Tilman Bechthold- Hengelhaupt: Computer im Lateinunterricht |
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Tilman Bechthold - Hengelhaupt:
Computer im Lateinunterricht -
Überlegungen und Erfahrungen
Die moderne Informationstechnologie stellt dem Lateinlehrer eine kaum überschaubare Fülle von sinnvollen Möglichkeiten und Materialien bereit. Dennoch ist es noch keine Selbstverständlichkeit, dass der Computer regelmäßig im Lateinunterricht eingesetzt wird. Selbst diejenigen Kollegen, die sich für ihre privaten Zwecke oder für die Unterrichtsvorbereitung der modernen Informationstechnologie bedienen und diese Kenntnisse leicht auch für die Schule selbst nutzbar machen könnten, bedienen sich dieser Technik kaum. So liegt ein Feld brach, das für den Lateinunterricht, ja für die Schule insgesamt fruchtbar werden könnte.
Im folgenden soll nun untersucht werden, wie der Computer im Lateinunterricht verwendet werden kann und warum eine solche Neuerung in der Methode sinnvoll ist.
1. Die Ausgangssituation
Dort, wo man noch nicht begonnen hat, Computer für den Unterricht einzusetzen, dürften die Probleme meistens am Ausbildungs- und Kenntnisstand der Kolleginnen und Kollegen liegen, aber auch daran, dass die Möglichkeiten, die der Computer bietet, zu wenig bekannt sind. Hier ist eine breite Debatte vonnöten, zu der auch dieser Artikel beitragen will.
Woran es nämlich nicht mangelt, das ist das Material, auf dem der Unterricht aufbauen kann. Das Angebot an Software nimmt allmählich zu. Allerdings stößt man, sobald man die entsprechenden Lizenzen erwerben will, auf das Problem der Finanzen. Wenn überall die Gelder knapp werden, mag es im Einzelfall unmöglich oder sehr schwierig sein, neue Software zu erwerben. Ohne diese Software bewerten zu wollen, versuche ich deshalb im Folgenden zu zeigen, wie man auch ohne irgendwelche Anschaffungen, die ja immer den Schuletat belasten, die neue Methode ausprobieren kann.Das Internet hält eine Fülle von Texten für den Lateinlehrer bereit (s. u. Abs. 2.2)
Dieses Material kann mit Hilfe der Bürosoftware, also vor allem der Textverarbeitungsprogramme, wie sie etwa die amerikanische Firma Microsoft oder die deutsche Firma Star Division anbieten, den Schülern zugänglich gemacht werden. Zusätzlich lassen sich mit diesen Programmen auch sinnvolle Übungsvorlagen für den Computer erstellen.
Diese Bürosoftware hat einige Vorteile. Sie dürfte an den Schulen ohnehin im Regelfalle vorhanden sein, da sie für die Unterrichtsfächer benötigt wird, in denen die Schüler in die Arbeit am Computer eingeführt werden (in Baden-Württemberg: Informationstechnische Grundbildung [ITG] im Rahmen des Mathematik- Unterrichts der 8. Klasse). Sie ist zudem sehr "mächtig", d. h. sie weist eine Fülle von Funktionen auf, die dem Lehrer die Arbeit erleichtern (z. B. die Sortier-, Such- oder Tabellenfunktionen).
Ein Nachteil ist allerdings nicht zu übersehen: Wenn man für jede Stunde neue Arbeitsblätter mit Hilfe eines Textverarbeitungsprogramms erstellt, so ist das relativ zeitaufwendig. Wer öfter mit Klassen am Computer arbeitet, der wird sicher auch auf die bereits entwickelte Lernsoftware zurückgreifen. Möglich ist allerdings auch, dass die Kollegen, die mit Schülern am Computer arbeiten, eine Sammlung der verwendeten Dateien erstellen, auf die jeder zurückgreifen kann. Diese gemeinsame Verwendung der Ressourcen ist ja gerade bei digitalisiertem Arbeitsmaterial, also bei Arbeitsblättern, die auf Festplatte oder Diskette gespeichert sind, besonders einfach. Einiges Material, das im Unterricht verwendet werden kann, steht auch im Internet, z. B. bei der Zentralstelle für Unterrichtsmedien unter der URL ,http://www.zum.de` bereit. So kann man hoffen, dass nach und nach der Zugang zu kostenlosem und nützlichem Material einfacher wird, so dass auch die Arbeitsbelastung, die mit der Vorbereitung von Computer-Stunden anfällt, geringer wird.
Im folgenden werde ich von Erfahrungen mit dem Lateinunterricht berichten, die ich selbst gemacht habe, um darauf zu untersuchen, wie diese Erfahrungen sich, auch im Blick auf eine künftige Verbreitung dieser Arbeitsform, in didaktischer und methodischer Hinsicht auswerten lassen.
2. Erfahrungsbericht
Im Schuljahr 1996/97 habe ich am Albert-Einstein-Gymnasium Ravensburg den Lateinunterricht in den Klassen 7, 8 und 10 (jeweils Latein als 2. Fremdsprache) zu einem guten Teil im Computerraum der Schule abgehalten. Der Unterricht fand allerdings nicht durchgehend am Bildschirm statt; in den Klassen 7 und 8 begann er z. B. mit der üblichen Besprechung der Hausaufgaben, die wie gewöhnlich mit Hilfe des Lehrbuchs zu erledigen waren. Die Schüler saßen in den Bankreihen in der Mitte des Computerraums. In der anschließenden Grammatikphase begaben sich die Schüler an die Bildschirme, und zwar in Paaren oder Gruppen von bis zu drei Schülern. Zu den Computern ist zu sagen, dass auf den Festplatten das Betriebssystem Windows 3.11 und (u.a.) die Programme Works® und Word® von Microsoft installiert sind; für die Schüler ist es möglich, von Diskette geladene Dateien zwischenzuspeichem, aber nicht, die Festplatte zu verändern. Jede Gruppe erhielt eine Diskette mit vorbereiteten Dateien. Die Namen des jeweiligen Programms und der Datei, die geladen werden sollte, wurden an die Tafel geschrieben, damit die Schüler wussten, was zu tun ist. Ein Beispiel für ein einfaches Grammatikprogramm, das jeder Benutzer von Word mit ein wenig Erfahrung selbst nachbilden kann, ist in Anhang 1 angefügt.
2.1. Grammatikarbeit
Die Arbeit mit dieser Tabelle in der Kl. 10 verlief nun so: Die Schüler öffneten die Datei. Nach zwei bis drei Unterrichtsstunden am Computer ging das in allen Klassen reibungslos vonstatten. Die Schüler "zogen" nun mit dem sog. "drag & drop"-Verfahren die passenden lateinischen Wörter in die dafür vorgesehenen Zellen (Kästen) der Tabelle, oder in einer anderen Version füllten sie Tabellen aus, arbeiteten mit Lückentexten etc. Die Möglichkeiten, welche die erwähnten Programme bieten, sind sehr vielfältig.
Der Lehrer zieht sich entweder ganz zurück oder geht zu einzelnen Gruppen bzw. Paaren und bespricht Probleme, die bei der Bearbeitung der Aufgaben entstehen. Die Lösung wurde schließlich über eine Folie mit dem Tageslichtprojektor an die Wand projiziert.
Eine Variante ist die Erstellung einer Tabelle mit einem Tabellenkalkulationsprogramm, etwa Works®, das auch zur normalen Ausstattung eines Schulcomputers gehören dürfte. Eine solche Tabelle ist auch leicht erstellt; man muss im Prinzip nur wissen, wie man die Breite der Spalten verändert und die Tabelle formatiert. Wiederum wird eine Folie mit den richtigen Ergebnissen auf den Tageslichtprojektor gelegt. Es ist allerdings auch möglich, die Programme mit einigen einfachen Funktionen so einzurichten, dass sie anzeigen, ob die Ergebnisse, welche die Schüler in die Tabelle eingetragen haben, richtig sind. Allerdings lassen sich die Ergebnisse nicht effektiv verbergen, wenn man nicht über Programmierkenntnisse verfügt, d. h. dass findige Schüler die Liste mit den richtigen Ergebnissen entdecken können.
2.2. Übersetzungsarbeit
Die Basis für die Arbeit mit Texten ist das Internet. Hier kann man so gut wie alle lateinischen Texte im Original finden, die in der Schule verwendet werden. Die entsprechenden URLs (Internet-Adressen) hat Franz Peter Waiblinger in seinem Artikel "Alte Sprachen und neue Medien" in Forum Classicum 2/1997 aufgelistet; dort kann man sich auch über den Umgang mit diesem Medium informieren.
Die Frage, die künftig größere Aufmerksamkeit erfordern dürfte, ist diese: Was macht man denn nun ganz konkret mit den aus dem Internet gewonnenen digitalisierten Texten? Hier kann ich nur von meinen Erfahrungen berichten, die nach meinem Eindruck zeigen, dass es sich lohnt, diese Arbeitsform weiterzuentwickeln. Das Entscheidende scheint mir zu sein, dass die Schüler auf diese Form des Lateinunterrichts sehr positiv reagierten.
Um mit dem Textverarbeitungsprogramm Word von Microsoft zu arbeiten, gehe ich wie folgt vor:
· die Dateien, die ich aus dem Internet geholt habe, und die in HTML oder im txt-Format vorliegen, rufe ich (am heimischen Computer) unter Word auf und formatiere sie so in .doc-Dateien um.
· Mit dem Befehl "Tabelle einfügen" im Menu "Tabelle" erstelle ich eine Tabelle mit zwei Spalten und fünf bis sechs Zeilen ("Gitternetzlinie" im Menu "Tabelle" muss dazu immer aktiviert sein), markiere dann die Kapitel, Sätze oder Textabschnitte einzeln und ziehe sie (per drag&drop) nacheinander in die Zellen der linken Spalte der Tabelle.
Weitere Wege ergeben sich aus Experimenten oder dem Studium einschlägiger Handbücher oder aus der online-Hilfe.
· In die rechte Spalte füge ich nun Anmerkungen, Übersetzungshilfen oder Vokabelangaben ein.
· Die so erstellte Datei wird (über den Windows-Explorer [Win 95] bzw. Dateimanager [Win 3.x]) auf eine ausreichende Anzahl Disketten überspielt.
· Im Unterricht bekommen die Schüler wiederum die Disketten ausgehändigt; sie laden die Dateien und "teilen" das Arbeitsblatt mit dem Befehl "Teilen" im Menu "Fenster", so dass im oberen Fenster die Tabelle mit dem lateinischen Text erscheint. Im unteren Fenster haben die Schüler die Übersetzung, die sie gerade über die Tastatur eingeben, vor Augen. In einer solchen Unterrichtsstunde wird also kein Papier verwendet.
Die Schüler können den Text nun zunächst optisch aufbereiten, um die Übersetzung zu vereinfachen, indem sie z. B. Subjunktionen und Prädikate in besondere Schriftarten setzen und dadurch hervorheben oder den Satz in einzelne Absätze unterteilen, so dass die einzelnen Konstruktionen deutlicher hervortreten. Auch Farbe lässt sich gut einsetzen.
Die Schüler diskutieren nun ihre Übersetzungsideen, einigen sich auf die Version, die ihnen am sinnvollsten erscheint, schreiben diese auf und speichern sie auf die Diskette. Am Ende der Stunde können die Ergebnisse, wie bei Gruppenarbeit üblich, im Lehrer-Schüler-Gespräch besprochen werden.
