dem Besitzer einer Privatbibliothek, in der auch unser Dichter seinen Platz finden
möchte.
Die v. 4 genannten recessus sind wohl als loca amoena gestaltete stille Winkel oder
Plauschecken, Orte der Zurückgezogenheit, Gartenpavillons o. ä.
Die altrömische Frühlingsgöttin Anna Perenna v. 16-17 wurde mit einem ausgelassenen
Frauenfest gefeiert; virgineo cruore v. 16 ist nicht sicher gedeutet: Menarche?
Deflorationsblut? - Bei dem Tagelöhner Molorchus v. 30 kehrte Herkules auf dem Weg zum
Nemeischen Löwen ein; Tibur v. 32 wurde wegen seines kühlen Klimas, Praeneste v. 33
wegen seiner Schönheit, Setia v. 34 wegen des Weinbaus geschätzt.
Mit vos nunc v. 31 wird die ,Peripetie` eingeleitet, das belastende Großgrundbesitzertum
den stadtnahen pauca iugera gegenübergestellt - ein Bekenntnis nicht nur zu dem
gastlichen und der Muße zugewandten Freund, sondern auch zu einer epikureischen
Lebensweise, die sich absetzt von den strapaziösen Allüren reicher Grundherren.
Stadtnah, den Menschen zugewandt, überschaubar, frei von Stress und von Sorgen, ein
mythennahes Gartenparadies, zwischen König und Kärrner, Alkinoos und Molorchus, plaziert
- so stellt sich der Dichter eine gelingende Lebensform vor.
3. Othos Größe im Tod (VI 32)
Cum dubitaret adhuc belli civilis Enyo
forsitan et posset vincere mollis Otho,
damnavit multo staturum sanguine Martem
et fodit certa pectora tota manu.
sit Cato, dum vivit, sane vel Caesare maior:
dum moritur, numquid maior Othone fuit?
Als die Furie des Bürgerkrieges noch unschlüssig war / und der weichliche Otho wohl noch
hätte siegen können, / da verwarf er den Krieg, der noch viel Blut kosten würde, / und
durchbohrte mit sicherer Hand tief seine Brust. / Zugegeben, Cato war vielleicht, solange
er lebte, größer sogar noch als Caesar: / Doch als er starb, war er da etwa größer als
Otho?
Zur Situation: Kaiser Otho hatte im Jahr 69, obwohl seine militärische Lage keineswegs
aussichtslos war, Selbstmord begangen, statt den Bürgerkrieg gegen die Truppen des
Vitellius fortzusetzen; der jüngere Cato, entschiedener Gegner Caesars, hatte sich nach
dem Untergang der Republik im Jahr 48 in der Nähe von Karthago umgebracht.
Selber sterben, als Appell an das Leben, statt andere für sich sterben zu lassen, darin
zeigt Otho eine Größe, die über den klassischen Selbstmord als politische Aktion
hinausgeht, denn Otho starb nicht für ein Prinzip und auch nicht aus Protest gegen einen
historischen Wandel, vielmehr wählte er den eigenen Tod, um das Leben anderer zu schonen.
Martials entschiedener Appell an das Leben findet im Sterben Othos um des Lebens willen
eine paradoxe Steigerung.
4. Die Bibliothek des Julius Martialis (VII 17)
Ruris bibliotheca delicati,
vicinam videt unde lector urbem,
inter carmina sanctiora si quis
lascivae fuerit locus Thaliae,
5 hos nido licet inseras vel imo,
septem quos tibi misimus libellos
auctoris calamo sui notatos:
haec illis pretium facit litura.
at tu munere delicata parvo
10 quae cantaberis orbe nota toto,
pignus pectoris hoc mei tuere,
Iuli bibliotheca Martialis.
Bibliothek des reizenden Landguts, / von wo aus der Leser auf die nahe Hauptstadt blickt:
/ falls unter den seriöseren Dichtungen / noch Platz ist für meine leichtfertige Thalia,
/ dann magst du in einer Nische, und sei's auch im untersten Fache, /5/ die sieben
Büchlein einreihen, die ich dir schickte, / nachdem sie vom Schreibrohr ihres Verfassers
verbessert sind: / Diese Korrektur macht ihren Wert aus. / Du aber, die mein kleines
Geschenk als reizend /10/ besingen und in der ganzen Welt bekannt machen wird, / bewahre
dies Unterpfand meiner herzlichen Zuneigung auf, / Bibliothek des Julius Martialis!
Angeredet wird die Bibliothek des Julius Martialis, dieses engsten Freundes unseres
Dichters, der Ort ist wiederum das IV 64 gerühmte Landgut auf dem Janiculum.
Die von Schreibsklaven angefertigten Exemplare wiesen viele Fehler auf, die vom Autor
selbst vorgenommenen Verbesserungen (v. 7) verliehen daher einem Buch einen höheren
Authentizitätswert.
Freundschaft kann nur unter gleichwertigen Partnern bestehen, Gegenseitigkeit im Geben und
Nehmen ist dafür unerlässlich, und so entspricht die Bitte, den sieben Büchern ein
Plätzchen zu reservieren, dem Anspruch, mit diesem Dedikationsgedicht eben diese
Bibliothek in der ganzen Welt bekannt zu machen: orbe nota toto, eine Wendung, die fast
wörtlich wiederkehrt in dem stolzen und programmatischen Bekentnis I 1:
Hic est quem legis ille, quem requiris,
toto notus in orbe Martialis
argutis epigrammaton libellis.
Einen feinen Zug sehe ich darin, dass die Bibliothek es ist, die angeredet wird, dass ihr,
und nicht unmittelbar ihrem Besitzer, das Widmungsgedicht zugedacht ist - ein schönes und
diskretes Zeichen der Freundschaft unter Gleichgesinnten, bei denen Geben und Nehmen so
zwanglos wie unbefangen erfolgen können, weil jede Seite sich ihres Wertes bewusst ist.
5. An einen Kritiker, der dreißig Epigramme pro Buch für schlecht
hält (VII 81)
,Triginta toto mala sunt epigrammata libro.`
si totidem bona sunt, Lause, bonus liber est.
Das epigrammatische Ich verfügt über eine realistische Selbsteinschätzung: In VII 90
begegnet es dem Vorwurf eines Kritikers, das Buch sei qualitativ ungleich, mit der
Feststellung, gleichmäßig sei nur ein Buch, das schlecht ist, wer ihm also
Ungleichmäßigkeit vorwerfe, mache ihm stillschweigend ein Kompliment. Wenn der Dichter
nun darauf insistiert, dass 30 gute Gedichte bereits ein gutes Buch (das ja
durchschnittlich 90 - 100 Epigramme enthält) ausmachen, dann ist der Vorwurf:
dreißig davon sind schlecht, ein ausgesprochenes Kompliment, weil doppelt so viele
Gedichte gut sind, wie der Dichter für sich selbst annimmt. So schlägt man einem
Kritiker das Argument aus der Hand und macht, ohne sich ausdrücklich zu loben, ein
Eigenlob daraus.
6. Das geschenkte Gütchen (XI 18)
Donasti, Lupe, rus sub urbe nobis;
sed rus est mihi maius in fenestra.
rus hoc dicere, rus potes vocare?
in quo ruta facit nemus Dianae,
5 argutae tegit ala quod cicadae,
quod formica die comedit uno,
clusae cui folium rosae corona est;
in quo non magis invenitur herba
quam Cosmi folium piperve crudum;
10 in quo nec cucumis iacere rectus
nec serpens habitare tota possit.
urucam male pascit hortus unam,
consumpto moritur culix salicto,
et talpa est mihi fossor atque arator.
15 non boletus hiare, non mariscae
ridere aut violae patere possunt.
finis mus populatur et colono
tamquam sus Calydonius timetur,
et sublata volantis ungue Procnes
20 in nido seges est hirundinino;
et cum stet sine falce mentulaque,
non est dimidio locus Priapo.
vix implet cocleam peracta messis,
et mustum nuce condimus picata.
25 errasti, Lupe, littera sed una:
nam quo tempore praedium dedisti,
mallem tu mihi prandium dedisses.
Ein Landgut am Stadtrand hast du mir geschenkt, Lupus, / doch ein größeres Landgut habe
ich vor meinem Fenster. / Kannst du Landgut dazu sagen, Landgut nennen, / worin eine Raute
den Hain Dianas darstellt, /5/ das der Flügel einer zirpenden Zikade zudeckt, / das eine
Ameise an einem einzigen Tag abfressen kann, / dem das Blatt einer geschlossenen Rose eine
Girlande ist? / Worin man nicht mehr an Kräutern findet / als für Cosmus ein Blatt oder
grünen Pfeffer, /10/ worin weder eine Gurke gerade liegen / noch eine Schlange in voller
Länge hausen könnte. / Eine einzige Kohlraupe nährt der Garten
kaum, / eine Mücke stirbt, wenn sie den Weidenzweig verzehrt, / und der Maulwurf ist mir
Erdarbeiter und Pflüger. /15/ Nicht kann ein Pilz sich öffnen dort, / nicht können
Feigen prangen oder Veilchen sich entfalten. / Eine Maus verheert mein Gelände, und der
Pächter / fürchtet sie wie den Kalydonischen Eber; / von Proknes Kralle im Flug
fortgetragen, /20/ ist die Saat im Schwalbennest; / und ob er auch ohne Sichel und Schwanz
dasteht, / kein Platz ist mehr für einen halben Priap. /
Kaum füllt ein Schneckenhaus die eingebrachte Ernte, / und den Most bringe ich in einer
verpichten Nussschale unter. /25/ Du hast dich geirrt, Lupus, doch nur in einer Silbe: /
denn als du mir damals das Grundstück gabst, / hättest du mir lieber ein Frühstück
geben sollen.
Das Landgut am Stadtrand ist kaum identisch mit dem Nomentanum Martials, sondern wohl
poetische Fiktion, deren Witz in der Kaskade von Bildern grotesker Untertreibung besteht.
Cosmus (v. 9) ist der stadtbekannte Parfüm- und Essenzenhändler; köstlich die
Vorstellung von der Maus, die maßstabsgetreu als mythischer Eber aufftritt; Schlusspointe
ist das Wortspiel praedium / prandium, womit der irreale Wert des Grundstückes nicht mehr
weiter minimiert werden kann: Es ist nicht
einmal eine Mahlzeit wert.
7. Zufriedenheit in meinem kleinen spanischen Königreich (XII 31)
Hoc nemus, hi fontes, haec textilis umbra supini
palmitis, hoc riguae ductile flumen aquae,
prataque nec bifero cessura rosaria Paesto,
quodque viret Iani mense nec alget holus,
quaeque natat clusis anguilla domestica lymphis,
quaeque gerit similes candida turris aves,
munera sunt dominae: post septima lustra reverso
has Marcella domos parvaque regna dedit.
si mihi Nausicaa patrios concederet hortos,
Alcinoo possem dicere ,malo meos.`
Dieses Wäldchen hier, diese Quellen, dieser Schatten, von überhängenden / Reben gewebt,
dieser künstlich geleitete Fluss mit seiner bewässernden Flut, / die Wiesen und
Rosengärten, die der zweimaligen Blüte Paestums nicht nachstehen müssen, / der Kohl,
der im Januar grünt und nicht erfriert, /5/ der Aal aus heimischer Zucht, der in
geschlossenem Teiche schwimmt, / und der weiße Turm, der Vögel von ähnlicher Farbe
beherbergt, / all das sind Geschenke der Herrin: Dem nach sieben Jahrfünften
Zurückgekehrten / gab Marcella dieses Haus und dieses kleine Königreich. / Würde mir
Nausikaa die Gärten ihres Vaters überlassen, /10/ könnte ich zu Alkinoos sagen:
Meine sind mir lieber."
Nach seiner Rückkehr in die spanische Heimat hatte Martial in der gebildeten und
vermögenden Marcella eine großzügige Patronin gefunden, die ihm, wie das Gedicht zeigt,
einen Landsitz ganz nach seinem Geschmack schenkte. So rundete sich der Kreis seines
Lebens, kurz bevor er um das Jahr 104 starb.
Die Einheit des Gedichtes beruht nicht so sehr auf dem Blick aus der Totale auf das
Landgut; was wie die Beschreibung einer Idylle aus Natur und Menschenwerk beginnt, öffnet
sich zu ,Bildern` des Dankes, welche die Verse mit der Wiedergabe konkreter Einzelheiten
in eine beglückende emotionale Atmosphäre eintauchen. Nicht nur um materielle Güter
geht es hier, sondern vor allem um den Ausdruck eines gelingenden zwischenmenschlichen
Bezuges: Alles an diesem Landgut erinnert an die Person, die es schenkte. Gleichwohl
schließt das Gedicht als Epigramm mit einer Pointe, die aber ganz zart gesetzt ist
und das Humanum verwirklicht, wie es sich der Dichter für den gelingenden
Umgang in einer freundschaftlichen Beziehung wünscht: Esprit de finesse, der sich in
einer kokettierenden mythischen Anspielung verrät (si mihi Nausicaa ...), tritt an die
Stelle provozierender Komik; und indem er die sprichwörtliche Gartenpracht des
Phäakenkönigs Alkinoos in einer kaum merklichen Synekdoche auf dessen Tochter
überträgt, die - ein mythologisches Adynaton - den Reichtum ihres Vaters zu verschenken
hätte, evoziert er das Bild des nach vielen Irrungen
heimkehrenden (und noch nicht angekommenen) Odysseus, der in verhaltener Liebe zu der ihn
,erlösenden` Königstochter aufschaut - eine Huldigung diskretester Art an die
Weiblichkeit seiner Gönnerin.
8. Intensität der Freundschaft bedeutet Intensität von Freude und
Leid (XII 34)
Triginta mihi quattuorque messes
tecum, si memini, fuere, Iuli.
quarum dulcia mixta sunt amaris,
sed iucunda tamen fuere plura;
5 et si calculus omnis huc et illuc
diversus bicolorque digeratur,
vincet candida turba nigriorem.
si vitare velis acerba quaedam
et tristis animi cavere morsus,
10 nulli te facias nimis sodalem:
gaudebis minus et minus dolebis.
Vierunddreißig Sommer erlebte ich / mit dir, wenn ich mich recht erinnere, Julius; /
dabei war Süßes gemischt mit Bitterem, / doch das Angenehme überwog; /5/ und wenn man
alle Steinchen hierhin und dorthin / getrennt nach den zwei Farben sortiert, / wird die
weiße Menge die schwarze übertreffen. / Möchtest du manches Bittere vermeiden / und
dich vor kummervollen Stichen ins Herz hüten, /10/ dann werde niemandem zu sehr zum
Freund: / Du wirst weniger Freude empfinden und weniger Schmerz.
Wieder ist des Dichters engster Freund Julius Martialis angesprochen. Im Kontinuum einer
Freundschaft, die seit über dreißig Jahren besteht, gibt es unweigerlich Höhen und
Tiefen, und so wenig hundert ,gleichmäßige` Gedichte alle gleich gut sein können, wo
doch schon dreißig gute unter hundert ein gutes Buch ausmachen, so wenig gibt es dreißig
gleichmäßig gute Jahre des Miteinander;
stets ist Erfreuliches mit Bitterem, Gutes mit Bösem gemischt, und das eine ist ohne das
andere nicht zu haben. Der Dichter akzeptiert dieses Lebensgesetz .- und lehnt für seinen
Teil die (stoische?) Lösung der Unberührbarkeit (gaudebis minus et minus dolebis) ab;
jedenfalls ist Martial in seiner Freundschaft zu Julius Martialis bereit, den Preis für
die Intensität zu zahlen.
In keinem anderen Gedicht kommt man, so meine ich, dem Dichter persönlich näher, ahnt
man doch hinter diesen makellosen Versen einen sensiblen und verletztbaren Menschen. Und
so ist für mich XII 34 eines der schönsten und bewegendsten Epigramme des Dichters.
Wir beschließen unsere Leseprobe mit zwei Kurzepigrammen aus dem 13. und 14. Buch, die
entfernt an japanische Haiku erinnern, jene ostasiatische Art des Distichons, worin
flüchtige Impressionen in wenige Worte gefasst werden und das Eigentliche ungesagt
bleibt.
Die beiden letzten Bücher erschienen an den Saturnalien der Jahre 84 oder 85. An diesem
5- oder 7-tägigen Winterfest war es Sitte, sich zu beschenken: mit Xenia oder Apophoreta,
letzteres unter den Gästen zu verlosende kleine Präsente, die man wohl auch mit witzigen
Kurzgedichten versah.
9. Grues / Kraniche (XIII 75)
Turbabis versus nec littera tota volabit,
unam perdideris si Palamedis avem.
Du wirst die Formation durcheinanderbringen, und der Buchstabe wird nicht mehr
vollständig fliegen, / wenn du von den Vögeln des Palamedes auch nur einen wegnimmst.
Das auf den ersten Blick rätselhafte Distichon erklärt sich über das Verständnis der
mythologischen Anspielung. Palamedes, kluger Berater der Griechen im trojanischen Krieg,
galt u. a. auch als Erfinder der Schrift: Er soll auf die Buchstaben D oder U durch
Beobachtung der Formation fliegender Kraniche gekommen sein - ein seltsames, aber
,poetisches` Mythologem, wonach die Deutung des Vogelfluges, ein Augurium also, die
Alphabetisierung der Menschheit gleichsam inaugurierte.
10. Crepitacillum / eine Kinderklapper (XIV 54)
Si quis plorator collo tibi vernula pendet,
haec quatiat tenera garrula sistra manu.
Wenn dir weinend ein in deinem Hause geborenes Sklavenkind am Halse hängt, / dann soll es
mit seiner zarten Hand dieses Klappergerät schütteln.