Für diese Übersetzungsphase gelten die Gesetze der Gruppenarbeit, und zwar sowohl für die Schüler als auch für den Lehrer. Eine gewisse "kreative Unruhe" muss in Kauf genommen werden. Zu den Aufgaben des Lehrers gehört, dass die Anweisungen, die ich am Anfang einer Arbeitsphase erteile, eindeutig und klar sein müssen; der
Zeitrahmen muss den Schülern bekannt sein, und die Schüler müssen daran gewöhnt werden, die Arbeit nach einer entsprechenden Aufforderung auch tatsächlich zu unterbrechen, etwa wenn das Ergebnls überprüft werden soll. Umgekehrt habe ich bemerkt, dass es für mich zunächst ein gewisses Maß an Selbstdisziplin erforderte, mich für einige Zeit von der altgewohnten Lehrerrolle zu verabschieden und tatsächlich nicht in den Arbeitsprozess der Schüler einzugreifen, indem ich diesen etwa unterbrach, um zusätzliche Erläuterungen zu geben oder Fragen zu stellen. Derartige Unterbrechungen sind auch deswegen nicht sinnvoll, weil der Bildschirm die Aufmerksamkeit ungleich stärker fesselt als ein Blatt Papier. Er kann, wenn man bei der Organisation des Stundenablaufs nicht Acht gibt, in eine Art Konkurrenz zum Lehrer treten, die dann unnötige und unfruchtbare Reibungen erzeugt.Diese Eigenschaft des Computers lässt es auch angeraten erscheinen, gerade im Blick auf die Übersetzungsarbeit den herkömmlichen Unterricht, d.h. das Lehrer-Schüler-Gespräch für die Erarbeitungsphase beizubehalten. An Tastatur und Bildschirm können die Schüler dann ihre eigenen Wege zu einer gelungenen Übersetzung erkunden.
Die Schüler schätzten die Arbeit am Computer sehr. Zunächst waren sie etwas erstaunt oder gar enttäuscht, dass die Programme, die sie bearbeiten sollten, so gar nichts Spektakuläres hatten und dass es sich nicht um Spiele handelte. Derartiges habe ich bewusst vermieden, denn ich vermute, dass ein Effekt sich um so schneller abnutzt, je stärker er auf Überraschung und Überrumpelung setzt. Nach einiger Zeit haben alle Klassen teilweise geradezu begeistert mitgearbeitet. Es kam vor, dass eine Klasse den Klassensprecher nach vorne schickte, der mich bitten sollte, sie doch wieder einmal vor dem Bildschirm übersetzen zu lassen.
3 . Begründungen und didaktische Probleme
Die Frage, wie der Unterricht am Computer für das Fach Latein begründet werden kann, ist keine akademische Fingerübung, sondern ihr kommt eine zentrale praktische Bedeutung zu, da einige Widerstände gegen diese Neuorientierung des Lateinunterrichts vorgebracht werden, mit denen man sich sorgfältig auseinandersetzen muss. Erliegt das Fach hier nicht modischen Trends, biedert es sich nicht einer Kultur an, von der es sich doch gerade absetzen sollte? Computer können nur dann in höherem Maße im Lateinunterricht eingesetzt werden, wenn die Lateinlehrer dies als eine sinnvolle Aufgabe erachteten. Hier wird die Position vertreten, dass es gute Gründe dafür gibt, die moderne Informationstechnologie in den Lateinunterricht einzubeziehen.
Diese Begründungen können letztlich nur von einer allgemeinen Bestimmung der Aufgabe der Schule her entwickelt werden. Der Computer gewinnt insbesondere dann seinen Sinn, wenn der Lehrer der Selbständigkeit einen hohen Rang als pädagogischem Leitbegriff zumisst. Ohne weitergehende pädagogische Überlegungen, die hier allerdings nicht angestellt werden können, geraten Veränderungen der Methodik leicht zum zufälligen und letztlich modischen Beiwerk. Der Begriff der Selbständigkeit hat sich als gemeinsamer Kern in den Diskussionen um die Schulreform, die in den letzten Jahren geführt wurde, herausgeschält. Beispielhaft seien die Denkschrift der Kommission "Zukunft der Bildung" und das neueste Buch des norwegischen Bildungsforschers Per Dalin genannt (s. u., Literatur).
Die Begründungen des LU sind in dem Maße stichhaltig, als er eine sinnvolle Aufgabe im Konzert der Fächer erfüllt. Die Schule darf nicht jede beliebige an sie herangetragene Aufgabe übernehmen, aber sie darf sich, wenn sie sich in vernünftigem Sinne und Maße als modernes Dienstleistungsunternehmen versteht, gegenüber neu entstehenden Aufgaben nicht verschließen. Für die hier beschäftigende Frage ist dabei relevant, dass die Schüler auf die Arbeitswelt vorbereitet werden müssen. So unklar es auch ist, wie diese Arbeitswelt in Zukunft aussehen wird, so wenig dürfte doch bestritten werden, dass die moderne Informationstechnologie in ihr eine große Rolle spielen wird.
Bisweilen wird hier eingewendet, dass einige Schüler bereits zu Hause Computer verwenden und daher auf den Computer in der Schule verzichten können. Aber dieses Argument überzeugt nicht. Mit gleichem Recht könnte man gegen den Literaturunterricht einwenden, dass es sehr wohl Elternhäuser gibt, in denen die Kinder an wertvolle Literatur herangeführt werden, und dass die Schule diese Aufgabe daher guten Gewissens an die Eltern abgeben dürfe. Die Schule hat die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass jeder Schüler - und vor allem jede Schülerin, denn der Computer ist weitgehend, aus welchen Gründen auch immer, eine Domäne des männlichen Geschlechts in seiner bzw. ihrer Schulzeit Sicherheit in dieser Form geistigen Arbeitens gewinnt. Neben das Argument der Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern tritt auch ein soziales Argument, denn schließlich besitzt nicht jede Familie einen Computer. Endlich trägt die Schule auch eine Verantwortung dafür, dass die Schüler in die Lage versetzt werden, sich von einer so wichtigen kulturellen Realität wie derjenigen der Informationstechnologie selbst ein Bild machen können. Daher ist es auch durchaus am Platze, mit den Schülern auch über die verschiedenen Arbeitsformen zu reflektieren.
Die zweite Linie der Begründungen ist didaktisch-methodischer Natur. Da ja auf keinen Fall zu erwarten oder auch zu wünschen ist, dass der LU vollständig auf Computer umgestellt wird, bietet es zunächst einfach einmal eine Variation, wenn ein Teil der zur Verfügung stehenden Stunden am Bildschirm stattfindet.
Zum zweiten kann man auf die Faszination hinweisen, die Computer ausüben, und auf das Vergnügen, das eine solche Arbeitsform bereiten kann - nur eine veraltete Sicht von Schule, Bildung und Erziehung wird das deswegen ablehnen, weil das Motiv des Vergnügens nichts in der Schule zu suchen habe. Alles, was motiviert, ist zuzulassen, sofern es nicht sachfremd ist. Warum soll der LU nicht Spaß machen, wenn dabei gleichzeitig die Ziele des Fachunterrichts verfolgt und erreicht werden? Wichtig ist nur, dass es nicht in erster Linie das Vergnügen und die Faszination des Lehrers sind, die hier befördert werden, sondern dass die Schüler im Mittelpunkt stehen.
Das wichtigste Argument für den Lateinunterricht am Computer scheint mir aber zu sein, dass bei dieser Arbeitsform die Schüler in weit höherem Maße am Unterrichtsgeschehen beteiligt sind als beim Frontalunterricht. Theoretisch könnten die Schüler sich, wie es ja leider bei der üblichen Gruppenarbeit zu beobachten ist, in unbeobachteten Momenten vom Bildschirm abwenden, um zu plaudern oder andere unterrichtsfremde Dinge zu tun. Ich habe aber beobachtet, dass das sehr selten vorkommt.
Kann man im hier skizzierten computergestützten Lateinunterricht nun wirklich spezifische Eigenschaften und Vorteile dieses Mediums pädagogisch fruchtbar machen? Ich meine, allein schon die Arbeit mit Textverarbeitungssystemen hilft dem Lehrer, bestimmte Vorzüge des Computers als Medium zu nutzen. Eine Eigenschaft des Papiers ist es, dass man einmal Geschriebenes kaum wieder entfernen kann. Beim Computer hingegen geschieht das auf Knopfdruck, wenn der Benutzer es will.
Neben die herkömmliche Arbeit mit dem Papier, bei der Fehler unnachsichtig festgehalten werden und bei der Lehrer und Schüler die Fehler analysieren, wird also in zunehmendem Maße eine Arbeitsform treten, bei der immer nur die jeweils neueste Version der Ergebnisse präsent ist, während die verworfenen Versionen, die "Fehler", verschwunden sind. Dabei ist es in Zweifelsfällen immer möglich, auch die fragliche ältere Version zu speichern. Das Lernen orientiert sich hier aber grundsätzlich eher am Positiven, der guten neuen Idee, als am Negativen, der Aufgabe nämlich, die Fehler zu überwinden. Dieses Prinzip kann durchaus belebenden frischen Wind in die Schule bringen, die, wie man sagen kann, systematisch daran krankt, viel zu sehr auf die Fehler, also auf das Misslingen konzentriert zu sein, anstatt dem Gelingen Raum zu geben. Eine der Beobachtungen, die ich mit Klassen am Computer machte, war die, dass ich viel häufiger Ausrufe der Freude oder des Erfolgs hörte als beim herkömmlichen Unterricht.
Fazit
Die Möglichkeiten, die der Computer dem Lateinunterricht bietet, liegen offen zu Tage. Jetzt kommt es darauf an, Erfahrungen zu sammeln.
Dass sich die lateinische Sprache besonders für die Arbeit am Computer eignet, das liegt sicher an einer Affinität zwischen dieser und der ihr angemessenen Didaktik auf der einen und dem Medium Computer auf der anderen Seite. Beide treffen sich darin, dass sie in besonderem Maße nicht allein komplexes Denken, sondern Denken in Systemen beim Schüler fördern und trainieren. Friedrich Maier führt in seinem programmatischen Aufsatz "Latein auf gefestigter Basis in die Zukunft. Ansätze zu einer neuen Begründung des Faches" in FORUM CLASSICUM 1/97 das "Erfassen komplexer Zusammenhänge" als eines der vier übergreifenden Ziele des Lateinunterrichts an. Es erscheint mir als eine der erfolgsträchtigsten Strategien, wenn man dieses Ziel auch in der öffentlichen Diskussion klar herausstellt. Wenn sich das Fach auch im Unterrichtsalltag den neuen Technologien öffnet, dann trägt das sicher auch dazu bei, seine Stellung in der Öffentlichkeit zu festigen.
Anhang: Beispiele
1. Grammatik-Übung Latein 10
Markiere die blauen Formen und ziehe sie in die passende Zelle!
oblivisci didici disci serviat confitendo
sequebar amem deficiat loquor dimisisti
serviri amantem amandi amaverint posset
Indikativ Konjunktiv Infinitiv Partizip Gerundium
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Präsens
Aktiv
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Präsens
Passiv
______________________________________________________________________________________
Deponens
Präsens
______________________________________________________________________________________
Imperfekt
______________________________________________________________________________________
Perfekt
Aktiv
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2. Beispiel für einen Text (Cicero, Verres I 1), der in der Cicero-Seite im Internet (URL: http://www.dla.utexas.edu/depts/classics/documents/Cic.html) gefunden und dann in eine Tabelle umgeformt wurde. Der zweite Absatz ist so dargestellt, wie ein Schüler (bzw. eine Gruppe) ihn umgeformt haben könnte.
______________________________________________________________________________________
Quod erat optandum maxime, iudices, et quod unum ad invidiam ad ... sedandam: beachte die
vestri ordinis infamiamque iudiciorum sedandam maxime pertinebat, Gerundivkonstruktion
id non humano consilio, sed prope divinitus datum atque oblatum
vobis summo rei publicae tempore videtur. tempus: hier "Gefahr"
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Inveteravit enim iam opinio perniciosa rei publicae,
vobisque periculosa,
quae non modo apud populum Romanum, sed etiam
apud exteras nationes omnium sermone percrebruit: percrebresco: von creber
his iudiciis, Setze die Prädikate kursiv und rücke
quae nunc sunt, die Gliedsätze ein "!
pecuniosum hominem, Was für eine Konstruktion liegt von his
quamvis sit nocens, bis damnari vor ? Vergrössere das
neminem posse damnari. Wort, von dem sie abhängt !