Das Distichon lässt uns etwas erahnen von der emotionalen Atmosphäre in einem römischen
Haushalt, in dem der Patron ein weinendes Sklavenkind zu trösten versucht, aber auch von
der Unbefangenheit, mit der das kleine Kind sich an den dominus hängt, von ihm Zuwendung
erwartet und offenbar auch bekommt.
Vielleicht hilft dieses Epigramm ein wenig zum Verständnis der emotionalen Beziehung des
Dichters (oder handelt es sich auch hier wieder nur um sein epigrammatisches Ich?) zu
Erotion, einem kleinen Sklavenmädchen oder einer Freigelassenen Martials; ihr hat er
neben den beiden Grabepigrammen V 34 und X 61 das aufgrund der erotischen Bilder und
Konnotationen irritierend schöne Gedicht V 37 gewidmet: Puella senibus dulcior mihi
cycnis; doch das wäre ein eigenes Thema ...
Anmerkungen
1) Übersetzung im Anschluss an: Martial, Epigramme, lateinisch-deutsch, herausgegeben und
übersetzt von Paul Barié und Winfried Schindler, Artemis und Winkler (Sammlung Tusculum)
1999, und: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1999.
2) Farouk Grewing (Hg.), Toto notus in orbe. Perspektiven der Martial-Interpretation,
Stuttgart: Steiner 1998, Palingenesia Bd. 65, mit Beiträgen zur Martialforschung aus neun
Ländern.
3) Vgl den wichtigen Aufsatz von Willibald Heilmann: Epigramme Martials über Leben und
Tod, in: Farouk Grewing (Hg.), s. Anm. 2, S. 205-219.
Paul Barié, Annweiler
Heidegger, Seneca, Horaz und die Zeit
Ähnlichkeiten im Denken zwischen Heidegger und Seneca sind wiederholt
aufgefallen und beschrieben worden (z. B. von Pirelli). Heidegger hat Seneca anlässlich
seiner Entwicklung des Begriffs der Sorge" (cura) in Sein und Zeit"
(1927) zitiert und scheint den Terminus dem römischen Weisen entnommen zu haben. Beiden
Philosophen geht es denkerisch weniger um Erkenntnistheorie, Logik und andere Bereiche
innerhalb der Philosophie, sondern um existentielle Erkenntnis, um Wesentlichwerden, um
den Schritt vom Dasein zum Sein oder vom Seienden zur Existenz. Wie sich die Zeitlichkeit
in ihrem Denken spiegelt und welche Rolle der Zeit im Dasein des Menschen zukommt, soll
hier aus dem Schrifttum beider, sowie dem eher hedonistisch orientierter antiker Autoren,
aufgewiesen werden.
Heidegger
Heidegger hat 1924 in der Schrift Der Begriff der Zeit" (= BZ) seine Sicht der
Zeitlichkeit in ihrem Verhältnis zum Leben des Menschen vorgetragen. Wie verhält sich
demnach der durchschnittliche Mensch gegenüber seinem Dasein? Er lebt aus dem
Man", das heißt, er orientiert sich an den anderen. Keiner ist in der
Alltäglichkeit er selbst. Was er ist und wie er ist, das ist niemand: keiner und doch
alle miteinander. Alle sind nicht sie selbst. Dieser Niemand, von dem wir selbst in der
Alltäglichkeit gelebt werden, ist das Man". Man sagt, man hört, man ist
dafür, man besorgt" (BZ 13/14). Die meisten richten sich an dem aus, was üblich,
jetzt gerade interessant, derzeit sehens- und lesenswert, modisch ist. Das Dasein
ist in der Alltäglichkeit nicht das Sein, das ich bin, vielmehr ist die Alltäglichkeit
des Daseins dasjenige Sein, das man ist" (BZ 22).
Wie kommt das Man", dem man im Alltag verfällt, zu sich selbst? Wie löst es
sich, außer sich seiend wie es ist, von dem Gerenne, Gehetze, Gerede und begibt sich zu
sich? Indem es seiner Zeitlichkeit innewird. Die Zeitlichkeit aber des Daseins ist die
Spanne zwischen Geburt, näherhin zwischen Jetzt und Tod. Zwar ist sich jeder seines Endes
bewusst, zumeist jedoch in uneigentlicher Form. Das Dasein, immer in der
Jeweiligkeit des jemeinigen, weiß um seinen Tod, und das auch dann, wenn
es nichts von ihm wissen will. ... Das Dasein hat selbst die Möglichkeit, seinem Tod
auszuweichen" (BZ 17).
Jedoch vermag es sich diese äußerste Möglichkeit seines Daseins als bevorstehend
anzueignen, den Tod denkend als eigene und unabweisbare Wirklichkeit vorwegzunehmen.
Was ist dieses: je den eigenen Tod haben? Es ist ein Vorlaufen des Daseins zu seinem
Vorbei als einer in Gewißheit und völliger Unbestimmtheit bevorstehenden äußersten
Möglichkeit seiner selbst" (BZ 17). Zu dem Ereignis probeweise gedanklich
vorlaufend, macht das Dasein die Entdeckung: es ist das Vorbei von mir" (BZ
17).
Während für das alltägliche Dasein immer nur die anderen sterben, die anderen Unglück
ereilt usf., wird es in diesem Laufen zurückgeworfen in das Noch-dasein seiner
selbst" (BZ 18). Diese Erkenntnis entreißt den Menschen dem Man" und
bringt ihn vor sich selbst und sein eigenes Leben. Dieses Vorbei vermag, das Dasein
inmitten seiner Alltäglichkeit in die Unheimlichkeit zu stellen" (BZ 18). Wieder
böte sich daraus die Flucht in das Man" an, die Verdrängung, das Suchen des
Vergessens. Will es aber aufrichtig, authentisch leben, verbleibt es in dieser ständigen
Pendelbewegung zwischen Vorlaufen in die Zukunft und Rückkunft in die Gegenwart.
Das Dasein ist eigentlich bei ihm selbst, es ist wahrhaft existent, wenn es sich in
diesem Vorlaufen hält" (BZ 18) und bei seiner Zukunft, die einst sein Vorbei sein
wird, verbleibt.
So ist das Dasein, begriffen in seiner äußersten Seinsmöglichkeit, die Zeit
selbst" (BZ 19). Während das Man" der Alltäglichkeit keine Zeit hat,
sondern in der Unrast einer als knapp wahrgenommenen und unbestimmten Zukunft Geschäfte
erledigt und Unaufschiebbares verrichtet, ist der ideelle Temenos zwischen Jetzt und dem
willent- und wissentlich ergriffenen dermaleinstigen Tod der Bereich, der mir Zeit gibt,
während er mich vorher, in meinem Ausweichen vor ihm ängstigte. Das so
charakterisierte Zukünftigsein ist als das eigentliche Wie des Zeitlichseins die Seinsart
des Daseins, in der und aus der es sich seine Zeit gibt. Im Vorlaufen mich haltend bei
meinem Vorbei habe ich Zeit" (BZ 19).
So ist für Heidegger das Grundphänomen der menschlichen Zeit die Zukunft. Durch das
Verweilen beim Vorlauf entsteht Gelassenheit dem Tod, der Gegenwart, der alltäglichen
Beschäftigung gegenüber. Zeit bekommen zu haben heißt, eigentlicher geworden zu sein.
Die Vergangenheit, der der Alltagsmensch als vielfach unangenehm ausweicht, ist leb- und
verstehbar geworden. Sie ist etwas, worauf ich immer wieder zurückkommen kann"
(BZ 25). Der Tod und das Verweilen bei ihm ist das rechte principium
individuationis" (BZ 26), des Ich-Selbst-Werdens. Im Zusammensein mit dem Tod
wird jeder in das Wie gebracht, das jeder gleichmäßig sein kann ...; in das Wie, in dem
alles Was zerstäubt" (BZ 27). Aristoteles hat die ðáéäåßá als die
ursprüngliche Sicherheit in einer Sache ..., die Sicherheit des angemessenen Umgehens mit
der Sache" (BZ 27) bezeichnet. Das gilt auch für den Tod und die Frage nach meinem
Verhältnis zur Zeit. Bin ich meine Zeit?
... Wenn ich die Frage recht verstehe, dann ist mit ihr alles ernst geworden" (BZ
27/8).
Seneca
Auf die Wichtigkeit eines weisen Zeitmanagements stößt man bei Seneca allenthalben. Er
hat es in der Schrift De brevitate vitae" (= BV) sogar zur zentralen Frage des
Lebens gemacht. Ähnlich wie Heidegger denunziert er zuerst die der alltäglichen
Geschäftigkeit Verfallenen, die occupati". Alium insatiabilis tenet
avaritia, alium in supervacuis laboribus operosa sedulitas; alius vino madet, alius
inertia torpet; alium defatigat ex alienis iudiciis suspensa semper ambitio, alium
mercandi praeceps cupiditas circa omnis terras, omnia maria spe lucri ducit" (BV
2,1). So kommt es, dass sie nie jetzt
leben, sondern stets in einer erhofften besseren Zukunft. Tamquam semper victuri
vivitis, numquam vobis fragilitas vestra succurrit, non observatis, quantum iam temporis
transierit. ... Omnia tamquam mortales timetis, omnia tamquam immortales
concupiscitis" (BV 3,4). Die Gegenwart verflüchtigt sich, die Zukunft jedoch kommt
nicht in der Art, wie sie erwartet wird. Maximum vivendi impedimentum est
exspectatio, quae pendet ex crastino, perdit hodiernum. ... Quo spectas? Quo te extendis?