______________________________________________________________________________________Literatur
Bildungskommission NRW: Zukunft der Schule - Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission "Zukunft der Bildung..." beim Ministerpräsidenten des Landes NRW, Neuwied etc. (Luchterhand) 1995
Rainer Busch, Lernen aus dem Netz. Multimedia und Internet - Anlaß für eine Bildungsreform. c't (Magazin für Computer-Technik) Juni 1997, S. 280-283.
Dalin, Per: Schule auf dem Weg in das 21. Jahrhundert, Neuwied etc. (Luchterhand) 1997 (Beiträge zur Schulentwicklung)
Nicola Döring: Lernen und Lehren im Internet, in: Bernad Batinic (Hrsg.), Internet für Psychologen, Hogrefe 1997, S. 359 bis 388 (mit einer umfangreichen Literaturliste zum Thema Informationstechnologie und Unterricht; das Kapitel kann als .pdf-Datei unter folgender URL heruntergeladen werden: http://www.hogrefe.de. Zum Lesen benötigt man den Acrobat-Reader von Adobe, der über die genannte Adresse ebenfalls zu beziehen ist.
Friedrich Maier: Latein auf gefestigter Basis in die Zukunft. Ansätze zu einer neuen Begründung des Faches, in: FORUM CLASSICUM 1/97, S. 1-8
Franz Peter Waiblinger: Alte Sprachen und neue Medien, in: Forum Classicum 2/97; vgl. ebenfalls die unter ,http://www.klassphil.uni-muenchen.de/waiblinger/' angebotenen Texte.
Eine leicht veränderte und dem Medium angepasste Version dieses Artikels ist im Internet unter der URL ,http://www.w-4.de/~tbhahfn/comla.html' zu beziehen; dort sind auch die Links zu den digitalisierten Textsammlungen integriert. Auf meiner Homepage habe ich auch eine Übersicht über meine pädagogischen Arbeiten zugänglich gemacht.
Tilman Bechthold-Hengelhaupt, Friedrichshafen
Rupert Farbowski: Latein - eine starke Marke
1. Einleitung
"Altsprachler gehen oft einen eigenen Weg. Sie können sich ein Stück geistiger Freiheit, ein Stück Gelassenheit und Souveränität leisten ... Wer sich mit den Alten beschäftigt, bleibt ein wenig skeptisch ... Das paßt so manchem Zukunftsstrategen nicht in die schöne neue Lernwelt mit ihren Nivellierungstendenzen. Die klassischen Sprachen schaffen Distanz ...". So oder ähnlich Günter Reinhart in seinen Reflexionen über "Nutzen und Wert" der Alten Sprachen.1
Um diese "schöne neue Lernwelt" - hier aber in den Alten Sprachen - geht es in den folgenden, jeglichen Anspruchs entsagenden Reflexionen, um ein bisschen Skepsis und Kritik quasi aus dem Lehnstuhl des distanzierten Betrachters, um die geistige Freiheit also, einmal das zu sagen, was man tun und lassen sollte, aber auch um das Stück Gelassenheit und Souveränität, wenn dann tatsächlich - aufgrund höherer und tieferer Einsichten unterschiedlichster Art - alles so bleibt, wie es nun einmal ist.
Anstoß für nachfolgende Überlegungen war das Lateinkapitel im "Tatort: Gymnasium" von Hans Maier2, dann aber auch die Diskussion um einen vertikalen oder horizontalen Sprachunterricht im Mitteilungsblatt des Bayerischen Altphilologenverbandes3, die aus für mich nicht ganz nachvollziehbaren Gründen von der Redaktion dieses Blattes leider für abgeschlossen erklärt worden ist. Nachdem nun also Günter Reinhart dargelegt hat, warum er für die Alten Sprachen an der Schule ist, möchte ich aus meinen bisherigen - zugegebenermaßen keinesfalls repräsentativen - Erfahrungen und Beobachtungen einmal deutlich machen, unter welchen Umständen ich für Latein an der Schule bin, immer freilich von der festen Überzeugung geleitet, dass Latein kein "experimentelles", sondern ein traditionelles Schulfach ist, darauf angelegt, von einer Lehrer, Eltern- und Schülergeneration an die nächste weitergegeben zu werden, und dass zumindest in schwierigeren Zeiten die schlichte und nackte Existenz des Faches an den Schulen und die Sicherung derselben Vorrang haben muss vor und Voraussetzung ist für alle Fragen nach dem Wozu, dem Was und dem Wie.
Denn - ist das Fach nicht mehr da, stellen sich auch die Fragen nicht mehr.
Gekennzeichnet erscheint mir die Situation des AU zweieinhalb Jahrzehnte seit der sogenannten kopernikanischen Wende einerseits durch eine beachtliche Publikationsvielfalt und darauf aufbauender unterrichtlicher Konzepte, andererseits aber wohl auch durch eine immer deutlicher werdende Diskrepanz zwischen Unterrichtsidee und -wirklichkeit. Letztere zeigt sich vor allem auch im Wegfall des Griechischunterrichts, starken Einbrüchen im lat. Ober- und Unterstufenunterricht, wobei im wesentlichen der lat. Mittelstufenunterricht von Klasse 7-11 verblieben ist.
Theorieüberschuss also auf der einen Seite und ein gewisser Nachfragemangel auf der anderen zeichnen die Lage des AU nach einem Vierteljahrhundert seit der Bildungsreform. Begreift man nun Erfolg als Folge von Tun und Lassen, dann stellt sich allerdings die Frage, ob die Ursache für den Nachfragemangel allein im vielzitierten Zeitgeist zu suchen ist, oder ob dieser Mangel nicht vielleicht auch auf einer Reihe von hausgemachten Mängeln beruht.
2. Zum Verhältnis von Theorie und Praxis
Wenn es nun wirklich so ist, dass, wie es ein Kollege formulierte, die Richtlinien zwar immer dicker werden, das im Unterricht Erreichbare dagegen immer dünner, dann ist es tatsächlich an der Zeit, verstärkt und intensiv einmal darüber nachzudenken, wie das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis wieder ins Lot gebracht, wie die Schere zwischen Idee und Wirklichkeit ein wenig mehr geschlossen werden kann.
Was m. E. der DAV hierfür vor allem braucht, ist ein Ausschuss für praxisnahe Didaktik und Methodik, wenn vielleicht schon nicht in der Realität, so doch wenigstens in den Köpfen seiner Mitglieder, zunächst einmal für den im wesentlichen verbliebenen Bereich des AU, den LU in der Sekundarstufe I, da ja bekanntlich an Theorie kein Mangel besteht, diese ihrerseits aber auch nicht verhindern konnte, dass sich der AU nach wie vor in der Defensive sieht.
Hauptanliegen wäre zunächst einmal eine klare Bestimmung des Verhältnisses von Fachdidaktik und Fachpolitik, wobei Fachpolitik m. E. zugleich Unternehmenspolitik mit der Aufgabe sein muss, den von Günter Reinhart so bezeichneten "Nutzen und Wert" der Alten Sprachen (nicht nur auf einem "hochfrequenten" akademischen Abstraktionsniveau, das zumindest extra muros kaum jemandes Ohr mehr wirklich erreicht, sondern) in einer für ein breites Publikum versteh- und nachvollziehbaren Argumentation und Sprache darzustellen.
Es geht dabei also um einen Perspektivenwechsel, nicht um die akademische Bedeutung des Faches aus der Innensicht des Fachleiters oder Seminarlehrers, sondern um den aus der Außensicht von Schülern, Eltern und Öffentlichkeit tatsächlich erkennbaren, und somit greif- und begreifbaren Nutzen und Wert des Faches, in übertragenem Sinne um den in der Unternehmenspolitik immer stärker ins Blickfeld geratenden "shareholder value" also.
Folgende wären aus fach- und unternehmenspolitischer Sicht die beiden Aufgaben dieses "Ausschusses":
1. Festlegung einer leicht nachvollziehbaren und einem breiten Publikum vermittelbaren Zielsetzung des LU von Klasse 7 bis 11 zum Zwecke der Festigung der Position des Faches in der Sek I. Fehlt nämlich die Orientierung auf ein klares Ziel oder sieht man vor lauter Zielen das Ziel nicht mehr, findet man auch nicht mehr oder nur noch mit großer Mühe die Wege dorthin, man verirrt sich auf Irrwegen. Und vermutlich hat ein Vierteljahrhundert didaktischer Diskussion nicht nur Wege aufgezeigt, sondern wohl auch manchen Irrweg. Von einigen wird im folgenden die Rede sein.
2. Klare Trennung und Scheidung von traditioneller und experimenteller Didaktik, zwischen solidem Handwerk und spekulativer Innovation, d. h. Hinweis und Weisung auf erprobte, sichere und vor allem gefahrlose Wege zum Ziele, die auch einen Mittelweg und Ausgleich darstellen zwischen dem, was Schüler aufgrund gelegent
lich eher etwas realitätsferner Richtlinien können sollen, und dem, was sie aufgrund tatsächlicher Begabung, Interessenlage und des gesamtgesellschaftlichen Umfeldes leisten und können wollen.Es geht also um eine Bewertung und Beurteilung der didaktischen und methodischen Theorie nach dem Kriterium der Praktikabilitat, um die Frage, ob sie geeignet ist, die Position des Faches zu sichern, zu festigen und auszubauen, oder ob sie - wenn auch ungewollt - eher das Gegenteil zur Folge hat. Konkreter und "marktnäher" formuliert geht es aus der Sicht von Eltern und Schülern um die bei jeder Investition von Kapital zu berücksichtigende und schließlich entscheidende Frage nach dem "inneren Wert" des Unternehmens, an dem man sich beteiligen und in das man wenn zwar nicht sein Geld, so doch aber seine Zeit und Energie investieren will, auf unser Unternehmen appliziert und aus der Sicht des Lehrers um die Frage also, ob sich mit den derzeit intra muros favorisierten "Geschäftsideen", die ich kurz einmal mit den Stichworten historische Kommunikation4 und zweiphasiges Integrationsmodell5 umreißen möchte, extra muros auf einem freien Markt von Angebot und Nachfrage nicht nur in einer Anlaufphase, sondern auch in einer näheren und ferneren Zukunft die Position am Markt behaupten lässt, anders ausgedrückt um die Frage, ob aufgrund des von seinen Geschäftsideen abhängigen inneren Wertes des "Unternehmens Lateinunterricht" unter den derzeit vorherrschenden "Marktbedingungen" eher mit "steigenden oder fallenden Kursen" zu rechnen ist.
Letztlich geht es also darum, dass LU nicht nur noch an altsprachlichen Hochburgen, sondern auch an durchschnittlichen Gymnasien mit durchschnittlichen Lehrern und durchschnittlichen Schülern auch im Jahre 2000 und danach noch stattfindet. Denn auch der LU lebt wohl - wie die meisten anderen Unternehmen - in erster Linie vom Breiten- und dann erst vom Spitzensport.
3. Überdenken der Ziele
Wie oben bereits angedeutet, hat eine Fachpolitik, die den Nutzen und den Wert des AU der Öffentlichkeit verdeutlichen will, zunächst einmal die Aufgabe, einem möglichst breiten, aus Eltern und Schülern bestehenden Publikum mit möglichst durchschlagenden Argumenten die Zielsetzung des LU in der Sek 1 für jeden versteh- und nachvollziehbar darzulegen. Dass das Konzept von der Multivalenz des Lateinischen in seiner vollen Länge, Tiefe und Breite mit all seinen Fachleistungs- und Lernzielkatalogen in dieser Hinsicht wohl eher von akademischer Bedeutung ist und infolgedessen in der Öffentlichkeitsarbeit nur sehr reduziert und modifiziert zum Einsatz kommen kann, liegt wohl auf der Hand.