Omnia quae ventura sunt in incerto iacent: protinus vive!" (BV 9,1).
Einzig die censura sua" (BV 10,3), also eine Art kontrollierender
Selbstreflexion, könnte den occupatus" die Kehre vollführen lassen, in der er
die Kürze und gleichzeitig schlechte Nutzung seines Lebens begreifen lernt. Auch bei
Seneca gilt es, sich der vivendi ac moriendi scientia" (BV 19,2) zu versichern.
Vivere tota vita discendum est et, quod magis fortasse miraberis, tota vita
discendum est mori" (BV 7,3). Dann erst ist es möglich, bei seinem Leben zu
verweilen, Angst zu verlieren, sich zu Gelassenheit zu erheben. Soli omnium otiosi
sunt qui sapientiae vacant, soli vivunt" (BV 14,1).
Damit ist natürlich nicht gemeint, dass der Weise in einer vita contemplativa leben
sollte. Dem Stoiker ist die überlegte Beschäftigung in der Öffentlichkeit
selbstverständlich. Maior pars aetatis, certe melior rei publicae data sit: aliquid
temporis tui sume etiam tibi" (BV 18,1). Otium" meint hier das Verbleiben
in der Besinnung auf die existentialia vitae.
Wie bei Heidegger ist damit die Zeit in die Verfügung des Weisen zurückgewonnen worden
und sorgt im ständigen Wissen um die Pole zwischen Jetzt und dem künftigen Tod für ein
sinnvolles Leben zu abwägender und wohlabgewogener Nutzung der vorhandenen Zeit. Der
Furcht vor dem Tod (mortem saepe ideo optant, quia timent"; BV 16,2) hat dessen
Akzeptanz (amor fati") als sicheres Ende des Lebens Platz gemacht. Die Folgen
sind für den philosophischen Adepten heilsam. Nun erst vermag er in allen drei
Zeitperioden zu leben. Transit tempus aliquod: hoc recordatione comprendit; instat:
hoc
utitur; venturum est: hoc praecipit. Longam illi vitam facit omnium temporum in unum
conlatio" (BV 15,5).
So ist der senecanische sapiens" durch die rechte Einstellung zur Zeit der
Lebensentfremdung des occupatus" entkommen. Er fürchtet den Tod nicht, dem er
ohnehin nicht entrinnen wird. Er weiß: Omnia, Lucili, aliena sunt, tempus tantum
nostrum est" (epist.1,3). Das Vergegenwärtigen des Todes, das Verbleiben bei dem
dereinstigen Vorbei, gibt auch bei Seneca erstlich Verfügung über die Zeit.
Qui cotidie vitae suae summam manum imposuit, non indiget tempore. Ex hac autem
indigentia timor nascitur et cupiditas futuri exedens animum" (epist. 101,8).
Meditare mortem" (epist. 26,8) schärft der Philosoph daher Lucilius ein und
gibt, wie Heidegger, seiner Lebenslehre die Prägung einer Sterbenslehre"
(Leeman, S. 328).
Horaz
In der empfohlenen Lebensführung gleichen sich Epikureer und Stoiker, bei aller
Verschiedenheit des theoretischen Hintergrunds, beträchtlich. Zitiert nicht Seneca
ständig und in wohlwollender Wertung Lehrmeinungen Epikurs ( = G)? Übe dich im
Sterben" (G 120), hielt der Philosoph des Kepos seine Schüler an, nämlich den
Gedanken des eigenen Vorbei zugunsten einer sinnvollen Lebensführung nicht aus dem Auge
zu verlieren; ist doch die Sorge für ein edles Leben und diejenige für einen edlen
Tod eine und dieselbe" (G 102). Den Tod aus Furcht aus dem Leben zu verdrängen ist
töricht; denn
im Hinblick auf den Tod bewohnen wir Menschen alle eine Stadt ohne Mauern" (G
108). Der Epikureer bereitet sich, wie der stoische Weise, auf den Tod vor, ja er verlacht
ihn, da dieser ja noch nicht da ist, solange er noch lebt. Aber der occupatus"
räumt ihm Macht über sich ein und geht aus dem Leben, wie wenn er eben erst
geboren wäre" (G 111).
Natürlich wäre wildes Genießen eine Flucht vor der vernünftigen Angemessenheit
eigentlicher und wahrhafter Existenz in den Grenzen zwischen Jetzt und Sterben. Horaz, dem
die Kürze des Lebens zuweilen Angst in die Verse mischt (Eheu fugaces, Postume,
Postume, / Labuntur anni"; c. II 14), sieht Heideggersch unverwandt auf das
Lebensende und kehrt von dort stets wieder, wie jener, auf seine Gegenwart zurück. Die
Gegensätze Jetzt und Dann sind ihm geistig unveräußerliche und stete Präsenz. Der
üppige Frühling des Solvitur acris hiems" muss neben sich den Tod dulden:
Pallida Mors aequo
pulsat pede pauperum tabernas / Regumque turris" (c. I 4). In ruhigerer Verfassung
nimmt er sich vor der allzeit aufkeimenden Zukunftsangst zurück zugunsten des Jetzt.
Quid sit futurum cras, fuge quaerere, et / Quem Fors dierum cumque dabit, lucro /
Adpone" (c. I 9). So gelangt der Dichter zu dem carpe diem quam minimum credula
postero" (c. I 11), in dem er der ausgehaltenen Spannung zwischen Augenblick und
sicherem Ende exemplarischen Ausdruck verliehen hat. Auf seinem agellus" im
Sabinerland ist sein Dasein, existentialistisch gesprochen, zu sich selbst gekommen und an
diesem ausgezeichneten Ort verblieben.
Wenn wir der Daseinsanalyse des Schwarzwälder Philosophen antike Vorläufer zur Seite
gestellt haben, geschah es nicht, um sein Philosophieren als Abklatsch antiken Denkens zu
entwerten. Das Sichvergewissern des eigenen (jemeinigen") Daseins in seiner
Weise zu leben ist ein Thema jeder Zeitepoche, ist philosophia perennis. Die Modernität
antiker Existenzphilosophieschulen herausstellen und aufweisen zu können, zeugt von der
Zusammengehörigkeit antiken und modernen Denkens. Garbarino (S. 18) weist Senecas
Anliegen des vindicare se sibi" als für unsere technische Zeit, die
von Hoffnung und Zukunftswunsch lebt, obsolet geworden zurück und gerät in die Falle der
Rastlosigkeit (occupatio") des alltäglichen Man". Die condicio
humana und ihr fundamentales Bedürfnis nach Abklärung ihrer Situation sowie ihre
Sehnsucht nach Besinnung verändert sich trotz der Besinnungslosigkeit heutigen Lebens
nicht.
Unterschiede zwischen antiken Weisheitslehrern und dem modernen Denker sind gewiss nicht
zu verkennen. Seneca ist sich aus seiner Schulwahl eines Fortlebens nach dem Tode sicher.
Cum venerit dies ille, qui mixtum hoc divini humanique secernat, corpus hic ubi
inveni relinquam, ipse me diis reddam. ... Alia origo nos exspectat, alius rerum
status" (epist. 102,22.24). Heidegger freilich bleibt im Diesseits. Der
Philosoph glaubt nicht. Fragt der Philosoph nach der Zeit, dann ist er entschlossen, die
Zeit aus der Zeit zu verstehen bzw. aus dem ~åß, was so aussieht wie Ewigkeit, was sich
aber
herausstellt als ein bloßes Derivat des Zeitlichseins" (BZ 6). Dieser Sicht nähert
sich auch Epikur: Zweimal geboren zu werden ist nicht möglich" (G 106).
Zweifellos ist es unter der Bedingung der Einmaligkeit des Lebens, und solange das Leben
noch ist, eher drängend und erscheint es dem Menschen eher geboten, sich vor sich selbst,
oder, Heideggersch gewendet, das Dasein vor sein Sein zu bringen.
Literatur:
Armisen-Marchetti, M.: Sénèque et l'appropriation du temps. Latomus 54, 1995, 545-567.
Blänsdorf, J.: ,Erlebte` Zeit in Senecas Epistulae Morales und De Brevitate Vitae und die
Geschichte eines philosophischen Paradoxons. In: Blänsdorf, J., Breckel, E.: Das
Paradoxon der Zeit. Zeitbesitz und Zeitverlust in Senecas Epistulae Morales und De
Brevitate Vitae. Problem und unterrichtliche Behandlung. Freiburg 1983, S. 5-71.
Epikur: Von der Überwindung der Furcht. Hg. von O. Gigon. München 1991.
Garbarino, G.: Il tempo in Seneca. Istituto Universitario di Bergamo. Quaderni del
dipartimento di lingue e letterature neolatine 2, 1987, 9-19.