Die Argumente dieser Konzeption, ja der gesamten Lernzieldiskussion der letzten Jahre müssten einmal auf ihre Außenwirkung bzw. Werbewirksamkeit hin untersucht und wenn möglich auch in eine gewisse Reihen- bzw. Rangfolge gebracht werden. Was ich meine, ist dies: Angenommen, einer unserer Verbandsvertreter würde in einer Talkshow vor einem breiten, nichtfachlichen Publikum nach dem Sinn und Zweck des LU von Klasse 7 - 11 befragt, und könnte aus Zeitgründen nur ein Argument nennen, und zwar das wichtigste, überzeugendste, durchschlagkräftigste. Vielleicht bliebe dann ja doch noch ein bisschen Zeit für das zweit- und drittwichtigste. Was wäre wohl die Antwort auf die Frage nach dem Primären, Sekundären, Tertiären?
Man kann nun wohl davon ausgehen, dass "historische Kommunikation" auf der Suche nach dem überzeugendsten Argument kaum ein befriedigende Antwort darstellen dürfte, wenn man bedenkt, dass historische Kommunikation auch ohne Latein auf vielfache Weise betrieben werden kann. Um in einen "Dialog mit einem Text" zu treten, ihn "als eine sinnvolle Mitteilung zu verstehen", daran "Beziehungen zur eigenen Zeit und Situation zu entdecken"6, braucht es nämlich kein Latein. "Soll aber die Wirkung des Lateinunterrichts über die Fachgrenzen hinaus stichhaltig begründet werden, so müssen die ausschließlich oder in überragendem Maße diesem Fach eigenen Ziele mit Nachdruck zur Kenntnis gebracht werden .... Was Latein leistet, muss von dem abgehoben werden, was andere Fächer, insbesondere andere sprachliche Fächer leisten."7 Hinzu kommt, dass dieser Begriff als "Aushängeschild" für unser Angebot unter fachpolitischen oder "Marketingsgesichtspunkten" nicht nur unter einem gewissen Mangel an Evidenz und Plausibilität zu leiden scheint, sondern wohl auch "falsche" Assoziationen weckt, so dass also einem breiteren nichtfachlichen oder auch nichtakademischen Publikum nicht leicht verständlich zu machen ist, was denn eigentlich damit gemeint ist. Versteht man doch unter Kommunikation nach landläufiger Meinung zunächst einmal wohl ein gemeinsames Gespräch, eher einen wechsel- als einen einseitigen Austausch von Gedanken oder Informationen zwischen zwei oder mehreren Personen zu einer gemeinsamen Zeit an einem gemeinsamen Ort. Nur mit Mühe kann man sich dann unter der Lektüre einer Cicerorede einen "Dialog" zwischen Autor und normalem L2-Schüler über die Jahrtausende hinweg vorstellen, zu sehr scheint nach landläufiger Vorstellung das Trennende das beiden Gemeinsame zu dominieren, fehlt es doch beiden an der Gemeinsamkeit von Sprache in einem beträchtlichen Maße, an der Gemeinsamkeit von Ort, Zeit, Lebensalter, sozialer Stellung, Bildung usw. Und auch nicht jeder assoziert gleich mit historischer Kommunikation die "Kunde, Erzählung und Vermittlung von Vergangenheit zur Stiftung einer gemeinsamen Erinnerung", wobei man extra muros die Begriffe "Kunde, Erzählung, Vermittlung von Vergangenheit"8 ohnehin wohl eher mit Tradition, Rezeption, Information als mit Kommunikation in Verbindung zu bringen und die Alten Sprachen wohl auch eher als Reflexions- denn als Kommunikationssprachen anzusehen geneigt ist.
Der Begriff der historischen Kommunikation ist also zu komplex, zu abstrakt, zu theorielastig, kurz: zu erklärungsbedürfig, als dass er als "Aushängeschild für das Lateinangebot" in der Sek I eine glückliche Wahl bedeuten würde. So kann dann wohl nicht leicht daraus ein werbewirksames Argument für den LU gewonnen werden, und überhaupt scheint diese Leitvorstellung auch intra muros bislang noch keine allzu große Überzeugungskraft entfaltet zu haben, was möglicherweise der Grund dafür ist, dass dieses Argument in neueren Aufsätzen und Stellungnahmen von Maier9, Reinhart10, Friedel11, Schmude12, der Bundesvereinigung der Oberstudiendirektoren13, dem Bayerischen Philologenverband14 und anderen, die sich in weitestem Sinne mit Öffentlichkeitsarbeit und mit der Zielsetzung des Faches beschäftigen, bislang noch wenig Resonanz gefunden hat.
Versucht man nun aus diesen Aufsätzen eine gemeinsame Argumentation für das Fach Latein herauszufiltern, dann kommt man nach meinem Eindruck und Verständnis immer wieder auf dieselben drei wesentlichen Argumente für die Erlernung des Faches in der Sek I, unter die sich alle anderen Leistungen, Gründe, Zwecke, Ziele subsumieren lassen, aus denen sich alles andere entfalten und ableiten, worauf sich letztlich alles zurückführen lässt.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Es sind dies - wenn auch in den verschiedensten Formulierungen - die drei Themen Sprache, formale Bildung und Einführung in die geistigen Grundlagen der europäischen Kultur. Auch die Reihenfolge ist nicht zufällig oder willkürlich, denn über die Sprache erwirbt der Schüler die formale Bildung, die ihm dann schließlich die Begegnung und Auseinandersetzung mit den geistigen Grundlagen der europäischen Kultur erst ermöglicht. Anders ausgedrückt und umgekehrt: die Lektürephase setzt ein nicht geringes Maß an formaler Bildung bzw. analytischer Intelligenz voraus, und diese ihrerseits eine intensive Beschäftigung mit der Sprache.
Man kann es wieder drehen und wenden, wie man will: Sucht man nach den drei überzeugendsten und durchschlagkräftigsten Argumenten für das Fach Latein in der Sek I, dann kommt man an diesen drei großen Themen in genau dieser Reihenfolge, Verkettung und Verzahnung kaum vorbei. Und wenn Günter Hoffmann fordert, dass es an der Zeit sei, einmal den Gründen nachzugehen, warum Eltern ihre Kinder Latein lernen lassen15, dann sehe ich den Grund vor allem darin, dass diesen zunächst und in erster Linie wohl etwas an einer "sprachlich-formalen Infrastruktur", einer "gymnasialen Grundausbildung" ihrer Kinder gelegen ist. So gesehen kann es sich dann nur um einen der oben angedeuteten Irrwege oder Irrtümer handeln, wenn Georg Veit und wohl auch andere die Ansicht vertreten, dass die Quintessenz unseres Faches sich in der historischen Kommunikation, nicht aber im formalbildenden Wert der lateinischen Sprache finde.16
Wenn in der Öffentlichkeit nämlich etwas mit Latein in Verbindung gebracht wird, dann ist es doch vor allem so etwas wie sprachliche Logik oder logisches Denken. So stammt zum Beispiel von dem Nobelpreisträger Werner Heisenberg die Äußerung, dass seine besten Schüler frühere Lateinschüler gewesen seien. Er führte dies darauf zurück, dass humanistische Bildung in besonderem Maße zu logischem Denken befähige und zugleich die Phantasie anrege.17 Was Werner Heisenberg meint, hat Max v. Pettenkofer als Rektor der Ludwig-Maximilians-Universität München in seiner nach für mich zutreffendem Urteil "von hohem wissenschaftlichem Ethos, souveräner Geistigkeit, tiefer Weisheit und pädagogischer Begeisterung geprägten" und im Wintersemester 1869/70 an die neuimmatrikulierten Studenten gerichteten Rede "Wodurch die humanistischen Gymnasien auf die Universität vorbereiten" folgendermaßen formuliert: "Es ist auch nicht vorwaltend der Geist des Alterthums, der uns in den Gymnasien erklärt und eingeprägt wird, es ist auch nicht die vollständige oder auch nur ein beträchtlicher Theil der Literatur des Alterthums, die wir in den Gymnasien erfassen lernen, sondern - offen gesagt - es sind wesentlich nur die Sprachen des Alterthums, deren Gesetze uns an einigen herausgerissenen Bruchstücken der altklassischen Literatur demonstrirt werden."18 (Um allen Diskussionen aus dem Wege zu gehen, von "vorwaltend" war die Rede!)
Wenn es nun wirklich eine "Zeitlosigkeit von Argumenten in der Auseinandersetzung um Sinn und Wert der humanistischen Bildung"19 gibt, dann haben wir also hier mit Sprache und formaler Logik - zumindest für den LU auf der Sek 1 - das Pfund, mit dem wir wuchern müssen, hier haben wir den Spatz in der Hand, mit historischer Kommunikation dagegen die Taube auf dem Dach. Dahin also müssen es Öffentlichkeitsarbeit und Werbung bringen, dass nach all den Diskussionen und den damit einhergehenden Verunsicherungen der letzten Jahre Eltern und Schüler - womöglich über Generationen hinweg - wieder sagen können:
Latein, da weiß man, was man hat.
Latein - eine starke Marke!
4. Schwierigkeitsgrad der Lehrbuch- und Lektüretexte
Eine Eigenart und ein Merkmal eines originalen lateinischen Satzes oder Textes im Gegensatz zu den Kunsttexten in den Lehrbüchern der fünfziger und sechziger Jahre ist sicherlich seine partielle Kommentierungsbedürftigkeit. Sich durch solche Texte durchzubeißen, verlangt aber nicht selten die Kondition und Mentalität eines benediktinischen Internatsschülers der frühen fünfziger Jahre, verlangt eine e)pi/ponoj a)/skesij, einen labor improbus, wie es wohl Friedrich Maier einmal bezeichnet hat, welche ein Kind der späten Neunziger nicht immer mehr zu leisten willens und in der Lage ist.
Günter Hoffmann hat das Problem in seinen Vergleichen vom Autofahren und Klavierspielen verdeutlicht20, und ich möchte diesen noch einen weiteren aus dem Tennis hinzufügen. Man kann seiner Schülerschar auf der anderen Seite des Netzes nicht laufend Schmetterbälle servieren, die außer ein paar besonders Talentierten kaum jemand mehr erreicht. Die Kinder verlieren die Lust, wenn sie nichts mehr zurückspielen können, winken ab und wenden sich anderen Disziplinen zu, wo Erfolgserlebnisse leichter zu haben sind.
Fehlt also der Kommentar, die Hilfestellung in welcher Form auch immer, bleibt nicht selten ein mehr oder weniger großer Rest des Unverstandenen und damit unübersetzt Gebliebenen zurück, was zur Folge hat, dass zumindest in der Endphase des LU bei einer Mehrzahl der Schüler sich das Gefühl und die Einsicht einstellt, hier mit Dingen konfrontiert zu werden, die sie allein und auf sich gestellt mit den vorhandenen intellektuellen und sonstigen Mitteln und Möglichkeiten nur mehr schlecht als recht bewältigen können.
Daraus ergibt sich dann natürlich keine Selbständigkeit, kein Selbstvertrauen, kein Selbstbewusstsein, kein Erfolgserlebnis, mit dem und in dem man sich zuversichtlich den Anforderungen eines lateinischen Oberstufenunterrichtes stellen könnte, sondern lediglich ein sich über Jahre hinweg entwickelndes Gefühl und Bewusstsein der Abhängigkeit vom Lehrer, von Eltern, von Mitschülern und "sonstigen Mitarbeitern", ein Gefühl der Unselbständigkeit, der Überforderung und Hilflosigkeit.
Die Folgen für das Wahlverhalten in der Oberstufe bleiben dann nicht aus und sind hinreichend bekannt.