Heidegger, M.: Der Begriff der Zeit. Tübingen 1989 (Orig. 1924).
Leeman, A.D.: Das Todeserlebnis im Denken Senecas. Gymnasium 78, 1971, 322-333.
Perelli, L.: Seneca e Heidegger. Bollettino di Studi Latini 24, 1994, 45-61.
Franz Strunz, Deisenhofen
Latein in Deutschland und die Rolle der indirekten Latinität
Im folgenden Beitrag wird versucht, die Notwendigkeit des altsprachlichen Unterrichts
durch einen neuen Gedanken zu begründen: Andere Sprachen besitzen eine viel engere,
natürliche (primäre") Beziehung zum Lateinischen und sind daher durch den
überbordenden Zustrom neuer lateinischer und griechischer Fachsprachen in ihrer
sprachlichen und geistigen Identität weit weniger gestört oder gar gefährdet als das
Deutsche. Aus diesem Grund gilt es für die deutsche Sprachgemeinschaft, der andringenden,
meist angelsächsisch verfremdeten, indirekten Latinität" erst recht den
bisher
gepflegten direkten Zugang zum Latein durch Erlernen der Sprache und durch Lektüre
lateinischer Autoren entgegenzusetzen.
Die Frage des Lateinischen in den Ausbildungsgängen unserer Schulen und Hochschulen
spaltet neuerdings den inneren Kreis der Humanisten selbst, wenn etwa in der Romanistik
die Abschaffung der Latinumspflicht für das eigene Studienfach erwogen wird. Ein solcher
Verzicht an so zentraler Stelle bedeutet schon durch seine Signalwirkung weit mehr, als es
zunächst scheinen mag. Unsere Republik im ganzen wird einen weiteren empfindlichen
Verlust an altsprachlicher Kompetenz
hinnehmen müssen.
In der Turbulenz der späten 1960er Jahre sind die überzeugendsten Stimmen für die
Rettung unserer humanistischen Normen nutzlos verhallt. Das wäre kein Grund, sie nicht
jetzt wieder aufzunehmen, nachdem dreißig Jahre vergangen sind, - Jahre ruhigerer
Überlegungen und Erfahrungen. Und man darf sagen: Die Phalanx der Befürworter steht
wieder. Bewährte Argumente gewinnen durch neue, differenziertere Begründung nicht selten
verblüffende Frische. Es haben aber unterdessen
unerwartete Entwicklungen Profil bekommen und verdienen möglicherweise Beachtung. Von
ihnen möchte ich im folgenden nur eine herausgreifen: die indirekte Latinität und ihren
Bedeutungszuwachs.
Im humanistischen Gymnasium Wilhelm v. Humboldts hat die mittelalterliche Tradition der
Schule als Lateinschule samt ihrer in der Renaissance einsetzenden gräzistischen
Erweiterung ihre moderne Nachfolge gefunden. Der Hochschulzugang war an dieser
Ausbildungsform orientiert, obwohl
Naturwissenschaften, Realfächer und am Ende die kaiserliche Schulpolitik das Verhältnis
noch im 19. Jahrhundert aufzulockern verstanden. Doch erst in unseren Tagen wurden die
Dinge wirklich anders. Durch die Bildungspläne, die Schul- und Hochschulgesetze der
1970er Jahre wurde die besondere Stellung des Humboldtschen Gymnasiums so weit
relativiert, dass man von einer Abschaffung des humanistischen Bildungsideals als des
ersten Maßstabes aller höheren eruditio reden kann. Mit der vermeintlich vertretbaren
und simplen Zurückstufung zweier altsprachlicher" Fächer wurde in
Wahrheit ein unentbehrlicher Wirkungskomplex unserer Bildung und Weltfähigkeit getroffen
und gestört.
Auf der anderen Seite erreicht uns antikes Sprachgut täglich in anschwellender Flut.
Jeder kann leicht bemerken, dass die Graecolatinität - oder jedenfalls eine bestimmte
Form von ihr - für unseren Alltag, für seine Denkformen und seinen Wortschatz eine
Bedeutung erlangt hat wie nie zuvor. Diese spontane Rezeption von sprachlicher
Graecolatinität, missverstanden zum Teil und verformt, vollzieht sich auf vielen Ebenen
zugleich und meist jenseits von aller Schule und Theorie.
Für das nun Folgende bitte ich zu gestatten, dass (zunächst einmal im Sinn einer
Hilfskonstruktion) lateinische Sprachmanifestationen größerer, aber unterschiedlicher
Art und Epoche unter dem Titel der indirekten Latinität" zusammengefasst
werden. Gemeint sind latinogene Wirkungsgebilde, die außerhalb der vorwiegend schulisch
vermittelten direkten und normgerechten Latinität entstanden sind oder sich in ihrer
Entwicklung von ihr entfernt haben. Beginnen wir mit dem, was heute zu beobachten ist.
A) Indirekte Latinität der Fachsprachen und Fachwörtersysteme
Es sind vor allem die Fachsprachen und Fachwörtersysteme der praktischen Disziplinen, die
in Bewegung gerieten, ja irgendwie virulent wurden. Wir beobachten irritiert, wie
Naturwissenschaft, Technik, Medizin, Pharmazie usw., Fächer also, die anhand ihres immer
schon graecolateinischen Grundvokabulars dem sachlichen Fortschritt folgen müssen, dabei
in einem neuen, gelegentlich beängstigenden Maßstab expandieren. Und wie sie Modell und
Anstoß liefern für eine atemberaubende Gesamtentwicklung der Sprache. Nach dem Muster
dieser Fächer hat sich inzwischen eine terminologische Zivilisation ausgebreitet, welche
bald nichts mehr ausspart und auch Politik, Weltanschauung und Gesellschaft betrifft,
desgleichen die Psyche und ihre Pathologie, die Medien- und Informationswelt, zu welcher
neuerdings Elektronik, Digital- und Computerwesen gehören.
Alle beanspruchen ihre jeweilige Fachwörter-Aura, ihr Kompetenz-Idiom, um sich darin zu
ordnen, zu sonnen und der Öffentlichkeit zu präsentieren. Das reicht und wirkt in
Wirtschaft, Werbung, Handel, Sport und Schau hinein und erstreckt sich insgesamt von der
Wissenschaft bis in die verstecktesten Winkel des Trivialen. Wer in die Apotheke geht, wer
sich ein technisches Gerät kauft, einen soziologischen Text liest, die Anzeigenseite
einer Illustrierten studiert, begegnet dem Phänomen.
Den unglaublichen Entdeckungen der Epoche folgt gebieterisch ein Vokabular, vor dem sich
der Spezialist mitunter ähnlich ratlos fühlt wie der Mann auf der Straße. Nur zu
geringem Teil sind die neuen Wortgebilde nach traditionellen Regeln korrekt erdacht.
Vielfach verraten sie Missverstehen, Ignoranz und eine Art von Beliebigkeit gegenüber der
graecolateinischen Basis, die besorgt machen kann.
Auch entzieht sich ein zunehmender Anteil dieses Sprachgutes unserem Einfluss, da er von
außen (etwa aus dem angelsächsischen Bereich) importiert wird. Latinisierung und
Graecolatinität werden unversehens zu einer weltübergreifenden, einer im Wortsinn
globalen" Wirklichkeit. Diese Macht der indirekten Latinität ist freilich
keineswegs neu, sondern antiken Ursprungs, wie ein Blick auf die Geschichte des
Volkslateinischen und seiner europäischen Abkömmlinge lehrt.
B) Volkslatein und romanische Sprachen als indirekte Latinität. Sonderstellung des
Deutschen gegenüber der lateinischen Welt
Vorweg ist festzustellen, dass die deutschsprachigen Stämme und Völker sich hinsichtlich
des Verhältnisses zur Latinität in einer deutlich anderen Lage befinden als die
romanischen Mitglieder der europäischen Völkergemeinschaft. Zwar war die Ausgangslage
ähnlich. Das Volkslateinische war die Sprache des römischen Imperiums. Und auch die
Deutschen wären schon von der frühen Kaiserzeit an beinahe in die volkslateinische
Bewegung hineingeraten, wie die Menge unserer frühen
zivilisatorischen Lehnwörter beweist, von Butter, Käse, Wein und Winzer bis hin zu
Fenster, Keller, Mauer, Ziegel, Straße, Pfosten, Wall. Und von Namen wie Bonames (Bona
mensa) bis Koblenz (Confluentes) und Köln (Colonia). Doch aus bekannten Gründen kam es
zu keiner durchgreifenden Romanisierung.
Späterhin, als die Latinität vorwiegend über die Bildungsschwelle der Buchlektüre zu
ihnen zurückkam, gerieten unsere Vorfahren in ein neues Rezptionsverhältnis zu ihr. Die
Beziehung zum Volkslatein war, im Gegensatz zur romanischen Völkergruppe, nun
unterbrochen. Dagegen entsprach unser Bezug zur direkten Latinität des Bildungslateins
europäischen Normen. Zunehmend wurden Lateinstudien gefördert mit Blick auf die
Ausbildung in Theologie, Jura, Medizin sowie auf die
Fähigkeit zur internationalen Kommunikation.
Doch eines Tages wurde der deutsche Weg zum Doppelweg, der er heute noch ist. Er führte
nämlich zum Volkslatein zurück, das sich inzwischen jedoch, jenseits der Grenzen,
abenteuerlich verwandelt hatte. Denn aus ihm waren die romanischen Sprachen entstanden und
machen immer mehr ihre Eigenart geltend. Sie stellen sich als ein recht attraktives Novum
heraus, zugleich mit der neuen Welt, die sie vermitteln. Sie bieten das Lateinische zum
Teil in reizvoller Verzerrung und Verwandlung dar, und mitunter mit einer Anmut, welcher
die Deutschen schwer widerstehen können.
Das gilt besonders für das Italienische und für die Idiome, die auf französischem Boden
entstanden sind und schon im hohen Mittelalter ihren vollen Duft von Köstlichkeit und
Finesse verbreiten, wie etwa Wolfram von Eschenbach bezeugt.
Beide Sprachen haben mit ihren Moden der Lebensart und der Literatur zeitweise berückend
auf uns gewirkt. Sie haben in Gestalt neuer Ausdrucksmodelle, Fremd- und Lehnwörter ein
beachtliches Maß an indirekter und neuartiger Latinität vermittelt und unser
Ausdrucksvermögen bereichert.
Das ist es, was man als doppeltes Rezeptionsverhältnis in der deutschen Sprache
bezeichnen könnte. Wir leben seit alters mit zwei durchaus unterschiedlichen Anteilen von
vermittelter Latinität: mit dem alten Fach- und Bildungslatein der Kirche, der Schulen
und Bücher - und dann zweitens mit dem nach Wahl und Lust ergriffenen (und nach und nach
gespeicherten") Latein-Anteil der Romanität. Dieser Anteil hat sich
gelegentlich verdichtet, wofür es bekannte Beispiele gibt wie etwa die Bank-Fachsprache,
das monetale Idiom, das stark vom Italienischen her, oder die Militär- Fachsprache, die
weithin von französischer Latinität bestimmt war.
Doch sind die beiden Stränge nicht ohne Korrelation. Denn: dass wir Deutschsprachigen z.
B. dem Französischen und seinen durch Jahrhunderte wirkenden Verlockungen
standgehalten" haben, dass wir - sprachlich wohlgemerkt - nicht an Frankreich
gefallen sind: diese deutsche Besonnenheit hängt letztlich auch damit zusammen, dass wir
jederzeit eine hinreichende eigene lateinische Kompetenz besaßen, um zu bemerken, mit
welchem Wasser die romanischen Delikatessen gekocht waren. Sie ermöglichte uns jene
Kenntnis und Distanz, die vor der sprachlichen Selbstpreisgabe schützen konnte.
Wir mussten aber um mitzuhalten, - simpel gesagt - mehr und ernsthafter Latein studieren,
mehr Nachdruck investieren, als unsere romanisch begünstigten Nachbarn. Man kann auch
sagen: Wir mussten entschiedener zweisprachig leben als jene. Ich erinnere mich an einen
höheren Postbeamten mit intakter Gymnasialausbildung, der um 1960 als Pensionär noch den
ganzen Horaz auswendig vortragen konnte. Im Rückblick muss man sagen: Dies war der Weg
unserer geistigen Selbsterhaltung in karger Zeit.
C) Indirekte Latinität aus dem Angelsächsischen
Um aber zur Gegenwart zu kommen: Das Französische ist abgelöst worden. Die Rolle der
modisch-verführerischen Fremdsprachenvermittlung übernehmen für uns seit 200 Jahren
zunehmend die Angelsachsen von diesseits und jenseits des Ozeans. Und man darf annehmen,
dass der starke romanische Anteil des Englischen, seine Latinität also, diesen
sprachlichen Wirkungszauber mit erklärt, wenn nicht sogar vor allem bedingt.
Bildet der angelsächsische Druck eine Gefahr für die sprachliche Identität der
Deutschen? Nach den Erfahrungen unserer französischen" Epoche möchte man
solche Bedenken verneinen. Aber Vieles ist heute anders. Vor allem: Unser bewährtes
Gegengewicht, unser Rückhalt an eigener Latinität, ist nach den neuen schulischen
Regelungen im Schwinden begriffen.
Natürlich gibt es auch für Angelsachsen und Romanen selbst vergleichbare Probleme der
schulischen Ausbildung. Aber sie liegen doch anders und wiegen leichter.
Beispiele für den kurzen Weg der Angelsachsen zur Graecolatinität, für den zwanglosen
Zusammenfall von Sprache und Terminologie, - jeder kennt sie, besonders aus der Medizin.
Da gibt es die Bovine Spongiform Encephalopathy", abgekürzt BSE, die
Rinderseuche. Es handelt sich um einen durchgehend graecolateinischen Ausdruck, wobei zwei
Elemente (bovine und spongiform) zugleich der englischen Umgangssprache angehören. Nicht
anders bei der ebenso weltverbreiteten Form Acquired Immune Deficiency
Syndrome", allenthalben akzeptiert als AIDS.
Solchem mühelosen terminologischen Gebaren haben wir in unserem Land ohne solide
Lateinkompetenz nicht mehr viel zur Seite zu stellen. Und bald wird es bei unseren
Schülern, wenn sie denn noch mit lateinischen Vokabeln zu tun bekommen, der Ehrgeiz sein,
dann gleich deren englische Aussprache zu lernen. Ein Gefühl verbreitet sich, als ob der
antike Direktbezug eine angelsächsische Domäne geworden sei.
Man findet diese Umorientierung in vollem Gang, wenn man einmal auf die Betonung unserer
gewohnten graecolateinischen Fremdwörter im Deutschen achtet. Fremdwörter wohlgemerkt,
die ein altes Bürgerrecht in unserer Sprache besitzen. Da gibt es einen verblüffenden
Wandel.
Zu meiner Studienzeit betonte man z. B. noch die Vokabel absolút" auf der
letzten Silbe, getreu nach der lateinischen Dreisilbenregel (ausgehend von absolútus).
Heute hält es bald jedermann mit den Engländern und betont ábsolut (ábsolute,
ábsolutely). Auf ähnlichem Weg befindet sich eine große Zahl weiterer lateinischer und
graecolateinischer Fremdwörter im Deutschen.
Ich erinnere an Módel für Modéll, an módern für modérn. Die antike Götterwelt sogar
ist mitbetroffen: Néptun gilt heute für Neptún und Vúlkan für Vulkán (ebenso als
Gott wie als Berg). _ Weiter lässt diese anglogene Akzentverschiebung sich beobachten bei
áktiv, áktuell, Démokrat, Déntist, bei Dépot, Díplomat, Égoist, Índustrie,
ínfantil, ímitieren, Íntellekt, kómpetent, kóntemplativ, Kóntext, Líteratur,
nátional, Quálität, rátional, Sýmpathie. Sie alle, und viele weitere, werden im Sinne
der englischen Anfangsbetonung neuerdings umbetont oder sind auf dem Wege dazu. Dabei sei
nicht verschwiegen,
dass die anglogene Unbetonung einhergeht mit einem allgemeineren Trend, den man als neuen
Schub in der germanisch-deutschen Neigung zur Anfangsbetonung bezeichnen könnte. Sie
betrifft nicht allein die Fremdwörter mit angelsächsischen Entsprechung. Die letztere
könnte man andererseits auch so einschätzen, dass wir Deutschen eine
germanische" Umbetonung lateinischen Sprachgutes, in welcher die Engländer uns
voraus waren, nunmehr nachholen.
D) Kumulation von Formen indirekter Latinität in der Gegenwart
Wir sprachen vom Rückgang direkter Lateinkenntnisse aufgrund der schulischen Situation,
der uns im deutschen Sprachbereich zur Unzeit trifft. Nämlich gerade zum Zeitpunkt der
großen terminologischen Expansion, wo in vielen Lebensbereichen die Fachwörter- und
Sondersprachen mitzureden, mitzumischen beginnen. Dergleichen gab es noch nie. Und es
bedeutet in praxi, dass es wiederum die Angelsachsen sind, welche uns die Graecolatinität
der Fachsprachen sowie den technisch-soziologischen Gegenwartsjargon zusammen mit dem
Englischen gleich mitliefern. Der Unterschied zu allem Früheren liegt darin, dass die
gegenwärtige (englische) Fremdsprachenattraktion sich mit unserem erhöhten
Fachsprachenbedarf trifft und summiert.
Einfacher gesagt: Punkt A) und C) unserer Aufstellung wachsen zusammen.
Damit tritt das Kuriosum ein, dass die Graecolatinität dem Hauptteil unseres vom
schulischen Latein befreiten Nachwuchses vor allem in seiner angelsächsischen Gestalt,
als einer Art von Englisch also, begegnet. Und in dieser Gestalt höchst verlockend. Der
für das Heute kennzeichnende Fachsprachen-Hunger verbindet sich unwiderstehlich mit dem
modische Sprachgenuss des Angelsächsischen. Wirtschaft und Werbung quellen über von
Beweisen. Treffend sprach die F.A.Z.
kürzlich z. B. vom ,,Anglokauderwelsch des Sportartikelhandels".