Ein Beispiel aus der Anfangsphase des LU möge das Gesagte verdeutlichen. Wenn es in Anlehnung an Verg. Aen.VI.759 in einem der neuesten Unterrichtswerke heißt "...te tua fata docebo", dann ist doch ein Siebtklässler mit der Erschließung des vom Wortsinn abweichenden Textsinnes völlig überfordert. Es fehlt an Hintergrundwissen und kontextuellem Einfühlungsvermögen, um von einem tua fata zu einem kontextbedingten fatum tuorum gelangen zu können. Selbst ein "te fatum tuorum docebo" hielte für diese Jahrgangsstufe noch genug Schwierigkeiten bereit, den doppelten Akkusativ im Lateinischen und im Deutschen bei "lehren", dazu den Umstand, dass "die Meinen, die Deinen, die Seinen" nun auch nicht gerade zu den Ausdrucksmitteln und -möglichkeiten eines Zwölfjährigen gehören. So wird also besagtem Schüler anhand von originalen bzw. originalnahen Texten von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde die Unzulänglichkeit seiner eigenen Übersetzungsversuche deutlich gemacht, und nach meinem Dafürhalten sind derartige Sätze der direkte Weg in die Abhängigkeit, aber nicht in die Selbständigkeit.
Und der Lektüreschock, den man durch eine möglichst frühe Begegnung mit originalem oder doch wenigstens originalnahem Latein schon in der Lehrbuchphase zu vermeiden hoffte, ist lediglich in diese Phase vorverlegt. Bislang in eine eher noch spätere Phase des Lehrbuchunterrichts, was sich aber mit der Einführung einer neuen, der sogenannten 3. Generation von Lehrbüchern mit noch originalerem Latein (d. h. noch längeren Sätzen mit noch komplexeren Konstruktionen) zu noch früherem Zeitpunkt, mit noch mehr in einer Lektion zusammengedrängten Phänomenen, mit gleichbleibend wenig Systematik in noch weniger Zeit dann vermutlich auch bald ändern wird, so dass dann manch einem bereits in der Mitte oder am Ende der Klasse 7 das Gefühl und die Einsicht zuteil wird, mit seinem Latein eigentlich schon so ziemlich am Ende zu sein.
Alles in allem bleibt dann in der Öffentlichkeit der Eindruck, als sei "die traditionell hohe Hürde zu Beginn des Lateinunterrichts für Schüler von heute"21 eher noch etwas erhöht statt erniedrigt worden, als sei der Schuss nach hinten losgegangen. Denn Flexionsformen aller Stämme und Klassen in dieser Massierung, das participium coniunctum und der A.c.I. als traditionell nicht gerade leichtverdauliche Kost zusammen mit all dem "für den Anfänger hochkomplexen sprachlich-formalen Beiwerk", wie es Wilhelm Berndl völlig zutreffend auf den Punkt bringt22, waren der Eingangsklasse bislang fremd.
Und ich denke, dass hier schon in der Vergangenheit - basierend auf der wohl nur für eine Minderheit nachvollziehbaren Vorstellung des "progressiven Analysierens" von Originaltexten schon in den ersten Lateinstunden23 - ein Irrweg beschritten worden ist und in Zukunft unter "verschärften Bedingungen" weiter beschritten werden soll, dann aber wohl verstärkt mit den tatsächlichen und möglichen Folgen für das Fach, wie sie Friedrich Maier verschiedentlich beschrieben hat24. Hier ist ein Umdenken, eine Umkehr oder neudeutsch eine Umstrukturierung m. E. dringend erforderlich.
Der Irrtum liegt darin, dass eine solche Verfahrensweise einem heutigen Durchschnittslateiner Leistungen abverlangt, die keinem der besagten Internatsschüler in den Fünfzigern oder Sechzigern abverlangt worden sind, dass ein solches Verfahren bei heutigen Schülern eine analytische Intelligenz und ein sprachliches Ausdrucksvermögen schlicht und einfach als vorhanden voraussetzt, mit deren Ausbildung und Entwicklung sich besagter Internatsschüler über Jahre hinweg Zeit lassen konnte.
Das Fazit lautet: die Schraube der Originalität und Komplexität ist überdreht! In diesem Sinne ist auch nach meinen Erfahrungen kein, wie Hans Maier sagt25, "sinnvoller" L2-Unterricht mehr möglich, an dessen Anfang schon größtmögliche Nähe zum Original gesucht wird und an dessen Ende die Übersetzung eines mittelschweren Cicero-, Sallust- oder Liviustextes stehen soll. Und so scheint mir das von F. Maier so genannte ,,Dilemma des lateinischen Mittelstufenunterrichts"26 zu einem großen Teil auf einer bereits auf die siebziger Jahre zurückgehenden, weitreichenden und folgenschweren Fehleinschätzung dessen zu beruhen, was ein "normaler L2-Schüler" an einem anspruchsvolleren lateinischen Originaltext zu leisten vermag. Um es in einem weiteren Bilde auszudrücken: Die Leistungen des normalen L2-Schülers am Originaltext könnte man mit den Leistungen einer durchschnittlichen Wandergruppe am Berg vergleichen, wobei der Anstieg zum Gipfel in höchst unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden verläuft. Solange lediglich mäßige Steigungen zu bewältigen sind, bleibt die Gruppe beisammen, müssen dagegen Klettersteige, ausgesetzte Stellen oder Überhänge auf dem Wege zum Ziele passiert werden, fällt die Gruppe auseinander, weil es mehrheitlich dann wohl an der hierfür notwendigen Kondition, vor allem aber an der Übung fehlt. In Anbetracht des schwierigen Geländes einerseits, der fehlenden Voraussetzungen andererseits ist man dann schnell am Ende des Weges, mit seinem Latein am Ende.
Als verdeutlichendes Beispiel nehme man einmal aus Cäsars Darstellung des Kampfes gegen die Usipeter und Tenkterer, einem wohl nicht selten gelesenen, weil relativ kurzen und in sich geschlossenen Ausschnitt aus dem Bellum Gallicum, das Kapitel Caes.Gall. IV.13 und reflektiere einmal die "Möglichkeiten" des durchschnittlichen L2-Schülers in Anbetracht eines solchen, sprachlich nicht gerade anspruchslosen Originaltextes. Nach meinen Beobachtungen hat der durchschnittliche L2-Schüler allein und auf sich gestellt unter Anwendung welcher Erschließungsmethoden auch immer und wohl selbst unter Zuhilfenahme der ihm verfügbaren Wortkunde und Grammatik nicht den Hauch einer Chance, in einem vertretbaren Zeitrahmen zu einer halbwegs akzeptablen Übersetzung eines solchen Kapitels zu gelangen. Dieser Schüler ist aber nicht nur nicht zu einer selbständigen Übersetzung dieses Kapitels in der Lage, sondern nicht einmal zu einer mündlichen Wiederholung desselben, nachdem es in der bzw. den Stunden zuvor bis in die kleinste grammatikalische Einzelheit analysiert und in einer ausgefeilten Übersetzung ins Deutsche übertragen worden ist. Der Beweis für die Richtigkeit dieser beiden Thesen dürfte nach meiner Erfahrung und Überzeugung unschwer zu führen sein.
Die Folgerung aus diesem Befund besteht darin, dass die Lektüre anspruchsvollerer originaler lateinischer Texte über eine mehr oder minder große Strecke die Möglichkeiten des durchschnittlichen L2-Schülers bei weitem übersteigt, dass er sich mehrheitlich zu produktiver bzw. konstruktiver, d. h. ein Textverständnis aufbauender Mitarbeit außerstande sieht, im Regelfall lediglich zu reproduktiven Dienstleistungen in der Lage, hier eine Vokabel, da eine Form, dort einmal ein Formulierungsvorschlag, ein "Zureichen von Ziegelsteinen" also für eine talentiertere, am Aufbau des Textverständnisses mauernde Minderheit. Viele Handlanger also und nur wenige Baumeister! Der Grund dafür ist, dass die heutige, eher heterogene L2-Schülerschaft gegen Ende der Mittelstufe zwar nicht in quantitativer, so doch aber in qualitativer Hinsicht mit so ziemlich denselben Texten konfrontiert wird, wie vor Jahren die eher homogene Schülerschaft eines altsprachlichen Gymnasiums mit grundständigem Latein ab Klasse 5 und Griechisch dann ab Klasse 8, was mit einsetzendem Griechischunterricht damals ein ca. zehnstündiges Übersetzungstraining pro Woche bedeutete. Wenn es aber stimmt, dass noch kein Meister vom Himmel gefallen ist, dass dagegen Übung erst den Meister macht, aber die wohl auch nicht nur allein, dann scheint das "Dilemma der Mittelstufe" m. E. vornehmlich aus verfehlten Zielvorgaben bzw. zu hohen Hürden für den lateinischen Mittelstufenunterricht zu resultieren. Ein zweites Dilemma, das sich aus dem ersten ergibt, liegt darin begründet, dass sich die "produktiven Leistungen" des normalen L2-Schülers, wie oben angedeutet, über eine mehr oder minder große Strecke der Originallektüre in Anbetracht seiner Chancenlosigkeit eigentlich genauso wenig bewerten lassen wie die "Minderleistungen" eines normalen Bergwanderers in Anbetracht "hochalpiner Herausforderungen".
Was kann der Fisch dafür, wenn er nicht Fahrrad fahren kann?Wenn nun F. Maier zutreffend feststellt, dass ,,der normale L2-Schüler ... unzureichend im Blickpunkt der didaktischen Überlegungen"27 ist, dann trifft das nach meinen Erfahrungen also vor allem für dessen Leistungsfähigkeit auf dem Gebiet der Texterschießung und Übersetzung zu. Illusionäre Vorstellungen von den Fähigkeiten und Möglichkeiten des durchschnittlichen L2-Schülers führen dann zu illusionären didaktischen Konzepten, diese wiederum zu Misserfolgen in den Prüfungen, die nach F. Maier neben der "Fragmentiertheit der gewonnenen Eindrücke" im Lektüreunterricht28 vor allem für den Motivationsverfall im Fach Latein verantwortlich sind.
Infolgedessen kann m. E. das Telos eines viereinhalb- oder vielleicht bald auch nur noch vierjährigen Lateinunterrichts nicht mehr in der Übersetzung eines mittelschweren Cicerotextes gesehen werden, sondern in Anbetracht der heutigen Stundenvolumina, der begabungsmäßigen Heterogenität der heutigen Schülerschaft und aller sonstigen zeitraubenden "gymnasialpädagogischen Aktivitäten" nur noch in der Schaffung der sprachlichen und formalbildenden Voraussetzungen dafür.
Damit sind dann zugleich auch zwei der drei Forderungen Friedrich Maiers nach einem sinnvollen Abschluss des LU in der Sek I erfüllt29, mit einem Unterricht also, der so etwas wie eine aristotelische Mitte anstrebt zwischen einem überholtem Grammatikdrill früherer Jahre und überfordernder Latinitas in zu jungen Jahren und der eine erfolgversprechende Basis ist für einen darauf aufbauenden und dann mehr an den Inhalten als an der Form orientierten Lektüreunterricht in der Oberstufe.
Mir scheint, dass Lehrbücher der zweiten Generation wie beispielsweise die Roma C bereits eine akzeptable Synthese aus Sprach- und Lektüreunterricht darstellen und diese Aufgabe - auch unter einer zumindest ansatzweise vorhandenen Berücksichtigung der "Europäischen Dimension" - schon sehr gut erfüllen.
5. Zur Leistungsmessung
Latein ist im Bewusstsein und nach dem Verständnis wohl nicht weniger Fachkollegen ein traditionell schriftliches Fach, und über Erfolg oder Misserfolg im Fach Latein entschied in traditioneller Weise zunächst einmal die schriftliche Übersetzungsleistung, entsprechend dem Latinums-Beschluss der KMK vom 26. 10. 1979. Diese Auflassung scheint aber bei "Vorstand und Geschäftsführung" zunehmend an Bedeutung und Verbindlichkeit zu verlieren, da die - dem Fache eigentliche - schriftliche Übersetzungsleistung mehr und mehr durch sonstige Leistungen ersetzt werden kann, so dass man inzwischen fast schon von Übersetzungs"ersatz"leistungen sprechen könnte.
So hat denn die schriftliche Übersetzungsleistung an der Gesamtleistung bzw. Gesamtnote in der Oberstufe bzw. bei der Latinumsvergabe nur mehr einen Anteil von 33,33%, wenn man bedenkt, dass die sonstige Mitarbeit 50% der Gesamtleistung ausmacht, und berücksichtigt, dass der Anteil der Zusatzaufgaben im Klausurbereich mit einem Drittel zu Buche schlägt.
Im Gesamtergebnis bedeutet dies einen Rabatt von 66,66% auf die im KMK-Beschluss geforderte Übersetzungsleistung, was zur Folge hat, dass so ziemlich jedem, auch wenn er - allein und auf sich gestellt - kaum mehr eine Zeile Cicero richtig zu übersetzen in der Lage ist, zwangsläufig und von Amts wegen das Latinum bescheinigt werden muss, wenn er nur einiges worüber auch immer zu "referieren" weiß. Denn die dann möglicherweise ausreichenden und mit wessen Hilfe und unter welchen Umständen auch immer erbrachten "sonstigen Leistungen" dominieren in quantitativer Hinsicht eine qualitativ unzulängliche schriftliche Übersetzungsleistung allemal. Zugegeben: etwas überspitzt formuliert, aber tendenziell richtig! Man mag mir die drastische Formulierung nachsehen, aber mit solchen Nachlässen vertreibt man Restposten im Schlussverkauf, Markenartikel und Qualitätsprodukte dagegen sind nicht zu Schleuderpreisen am Wühltisch zu haben!
Nach meinen Erfahrungen ist von seiten des DAV eine Klärung des Bewertungsverhältnisses von
schriftlicher Übersetzungsleistung zu den "sonstigen Leistungen" dringend erforderlich, wobei man durchaus an eine Umkehr des aktuellen Zahlenverhältnisses denken könnte, zumindest aber eine Erklärung dahingehend notwendig, dass es sich bei der im KMK-Beschluss geforderten Übersetzungsleistung doch wohl um eine schriftliche Übersetzungsleistung handelt, und dass die Vergabe des Latinums an wenigstens eine mit ausreichend bewertete schriftliche Übersetzungsleistung gebunden sein muss.
So kann es dann auch keine Lösung des Problems sein, wenn man etwa eine eigentlich mit mangelhaft oder ungenügend zu bewertende Übersetzung eines mittelschweren Cicerotextes vielleicht noch schwach ausreichend nennt, nur weil vielleicht - nach den Ausführungen von Herrn Petersen auf dem Bundeskongress in Jena - auch im Fach Französisch, wenn ich es richtig verstanden habe, inzwischen mit gut bewertet wird, was vor Jahren noch als mangelhaft galt. Die Lösung des Problems liegt vielmehr darin, dass man eine solche Klausur gar nicht erst stellt!
6. Plattformstrategie (als Beitrag zur corporate identity)
Die Strategie, dass man eine Reihe von Produkten auf derselben Basis entwickelt, mag im Automobilbau wegen des dort schon seit Jahren angewandten Baukastenprinzips vielleicht nicht so neu sein, wie sie von VW derzeit hingestellt wird, neu genug aber, um Ihre Übertragbarkeit auf andere Produktionsvorgänge einmal in Betracht zu ziehen.
Ausgangspunkt für nachfolgende Überlegungen ist die Unzufriedenheit über einen weiteren Irrweg der Didaktik der letzten Jahre, die sogenannten Begleitgrammatiken, deren einziger Vorzug für mich lediglich in einer gewissen Bequemlichkeit zu bestehen scheint.
Der Umgang und die Arbeit mit dieser Art von Grammatik vermittelt m. E. auch nicht ein Mindestmaß an Ordnung und System, nach spätestens 10 Lektionen geht der Überblick völlig verloren, grammatikalische Phänomene irren durch die Köpfe der Kinder wie die weiland von Hermann Menge beschriebenen erratischen Eilande, mit der Folge, dass sich auf solch brüchiger Basis dann nicht mehr viel aufbauen lässt. Der von Friedrich Maier vorgeschlagene zweite Durchgang durch die lateinische Grammatik30 ist schon aus Zeitgründen kaum machbar, und man muss sich nur einmal bewusst werden, wie viele Lateinschüler zumindest in den letzten Jahren die Schulen verlassen haben, ohne auch nur einen einzigen Blick in eine lateinische Systemgrammatik geworfen zu haben, ohne jemals auch nur eine blasse Vorstellung von umfassender sprachlicher Ordnung und Systematik, von Latein als "Modell für Sprache" gewonnen zu haben.
Natürlich braucht der LU heute keinen Rubenbauer-Hofmann mehr, aber ein Pendant, das man dem Kaegi zur Seite stellen könnte, eine kurzgefaßte lateinische Systemgrammatik also, die bundesweit über Jahrzehnte hinweg ihre Dienste erfüllt. Dass es sich bei einer solchen Grammatik nicht um eine von vielen, sondern nur um ein Spitzenprodukt handeln kann, steht dabei außer Frage. Gefragt sind also Formulierungen, die nicht so klingen, als seien sie auf induktivem Wege gerade im Unterricht frisch erarbeitet worden, sondern Formulierungen, die eine Mitte darstellen zwischen wissenschaftlicher Exaktheit und schülerfreundlicher Verständlichkeit, die eine jahre- wenn nicht jahrzehntelange philologische Beschäftigung und geistige Durchdringung, Optimierung also des Gegenstandes verraten.
Das setzt natürlich auch eine Beendigung des babylonischen Sprachenwirrwarrs im Lateinischen voraus, dass man sich vielleicht einmal auf bestimmte, vielleicht vorausgegangenen Schülergenerationen auch noch geläufige Deklinations- und Konjugationsparadigmata verständigt, sich einigt, ob man (anstelle der traditionellen Reihenfolge) die Stammformen nun so herum oder so herum oder doch besser anders herum lernen lassen sollte, ob nun wirklich das plötzlich Punctualis heißen muss, was jahrzehnte- und generationenlang als Lokativus bekannt war. Dass man sich vor allem auch einmal einigt auf eine Empfehlung für eine (man beachte den Singular!) erstens nicht nur auf spontanen Einfällen und oder sonstigen Zufällen, sondern soliden grammatikalischen Kenntnissen beruhende, zweitens auf eine möglichst ausgefeilte, erprobte und infolgedessen für jeden Lehrer lehr- und jeden Schüler lernbare, drittens auf eine ohne allzu große Umwege und Zeitverluste zum Ziele führende, viertens auf eine auch auf schwierige fachsprachliche Texte transferierbare, kurz: auf eine selbständig von jedem Schüler von Klasse 5 bis 13 auf jeden Text auch unter Zeitdruck in Klassenarbeiten und Klausuren von Kiel bis Konstanz anwendbare Übersetzungsmethode, die Methode der Methoden eben.
Merkmal eines Qualitätsproduktes ist nun mal eben auch eine gewisse Produktkonstanz, unabhängig von Zeit und Ort. Und wer käme schon auf die Idee, im Griechischen etwa auf das generationenverbindende und identifikationsstiftende paideu/w zu verzichten?
Eine kurzgefasste lateinische Systemgrammatik ist also die eine Plattform, die gemeinsame Bezugsgröße, die der Konzeption von Lehrbüchern und Lektüreausgaben, insbesondere den Kommentaren, zugrundeliegen sollte, eine zweite Plattform ist eine ebenfalls allen Unterrichtswerken und Lektüreausgaben zugrundeliegende Wortkunde mit einer vereinheitlichten Auswahl und Abfolge der Wortbedeutungen. Der Kosten- bzw. Energiespareffekt liegt darin, dass der Übergang vom Lehrbuch auf die Wortkunde kein Umlernen von Wortbedeutungen mehr mit sich bringt, die Vokabeln also nur einmal in einer bestimmten Reihenfolge der Bedeutungen gelernt zu werden brauchen.
Eine dritte Plattform, Basis und Bezugsgröße für den darauf aufbauenden Sprach- und Lektüreunterricht wäre dann eine Entscheidung für eine Realienkunde in Form eines Lexikons oder einer systematischen Darstellung.
Die Reduktion des Angebots von Grammatiken, Wort- und Realienkunden auf das Optimum mag zwar nicht den Verlagen nützen, nützt aber dem Fach und auf diese Weise dann auch wieder den Verlagen, da diese ja kooperieren und sich zur Entwicklung des Optimums zu Verlagsgemeinschaften zusammenschließen können.
Der Nutzen für das Fach hingegen liegt einmal in einer gemeinsamen Plattform und Ausgangsbasis für die Kommentierung der in der Mittel- und Oberstufe gelesenen Lehrbuch- und Lektüretexte, erläutert werden bräuchte also nur noch das, was über das in Grammatik, Wort- und Realienkunde Vorgefundene hinausgeht. Zweitens führt eine solche Strategie zu einem einheitlicheren Erscheinungsbild, zu einem gewissen Maß von corporate identity. Der dritte Vorteil liegt darin, dass bei der Optimierung dieser Werke die Energien gebündelt, d. h. in eine bestimmte Richtung gelenkt und nicht diversifiziert werden. Auch bei Mercedes verbessert man nur eine E Klasse und nicht fünf oder zehn. Und schließlich ist Kompatibilität ein Begriff, den fast jeder Schüler von seiner häuslichen Stereoanlage oder seinem Computersystem her kennt. Die bislang jedoch gar nicht so seltene Verbindung aber von einer Grammatik aus dem Verlag A mit einer Wortkunde aus dem Verlag B und einem Lehrbuch aus dem Verlag C ist ähnlich, wie wenn man ein Auto mit einem Fahrwerk von Mercedes, einem Motor von BMW und einer Karosserie von Audi zusammen bauen wollte. Irgendwie fährt das dann schon, aber die Reibungsverluste sind nicht zu überhören, es klappert, scheppert und quietscht eben hinten und vorne.
Exzellente Produkte dagegen zeichnen sich eben auch aus durch passgenaue Qualität.
7. Folgerungen und Zusammenfassung
1. Aufgrund der vorangegangenen Überlegungen scheinen mir Wesen und Aufgabe der Fachpolitik in einer Mittlerfunktion zwischen Didaktik und Öffentlichkeit zu liegen. Ihrem Wesen nach verhält sich also im "Unternehmen Lateinunterricht" die Fachdidaktik zur Fachpolitik wie Forschung und Entwicklung zu Marketing und Vertrieb. Aufgabe einer solchen Fachpolitik ist es nun, die Zielvorstellungen der Fachdidaktik erstens auf ihre Praktikabilität hin zu "filtern", d. h. so zu transformieren, dass sie mit den an den Schulen vorgefundenen sogenannten "soziokulturellen Voraussetzungen" in Einklang zu bringen sind, und danach zweitens an den Verstehenshorizont und die Interessenlage einer aus Eltern und Schülern bestehenden breiten Öffentlichkeit zu adaptieren, d. h. in möglichst einfachen Worten einem breiten, nichtfachlichen Publikum mit Argumenten
von größtmöglicher Durchschlags- und Überzeugungskraft den Nutzen und den Wert der Alten Sprachen bzw. des LU begreifbar vor Augen zu stellen als ein lohnendes Investment von Zeit und Energie zu einem "fairen, d. h. bezahlbaren Preis".Eine solche Argumentation hätte allerdings nicht nur vor Beginn des LU in der Klasse 7 in den Elternversammlungen und lnformationsveranstaltungen ihren Platz, sondern vor allem auch an seinem Ende, in der oder einer der letzten Unterrichtsstunden der Klassen 10 oder 11, wobei dann jedem Schüler klar und deutlich werden müsste, dass den abschließenden Worten des Lehrers vier Jahre oder länger tatsächlich auch die entsprechenden Taten vorausgegangen sind.