Die Umbetonung unserer Fremdwörter, von der oben die Rede war, ist bei alldem ein
Randphänomen. Aber eines mit besonderer Bezeichnungskraft für unsere bedrohte Latinität
und sprachliche Distinktion. In Funk und Fernsehen bildet das unscheinbare Akzentgeschehen
eine allgegenwärtige Warnung, dass die deutsche Hochsprache als Bildungsträger im ganzen
bedroht sei könnte.
E) Schlussteil und Thesen
Die vorliegende Betrachtung beschränkt sich auf Sprachliches. Ausgespart, aber nicht
beiseitegesetzt, bleiben die nach wie vor überlegenen Argumente, die unser allgemeines
kulturelles Erbe und seine Einbettung in die Graecolatinität betreffen. Die Werte vor
allem, die in Literatur und Kunst von der Antike her uns zugereicht werden und die
Grundlage des gemeinsamen europäischen Geistes bilden: Die Fragen der Freiheit, der
Gerechtigkeit, des Humanen; die Möglichkeiten von Gestaltung und Klassik; das Tragische,
das Epische, die Wahrheit und die Geschichte; die literarischen Gattungen als Medien der
Begegnung von Seele und Welt (um nur die bedeutendsten zu nennen). Sprache und Wortschatz
sind dem allem untergeordnet, aber in bestimmtem Sinn auch voraus.
Oben wurde angedeutet, dass die von Geburt und Muttersprache her fehlende und danach nur
gemäß wechselndem Zeitgeschmack vermittelte Romanität für uns Deutsche seit alters ein
mehr oder minder bewusstes Motiv bildete, die klassische Latinität zu pflegen. Als
Gegengewicht sozusagen und als ausgleichendes continuum. Dies Motiv verstärkte sich,
wurde zum bewussten Imperativ, je mehr der Verführungscharakter der von außen kommenden
Romanität, die sich ja ihrerseits in Fluss und Entwicklung befindet, auf uns einwirkte.
Eine nachdrückliche Reaktion dieser Art gab es im 18. Jahrhundert gegenüber der
Literatur-, Bühnen- und Aufklärungsmächtigen französischen Geistesart. Die
deutschsprachige Selbst-Findung und Selbst-Wahrung, wie sie durch einen Neueinsatz in der
klassischen Antike bei Winckelmann und Goethe gelang - , dieser neue Direktbezug zur
Graecolatinität war mit provoziert durch überstarken kulturellen Druck vonseiten der
Franco-Romanität.
Analogien der Reformationszeit drängen sich auf, weitere 250 Jahre zurück. Damals kam
zum romanischen Andringen von außen eine allzusehr ins Selbstverständliche verkommene
Latinität des Mittelalters auch bei uns. Beides begünstigte die Wiedergeburt der
klassischen Graecolatinität, die der Epoche den Namen gab, und war unabdingbare
Voraussetzung dafür, dass die deutsche Sprache selbst nunmehr den Schritt zur kulturellen
Hochsprache tun konnte.
Ich möchte in Thesenform, nicht zuletzt mit Blick auf den gymnasialen und universitären
Lateinunterricht, zusammenfassen:
Latein ist nicht eine Fremdsprache _ gar tote" Fremdsprache unter anderen,
sondern die fundamentale und hochlebendige Ausgangssprache für die wichtigsten
europäischen Völker. In ihm liegen die Anfänge und Höhen unserer gemeinsamen Kultur.
Das bringt für Deutschsprachige und für Romanen freilich unterschiedliche Konsequenzen.
Dass wir Deutschen nicht genuin zur sprachlich romanischen Gruppe gehören, dispensiert
uns nicht vom Umgang mit den antiken Sprachen, sondern legt uns umgekehrt eine besondere
Verantwortung und Verarbeitungslast auf.
Wir sind gegenüber den unsere technische Zivilisation weithin sprachlich beherrschenden
Angelsachsen in einer eher benachteiligten Situation, wofern es gilt, auch nur den Stand
unserer gewachsenen Sprache und Eigenkultur zu halten. Das lehrt ein Blick auf die
Geschichte ebenso wie auf die Medienentwicklung der Gegenwart.
Wir brauchen, wie einst, eine eigene, betonte Graecolatinität als Gegengewicht zu der
angeborenen Latein-Affinität der Romanen und Angelsachsen. Dies umso mehr, als ein
anglo-amerikanisches Fachwörter- und Fachsprachenlatein, eine sprachliche Antike aus
zweiter und dritter Hand, übermächtig und verwirrend bei uns im Kommen ist.
Ein Kompetenzverlust in der eigenen deutschen Sprache wurde schon lange von den Gegnern
des Lateinverzichtes befürchtet. Man sorgte sich vor allem um die grammatisch-logischen
Fähigkeiten des Nachwuchses. Inzwischen geht es um weit mehr. Was uns droht, sind
Verluste an Wortschatz, an Sachen und Sachlichkeit, an zeitgemäßem Ausdrucksvermögen,
ja an der Weltfähigkeit der künftigen deutschen Sprache überhaupt.
Ein Latinums-Verzicht gerade für heranwachsende deutsche Humanisten, wie ihn etwa Th.
Berchem vorschlägt, wäre ein schlimmes Paradoxon, zumal das Latinum selbst bereits ein
Produkt willfährigen Verzichtes darstellt. Umgekehrt müssten Anteil und Gründlichkeit
der schulischen Latinität in Deutschland das traditionelle Maß des 19. Jahrhunderts
wieder erreichen, wenn Deutsche im europäischen Miteinander bestehen wollen.
Unsere Frage sei nicht: Wie weit können wir im Lateinverzicht gehen, sondern umgekehrt:
Wie finden wir zum einstigen Qualitätsstand zurück? Denn: Graecolatinität ist mehr
gefordert als je zuvor. Einmal durch das unaufhaltsame Vordringen des technologischen und
technoiden Fachsprachenwesens. Zweitens - und damit verflochten - durch die weiter
zunehmende Dominanz der angelsächsischen Sprache, die als aktuelle Vermittlerin antiken
Sprachgutes unseren Direktbezug zur Latinität zu ersetzen und damit zu unterbinden droht.
- Man wird mich, denke ich, nicht als einen Gegner des deutsch-angelsächsischen
Austausches missverstehen. Aber die Herstellung des genannten Bezuges kann uns niemand
abnehmen. Er kann nur aus Eigenleistung und eigener Mühe erwachsen. Und wo der
Direktbezug nicht mehr gegeben ist, stirbt uns ein Stück Wahrheit.
Walter Wimmel, Marburg
Joachim-Friedrich Schulze zum 75.
Geburtstag
Am 19. September dieses Jahres feierte Herr Dr. phil. habil. Joachim-Friedrich Schulze aus
Halle/Saale seinen 75. Geburtstag. Viele Absolventen des Robertinums der
Martin-Luther-Universität werden sich seiner in Verehrung erinnern, hat er doch nicht nur
ihre Ausbildung, sondern auch die persönliche Entwicklung maßgeblich geprägt - durch
seinen Einsatz, durch persönliches Vorbild, durch das ,rechte Wort zur rechten Zeit`. Es
ist eine schöne Tradition, den um die Alten Sprachen verdienten Emeriti Glückwünsche im
Forum Classicum zu übermitteln und diese Glückwünsche mit einer kurzen Würdigung ihres
Lebenswerkes zu verbinden.
Für die meisten von uns, eine Nachkriegsgeneration, sind die zwölfjährige Schullaufbahn
und ein sich direkt daran anschließendes Hochschulstudium selbstverständlich gewesen.
Schon eine zweijährige Unterbrechung durch Ausbildung oder Armeedienst wurden als
störend empfunden. Welcher Zielstrebigkeit und Energie jedoch bedarf es, nach dem Abitur
1942 und anschließendem Arbeitdienst, Militärdienst und sowjetischer
Kriegsgefangenschaft zunächst als Lehrer in Deutsch, Erdkunde, Biologie und Latein tätig
zu sein und dann erst das Studium der Klassischen Philologie aufzunehmen! Nach dem
Abschluss dieses Studiums 1955 war Herr Dr. Schulze zu nächst in der Abteilung
Sprachunterricht für die Vermittlung von Latein- und Griechischkenntnissen an Historiker,
Romanisten, Germanisten, Mediziner etc. tätig, wurde aber dann von Herrn Professor Peek,
dem langjährigen und verdienstvollen Ordinarius für Gräzistik an der hallischen
Universität, als geschäftsführender Assistent bzw. seit 1959 Oberassistent an das
Seminar für Klassische Philologie der Martin-Luther-Universität, das Robertinum, geholt.