2. Unter den oben angesprochenen Voraussetzungen kommt für mich nur ein einphasiges, Sprach- und Lektüreunterricht miteinander verschmelzendes Integrationsmodell für die Mittelstufe in Frage unter weitgehendem Verzicht auf die zweite Phase, die eigentliche Originallektüre. Ein solcher Unterricht würde in der Tat zwischen Tradition und Fortschritt stehen, in der die Mitte also auf der einen Seite zwischen der Tradition der Einzelsätze und Kunsttexte der fünfziger und sechziger Jahre und der Begegnung mit allzu originalen Texten auf allzu schmaler grammatikalischer Basis in allzu jungen Jahren, und ich denke, dass hier dann die Lehrbücher der zweiten Generation die goldene Mitte mit ihren zunehmend originalnahen Texten anzubieten haben.
Würde man z. B. ein Lehrwerk wie die dreibändige Roma C dem Sek I Unterricht zugrunde legen, käme man bei 120 Lektionen auf ca. 30 Lektionen im Schuljahr, und das ist dann aus meiner Sicht das Maximum dessen, was man in Anlehnung an den von F. Maier in die Diskussion gebrachten kategorischen Imperativ für L2-Lehrer31 mit Anstand in solider handwerklicher Ausführung in Anbetracht der oben angesprochenen Umstände derzeit zu leisten in der Lage ist. Und ein mehr oder minder großes Drittel der Schüler, auch wenn sie in anderen Fächern "Ordentliches zu leisten" in der Lage sind, wie Gerhard Fink zutreffend feststellt32, hat am Ende eines solchen Lehrgangs dann immer noch seine liebe Mühe, den Anforderungen, die die Übersetzung selbst eines originalnahen Textes nur stellt, einigermaßen gerecht zu werden, und nicht allzu wenigen gelingt selbst das nicht mehr. In Zeiten also, in denen jedes "quibus rebus cognitis" infolge mangelnder Übung für eine Mehrzahl von Schülern erst einmal zeitaufwendige und langatmige grammatikalische Analysen notwendig macht, ist das dann auch nicht mehr allzu verwunderlich, sondern nur allzu verständlich, beziehen sich doch auch die sonstigen "ordentlichen Leistungen" vielfach nur auf den Stoff der letzten vier Wochen, während die Übersetzung eines solchen Ausdrucks dann eher schon eine kontinuierliche Mitarbeit über die letzten vier Jahren voraussetzt.
Die zweite Phase des LU, der eigentliche Lektüreunterricht, bliebe somit dann der Sek II vorbehalten, so dass sich für den LU insgesamt ein Zweistufenmodell ergäbe mit einem sprachlich-formalen (zu denken wäre aus literaturgeschichtlichen Gründen vielleicht auch an einen formal-rhetorischen) Schwerpunkt in der Mittelstufe und einen inhaltlich-philosophischen Schwerpunkt in der Oberstufe auf dann soliderer sprachlich-formaler Basis.
3. Es geht also bei dem hier vorgeschlagenen Modell des LU um ein "Modell der mittleren Erreichbarkeit" für ein durchschnittliches Gymnasium mit durchschnittlicher Lehrer- und Schülerschaft, vor allem aber darum, der Gefahr entgegenzutreten, in beiden Bereichen, dem Sprach- und dem Lektüreunterricht, kläglich zu scheitern. Was bliebe, wäre dann tatsächlich ein LU, von dem man sich mit "mehr oder weniger Grauen" verabschiedet, mit den Auswirkungen dann wohl nicht erst "in der nächsten Generation"33.
Eine nicht unbeträchtliche Anzahl von L3-Schülern, die in den achtziger Jahren mit den Lehrbüchern der damals neuesten Generation für Latein als dritte Fremdsprache nicht zurecht kamen, hatten seinerzeit dreimal (in der Mitte der 9, am Ende der 9 und am Ende der 10) Gelegenheit, das Fach abzuwählen. Diese Möglichkeit besteht für L2-Schüler bei keiner Gelegenheit, bzw. erst am Ende der 10. Sollte es daher - zurückhaltend formuliert - zu einer "Duplizität der Ereignisse" kommen, sollten Fachdidaktik und Fachaufsicht allerdings schon ein paar "alternative Strategien" in der Schublade haben. Gehört es doch auch zu einer generalstabsmäßigen Planung, eine einigermaßen konkrete Vorstellung von den Verlusten zu haben, die mit der Erstürmung eines Hügels in Kauf zu nehmen sind. Fachdidaktik und Fachaufsicht müssten sich also zumindest ungefähr darüber im Klaren sein, wie viel Prozent der normalen L2-Schüler bei den heutigen Übertrittsquoten und unter den heutigen Bedingungen denn wohl nach einer zweieinhalb- bis dreijährigen Vorbereitungsphase Originallektüre mit dem Ziel der Übersetzung eines mittelschweren Cicerotextes zu betreiben in der Lage ist.
Analog würde wohl auch niemand in der Automobilindustrie das "Auto an sich", welches zu Forschungszwecken durchaus existiert und das derzeit im Automobilbau Machbare in sich vereinigt, auf den Markt bringen und zum Kauf anbieten, da es für ein breites Publikum unbezahlbar wäre. Um auf dem freien Markt von Angebot und Nachfrage Erfolg zu haben, darf also nicht nur die Qualität, sondern muss auch der Preis stimmen. Und infolgedessen kann es sich bei der Qualität nicht um eine absolute im Sinne des jeweiligen wissenschaftlichen oder technischen Optimums handeln (Stichwort: overengineering), sondern nur um eine relative im Sinne der Bezahlbarkeit eines Produktes für ein mehr oder minder großes Publikum (Stichwort: outpricing). Markterfolg hat also nicht "das Optimale und Ideale an sich", sondern nur das Bestmögliche in Relation zu einer bestimmten Käuferschicht und einem bestimmten Preis.
Derartige "Common-sense-Einsichten" finden sich in beliebigen Wirtschaftsmagazinen, wie sie, allmonatlich an jedem besseren Kiosk zu haben sind. Wie daraus zu entnehmen ist, sind die Kriterien, die ein exzellentes von einem nur mittelmäßigen oder gar fallierenden Unternehmen unterscheiden, spätestens seit den achtziger Jahren genauestens untersucht bzw. beschrieben. Wenn vielleicht nicht alles, so kann doch wohl manches auf das Unternehmen Lateinuntericht "transferiert" werden, wie zum Beispiel unter dem Aspekt Marktorientierung, dass Misserfolge immer dann programmiert seien, wenn die für Forschung und Entwicklung Verantwortlichen keine klare Vorstellung davon hätten, wieviel die Novität kosten dürfe, unter welchen Bedingungen sie eingesetzt werden und auf welchen Märkten sie abgesetzt werden solle oder auch dass fallierende Firmen oft daran scheiterten, dass sie ihre Stärken und ihr ursprüngliches Tätigkeitsfeld aus den Augen verlören. Erfolgreiche Unternehmen wichen hingegen kaum jemals von ihrem grundlegenden Geschäftsprogramm ab; wo dies doch einmal geschehe, kehrten sie rasch und reumütig zu ihren Wurzeln zurück.
1) G. Reinhart. Warum ich für Latein (und Griechisch) an der Schule bin, in: MDAV 4/96. S. l 86ff.
2) H. Maier, Standort: Deutschland - Tatort: Gymnasium, Eresing 1996, S. 212ff.
3) Die Alten Sprachen im Unterricht (DASIU), Mitteilungsblatt des Bayerischen Altphilologenverbandes 4/96 und 1/97
4) Richtlinien Latein NRW 1993, S. 34, 41, 45
5) F. Maier, Lateinunterricht zwischen Tradition und Fortschritt, Bamberg 1984, Bd. 2, S.185ff., F. Maier, Zum Zielprofil eines zeitgemäßen L2-Unterrichts, in: MDAV 1/95, S.8, Richtlinien Latein NRW 1993, S.83f.
6) Richtlinien Latein NRW 1993, S.45
7) F. Maier, Lateinunterricht zwischen Tradition und Fortschritt, Bamberg 1985, Bd.1, S.171
8) Richtlinien Latein NRW 1993, S.34
9) F. Maier, Zum Zielprofil eines zeitgemäßen L2-Unterrichts, in: MDAV 1/95
10) G. Reinhart, a. a. O.
11) D. Friedel, Gymnasium mit Niveau, Beilage zu DASIU o. J.
12) M. P. Schmude, Latein für das 21. Jahrhundert - Grundlagen eines europäischen Gymnasiums, in: Forum Classicum 1/97, S. 8ff.
13) Bundesvereinigung der Oberstudiendirektoren für die Alten Sprachen, in: DASIU 1/93, S.16f.
14) Bayerischer Philologenverband für Latein: "Herzstück des Gymnasiums gefährdert", in: MDAV 2/96, S.111f.
15) G. Hoffmann, Für die vertikale Behandlung der Formenlehre, in: DASIU 4/96, S. 44
16) G.Veit, Das Problem der lateinischen Lehrbuchtexte, in: MDAV 1/96. S.11ff.
17) Bayerischer Philologenverband für Latein, a. a. O., S. 112
18) "wiederentdeckt" von Prof. Dr. G. Pfohl, Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin, TU München, und überreicht und wohl auch mit einer Einführung versehen von der "Arbeitsgemeinschaft zur Förderung humanistischer Bildung in Bayern e. V.", S. 5
19) ebd. S.16
20) G. Hoffmann, a. a. O., S. 41f.
21) G. Fink, Vertikal oder horizontal? Total = fatal! in: DASIU 1/97, S. 21
22) W. Berndl. Cursus Latinus und Systemgrammatik - eine kritische Stellungnahme, in: DASIU 1/97, S. 28
23) R. Nickel. Die Alten Sprachen in der Schule, Frankfurt 1978, S. 31ff.
24) z.B. in: MDAV 1/95, S. 1
25) H. Maier, a. a. O., S. 216
26) F. Maier, Lateinunterricht zwischen Tradition und Fortschritt, Bamberg 1985, Bd.3, S.11
27) F. Maier, Zum Zielprofil eines zeitgemäßen L2-Unterrichts, in: MDAV 1/95, Anm.1, S. 7
28) ebd. S. 4
29) F. Maier, Lateinunterricht zwischen Tradition und Fortschritt, Bamberg 1984, Bd.2, S.174, bes. S. 188
30) F. Maier, Lateinunterricht zwischen Tradition und Fortschritt, Bamberg 1979, Bd.1, S.168
31) F. Maier, Zum Zielprofil eines zeitgemäßen L2-Unterrichts, in: MDAV 1/95, S. 3
32) G. Fink, a. a. O., S. 21
33) F. Maier, Zum Zielprofil eines zeitgemäßen L2-Unterrichts, in: MDAV 1/95, S. 1
Rupert Farbowski, Beckum
Karin Lerchner: Hildegard von Bingen 1098 - 1179
Wohl kaum ein Autor des 12. Jahrhunderts hat in den letzten Dezennien so großes und fächerübergreifendes Interesse gefunden wie die Äbtissin vom Rupertsberg bei Bingen: Das Interesse wird an einer Flut von Büchern ablesbar, die solide oder in einseitiger Vereinnahmung das Bild Hildegards als Visionärin oder Naturheilkundige prägen. Das 900-Jahr-Jubiläum ihres Geburtstages wird einen neuerlichen Rezeptionsschub mit Werkausgabe, Biographie, Kalender, Homepage im Internet und Ausstellung mit sich bringen.
Hildegard darf als bekannteste Visionärin im mittelalterlichen Deutschland gelten. Die Forschungsgeschichte stellt sie an den Beginn der deutschen Mystik, die sich aber verstärkt der deutschen Sprache bedient. Dagegen hat Hildegard alle ihre Schriften in Latein verfasst, der Kirchen- und Gelehrtensprache des Mittelalters. Sie strebt mit der lateinischen Sprache die auctoritas an und beansprucht Lehrautorität, da sie sich unmittelbar vom Göttlichen berührt fühlt. Ihre Visionen und mystische Prophetie nutzt sie als weibliche Wirkungsmöglichkeit der Lehre, da das Kirchenrecht unter Berufung auf 1 Tim 2,9ff weibliche Lehre verbietet.