Im Jahre 1955 erteilte das Staatssekretariat für Hochschulwesen dem Seminar für
Klassische Philologie den Forschungsauftrag, das Wortmaterial des spätgriechischen
Epikers Nonnos in einem Lexikon zu erfassen, das in vier Faszikeln erschienen ist. An
diesem Forschungsauftrag hat Herr Dr. Schulze von Anfang an mitgearbeitet und ihn während
der Auslandsaufenthalte von Herrn Prof. Peek, der die wissenschaftliche Leitung des
Projektes hatte, betreut. Aus dieser Arbeit sind die Themen seiner Dissertation (Die
Erzählung von Hymnos und Nikaia in Nonnos' Dionysiaka") und Habilitation
(Untersuchungen zu den erotischen Erzählungen in den Dionysiaka des Nonnos von
Panopolis")
hervorgegangen. Darüber hinaus beschäftigte er sich mit Fragen der Stellung des Arztes
und der Medizin in der römischen Antike. Neben der wissenschaftlichen Arbeit hat Herr Dr.
Schulze sich ganz besondere Verdienste um die Lehre erworben. Die aus dem Robertinum
hervorgegangenen Philologen und die Lehrerschaft haben ihm viel zu verdanken: Seine
philologische Korrektheit, die Liebe zum Fach und zum Beruf und darüber hinaus die
Fähigkeit, taktvoll und sensibel mit Lernenden umzugehen und Kritik zu üben, haben auf
uns Studierende nachhaltigen Einfluss ausgeübt und uns als Vorbild gedient. Im Robertinum
wurden in den 60er und 70er Jahren und bis heute vor allem Lehrer ausgebildet. Im
allgemeinen waren die Fachkombination Latein-Deutsch oder Latein-Russisch
vorgesehen, es gab auch Studierende der Fächer Griechisch-Russisch. Für Herrn Dr.
Schulze ist es immer selbstverständlich gewesen, in unserem Interesse die Koordination
der Lehramtsfächer und die Zusammenarbeit mit den anderen Disziplinen zu sichern. Er
betreute Diplomarbeiten, nahm Staatsexamina ab, ihm wurde die facultas docendi im Jahre
1974 verliehen. Die Berufung zum Dozenten oder gar die Professur blieben ihm freilich
versagt: Wer die DDR und ihre ungeschriebenen Gesetze kannte, wird sich darüber nicht
wundern. Ein wichtiges Kriterium für berufliches Fortkommen nämlich erfüllte Herr Dr.
Joachim-Friedrich Schulze nicht: Er war nicht Mitglied der Partei der
Arbeiterklasse", er hat seine Staatstreue" nicht unter Beweis gestellt,
und schließlich konnte man nur solche Kader" fördern. Das klingt bitter, ist
es auch. Aber: Auch nach der politischen Wende hat man ihm diese Ehren versagt. Er war
1990 aus dem aktiven Dienst ausgeschieden, und die Universität hat sich öffentlich
bei ihm entschuldigt für die ihm angetane Behinderung seiner beruflichen Entwicklung. Es
wäre möglich gewesen, ihm die Professur nachträglich zuzuerkennen, wie es in anderen
Fällen
geschehen ist, aber es hat wohl in diesem Fall an einflussreichen Fürsprechern gefehlt.
Seit der Gründung des Landesverbandes Sachsen-Anhalt im Deutschen Altphilologenverband
ist Herr Dr. Schulze Mitglied unseres Verbandes. Sein Interesse gilt nach wie vor dem
Altsprachlichen Unterricht, den bildungspolitischen Fragen und der Ausbildung guter
Gymnasiallehrer. Nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst haben wir ihn in Anerkennung
seiner Verdienste zum Ehrenvorsitzenden ernannt, und wir sind dankbar, dass er uns in
dieser Eigenschaft mit Rat und Tat zur Seite steht.
Unseren Glückwunsch anlässlich seines 75. Geburtstages verbinden wir mit vielen guten
Wünschen, mögen ihm die molestiae senectutis möglichst fernbleiben, mögen sein Humor,
seine Tatkraft und sein Interesse für unsere Aufgaben ihm und uns noch recht lange
erhalten bleiben.
Ich bin sicher, dass auch außerhalb Sachsen-Anhalts in Sachsen, Thüringen, Mecklenburg-
Vorpommern und in Brandenburg, aber auch in den westlichen Bundesländern Absolventen des
Robertinums mit Interesse diese Zeilen lesen und sich anlässlich dieses Ehrentages in
Respekt und Dankbarkeit an ihren ehemaligen Lehrer erinnern werden.
Kristine Schulz, Halle/Saale
Der Verlag C. C. Buchner ehrt seinen Herausgeber Prof.
Dr. Klaus Westphalen
Nach 30-jähriger Tätigkeit als Herausgeber und Autor im Verlag C.C.
Buchner hat sich Prof. Dr. Klaus Westphalen zwar nicht von der Lateindidaktik, aber von
seinen Verpflichtungen als verantwortlicher Herausgeber zurückgezogen. Aus diesem Anlass
hatte im vergangenen Juni der Hausverlag" des Jubilars zahlreiche Freunde und
Weggefährten zu einer Abschiedsfeier nach Bamberg geladen. Auf der Gästeliste fanden
sich so klangvolle Namen wie Dr. Karl Bayer, Josef Lindauer, Prof. Dr. Heinrich Krefeld,
Dr. Rainer Nickel und der Vorsitzende des Deutschen Altphilologenverbandes, Prof. Dr.
Friedrich Maier.
In bewegenden Worten erinnerte Josef Lindauer in seiner Ansprache an die gemeinsame
Münchner Zeit, in der sich Klaus Westphalen als Vordenker und geistiger Vater der
Curricularen Lehrpläne einen Namen machte. Die praktische Umsetzung seiner pädagogischen
und didaktischen Grundsätze erfolgte schließlich, als die beiden Herausgeber Klaus
Westphalen und Josef Lindauer im Jahre 1975 zusammen das Unterrichtswerk ROMA aus der
Taufe hoben; mit inzwischen weit über 1 Million verkauften Exemplaren wurde dieses
Lehrwerk zu einem der erfolgreichsten Lateinbücher überhaupt. Auch nachdem Klaus
Westphalen einen Ruf an die Pädagogische Hochschule Kiel angenommen und damit den
gymnasialen Bereich im engeren Sinne verlassen hatte, blieb er seiner erfolgreichen
Herausgeberrolle über die Jahre treu: zu sehr lag und liegt ihm die Sache des
Lateinunterrichts und des humanistischen Gymnasiums am Herzen.
Der Vorsitzende des DAV, Prof. Dr. Friedrich Maier, verglich in seinem Grußwort die
Verdienste des zu Ehrenden mit den Erga des Herakles: Schier unermüdlich und für die
junge Philologengeneration beispielgebend sei sein Einsatz für die Alten Sprachen in
Deutschland gewesen. In Anerkennung seiner Verdienste verlieh der Vorsitzende des DAV dem
Jubilar die Ehrenmedaille in Silber der Elisabeth-J.-Saal-Stiftung.
Höhepunkt dieses Gipfeltreffens" der deutschen Altphilologie war ein
festliches Orgelkonzert im Hohen Dom zu Bamberg. Bei der anschließenden
Abendgesellschaft, die Gunnar Grünke, der Leiter des Bamberger Verlagshauses, zu Ehren
von Prof. Westphalen gab, wurde im Besonderen an die editorischen Leistungen von Klaus
Westphalen erinnert. Es sei nicht zuletzt dessen Verdienst, wenn der Verlag C. C. Buchner
innerhalb von 30 Jahren vom führenden altsprachlichen Verlag Bayerns zum führenden
altsprachlichen Verlag des gesamten deutschsprachigen Raums geworden sei.
Klaus Westphalen werde als einer der großen prägenden Autoren seines Faches in
Erinnerung bleiben. Augenzwinkernd würdigte Herr Grünke auch die menschliche Art seines
Herausgebers Klaus Westphalen: Selbst in den härtesten sachlichenDiskussionen habe er
stets ein Klima des persönlichen Wohlwollens und der Sympathie erzeugt.
Der Verfasser dieses Berichts erlaubt sich, an dieser Stelle seine besten Wünsche für
den wohlverdienten Ruhestand zu wiederholen; mit Bewunderung und Dankbarkeit erinnert er -
auch stellvertretend für alle Autoren, die mit dem Geehrten zusammenarbeiten durften, -
an die herausragenden menschlichen und fachlichen Qualitäten seines Mentors und Freundes
Klaus Westphalen. Besondere Erwähnung verdient sein stets schülerorientiertes und
innovatives Denken, das in der neuen, gemeinsam herausgegebenen Lehrbuchgeneration FELIX
seinen Niederschlag gefunden hat.
Klaus Westphalen hat in den letzten Jahrzehnten mit überzeugenden Ideen und
außergewöhnlichem Engagement für die Vermittlung der klassischen Sprachen und die Werte
des Humanismus in Wort und Schrift gestritten - verpflichtet dem Wahlspruch, den er selbst
vor Jahren für die Pädagogische Hochschule Kiel ausgewählt hat: Humanitas implantanda.
Clement Utz, Walderbach
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