Mit ihrem visionären Werk nimmt Hildegard in der Geschichte der Visionsliteratur insofern eine Sonderstellung ein, als sie ihre Schauungen nicht im raptus, sondern in einer Art intuitiver Erkenntnis im Wachzustand empfängt, während alle anderen Visionäre in früherer und späterer Zeit ihre Visionen in Ekstase erleben. Daher stellen ihre Schriften keine spontanen Aufzeichnungen mit Erlebnischarakter dar, so dass ihr visionäres Werk nicht aus gesammelten Einzeloffenbarungen besteht. Die Aufzeichnung ihrer Visionen erfolgten, wie sie selbst angibt, nach jahrelanger Bearbeitung, weshalb ihre Visionstrilogie ein systematisch angelegtes Werk durch die Schau vermittelter Theologie darstellt.
Hildegard wurde 1098 als zehntes Kind des Edelfreien Hildebert von Germersheim und seiner
Frau Mechthild in Bermersheim bei Alzey geboren. Als ,Zehnt' wurde sie achtjährig zur geistlichen Erziehung dem Kloster Disibodenberg anvertraut, wo sie die Klausnerin Jutta von Spanheim in ihre Obhut nahm. 1136 wird Hildegard nach dem Tod Juttas zur Magistra der zum Konvent angewachsenen Frauengemeinschaft gewählt. Sie initiiert den Bau eines Frauenklosters auf dem Rupertsberg bei Bingen (1147-52) , zieht mit der Frauengemeinschaft dorthin um und erwirbt 1165 das leerstehende Kloster in Eibingen auf der anderen Rheinseite als Tochterkloster hinzu. Hildegard stirbt am 17. September 1179 im Kloster Rupertsberg.Wenige Reste wie die Kelleranlagen und einige Arkadenbögen der Abteikirche zeugen heute noch von dem einstigen Kloster, das im Dreißigjährigen Krieg niederbrannte. Kein geringerer als Matthias Grünewald hat der Nachwelt ein Abbild des Klosterbaus auf dem Rupertsberg erhalten. Der Isenheimer Altar (Colmar, Musée d'Unterlinden) zeigt auf der Mitteltafel Maria mit Kind, in den Landschaftshintergrund eingeblendet den Klosterbau, der als Kirchenbau im Marienbild auf Maria als Typus Ecclesiae verweist.
Nach ihren eigenen Angaben besaß Hildegard schon seit ihrer Kindheit die Gabe der visionären Schau, die sie erst ab 1141 niederschrieb. Die Bilder der Hildegard-Handschriften zeigen sie als Autorin auf eine Wachstafel schreibend, wie sie vom göttlichen Licht berührt wird und in Begleitung des Mönches Volmar vom Disibodenberg, der ihr assistiert wie in den letzten Lebensjahren auch Wibert von Gembloux. Ihr erstes und zu allen Zeiten bekanntestes Werk ,Liber Scivias' (1141-1151) wurde auf der Synode von Trier 1147/48 auf Anregung Bernhards von Clairvaux durch dessen Schüler Papst Eugen III. approbiert. Zwei weitere Visionswerke folgten, der 1158-1163 entstandene ,Liber vitae meritorum' und der 1163-1173/4 entstandene ,Liber divinorum operum'. In den 50er Jahren des 12. Jahrhunderts entstehen die naturkundlichen Schriften, der ,Liber subtilitatem diversarum naturarum creaturarum', der im Zuge der handschriftlichen Überlieferung in zwei Werke getrennt worden ist, der ,Liber simplicis medicinae' (= sog. Physica) und der ,Liber compositae medicinae' (= sog. Causae et curae), in denen mittelalterliche Naturkunde mit der Temperamentenlehre und Humoralpathologie verbunden wird. Eine Besonderheit der ,Physica' besteht darin, dass neben den üblichen, der Tradition des enzyklopädischen Schrifttums entstammenden Sachbereiche auch die Fauna und Flora ihrer Heimat an der Nahe einbezogen sind, die mit den deutschen Begriffen im sonst lateinischen Text bezeichnet werden. Sowohl aufgrund ihrer visionären Begabung wie ihres medizinisch-naturkundlichen Wissens war sie eine viel konsultierte Ratgeberin, was sich in ihrem Briefcorpus niederschlägt: Bisher sind etwa 300 Briefe Hildegards nachgewiesen. Aufschlussreich sind ihre Briefe an Bernhard von Clairvaux, Wibert von Gembloux und die jüngere Visionarin Elisabeth von Schönau, in denen sie zu ihrer Visionsbegabung Stellung nimmt. Dagegen spiegelt sich in den Briefen an Richardis von Stade ihr persönliches Interesse an ihrer Freundin und geistlichen Tochter. Außergewöhnlich für eine zur stabilitas loci verpflichtete Nonne sind ihre vier Predigtreisen zwischen 1158 und 1161, die sie auf dem Main bis Bamberg, über Trier nach Lothringen, bis Köln, wo sie zur Katharerfrage predigte, und in die schwäbischen Reformklöster führten.
Die Verankerung ihres Gesamtwerkes in ihrem Prophetentum und ihrer Theologie beweist auch ihr eigentlich künstlerisches Werk, ihre geistliche Lyrik und Musik. In einer der am meisten erforschten Epochen der europäischen Musik, der des mittelalterlichen religiösen Gesanges, stammt das umfangreichste überlieferte Werk von einer Frau: Insgesamt 77 geistliche Gesänge (Antiphonen, Responsorien, Hymnen und Sequenzen) und ein Singspiel ,Ordo Virtutum' für Solostimme und Chor haben sich erhalten. Hier zeigt sich Hildegard als Dichterin und Komponistin, die im Zusammenwirken von Kompositionstechnik und Dichtung ihre Vorstellung von der Musik als Abbild der himmlischen Harmonie verwirklicht und damit dem pythagoreisch-platonischen Verständ
nis der Musik verpflichtet ist. Die Korrespondenz von musikalischer Struktur und Textbedeutung dienen hier zur Darstellung der Schöpfungsherrlichkeit und des göttlichen Vorauswissens.Der Grundzug ihres Schaffens ist die visionäre Schau, die nicht nur den eigentlich visionären Werken, sondern auch den Briefen und Predigten eine individuelle Prägung verleiht, indem die Vision Mittel der Belehrung, Ermahnung und Erinnerung der Bestimmung des Menschen im Heilsplan Gottes ist. Dies kommt auch in der Naturkunde zum Ausdruck, wenn z.B. Krankheiten wie die Melancholie, die humoralpathologisch gesehen durch das Überwiegen der schwarzen Galle entsteht, zusätzlich durch den Sündenfall begründet wird:
Haec autem melancolia naturalis est omni homini de prima suggestione diaboli, quoniam homo praeceptum dei transgressus est in cibo pomi.
(Causae et curae, Lib. II, De melancoliae morbo)
Hildegards Prophetentum schlägt sich in einer von biblischer Bildsprache gespeister Prosa nieder, die dem schlichten Stil, dem sermo humilis verpflichtet ist, womit sich die Autorin nicht als im Sinne des Arteswissens gelehrt, wiewohl theologisch gebildet zu erkennen gibt. Die Darstellung und Auswertung der Visionen zeigen bei ihr ein festes Verfahren, das zweigeteilt ist: 1. Beschreibung der eigentlichen Schau, 2. allegorische Auslegung und Legitimation der Bedeutung des Visionsbildes durch eine göttliche Stimme, so dass die Offenbarungsmitteilung in Vision und Audition besteht. Auch in ihren Briefen wählt sie diese Vermittlungsstrategie, wo auch Vision, Auslegung und Audition zueinandertreten. Eine Passage aus ihrem Brief (Ep. 52) an den Priester Werner von Kirchheim unter Teck (nach 1170) mag dies verdeutlichen:
In lecto aegritudinis diu jacens, anno Dominicae incarnationis millesimo centesimo septuagesimo, vidi vigilans corpore et animo, pulcherrimam imaginem, muliebrem formam habentem, quae electissima in suavitate et charissima in deliciis tantae pulchritudinis erat, ut eam humana mens nequaquam comprehendere valeret, et cujus statura a terra usque ad coelum pertingebat. Facies quoque ipsius maxima claritate effulsit, et oculos ejus in coelum aspexit. Candidissima etiam veste ex albo serico induebatur, et pallio pretiosissimis lapidibus, scilicet smaragdo, sapphiro, baccis quoque et margaritis ornato circumdabatur, calceamenta ex onychino circa pedes habens.
Der Visionseingang gibt Ort, Zeit und nähere Umstände der visio an, was ein typischer Zug des Offenbarungsschriftttums ist. Dass die Vision im Zustand körperlicher Krankheit erlebt wird, ist nicht nur für Hildegard, die ihre schwache Konstitution als gottgewollte Prüfung verstand, sondern ist für die Schriften vieler Visionäre und Visionärinnen konstitutives Merkmal, das Krankenbett wird gleichsam zu einem typischen Visionsort. Der ausdrückliche Hinweis auf den Wachzustand des Körpers und des Geistes im Visionseingang unterscheidet aber Hildegards visio von den anderen. Nach dem Visionseingang folgt die Beschreibung des Visionsbildes selbst: eine weibliche Gestalt, die in ihrer Größendimension von der Erde bis zum Himmel reicht, zu dem sich ihr Blick erhebt, ist in ein kostbares weißseidenes Gewand gekleidet, das mit Steinen und Perlen geschmückt ist. Ihre Schuhe sind aus Onyx. Die Beschreibung der Frauengestalt lässt an die Darstellung der Philosophie in der ,Consolatio philosophiae' des Boethius und stärker noch an die der Natura im ,Planctus naturae' des Alanus ab Insulis denken, denn auch hier ist die vollkommene Schönheit aktuell beeinträchtigt, da ihr Gesicht mit Staub bestreut, das Kleid zerrissen und ihre Schuhe verschmutzt sind:
Sed facies ejus pulvere aspersa erat, et vestis in dextero latere scissa fuerat, atque pallium ejus elegantem pulchritudinem suam amiserat, et calceamenta ipsius denigrata erant.
Darauf erhebt die Gestalt anklagend ihre Stimme zum Himmel und kann die Schuldigen an ihrem erbärmlichen Zustand benennen:
Nutritii autem mei, videlicet sacerdotes, qui faciem meam facere deberent velut auroram
rubere, (...) et qui me ubique ornare debuerant, me in omnibus his destituerunt.Die schöne Gestalt ist die ewige Ecclesia, die durch das Fehlverhalten des Klerus beschmutzt ist. Der Ordnung der Beschreibung des Visionsbildes folgend, werden Gesicht, Kleid und Schuhe auf die spezifischen Vergehen der Priesterschaft ausgelegt und damit der Adressatenbezug wiederhergestellt:
Nam faciem meam per hoc sordidant, quod corpus et sanguinem sponsi mei cum magna immunditia lasciviae morum suorum, et magna spurcitia fornicationum et adulteriorum, et pessima rapina avaritiae, vendendo et emendo quaeque inconvenientia tractant et accipiunt, (...)
Die Auslegung auf den lasterhaften Klerus mündet in eine eindringliche Warnung und Mahnung zur Umkehr und gipfelt in der düsteren Prophezeiung der Zerschlagung des Klerus durch die weltlichen Gewalten und das Glaubensvolk selbst:
Principes enim et temerarius populus super vos, o sacerdotes (...), irruent, et vos ajicient et fugabunt, et divitias vestras vobis auferent, pro eo quod tempus sacerdotalis officii vestri non attendistis.
Die Legitimation ihrer Kleruskritik schöpft Hildegard aus der Audition, die ihr das Visionsbild als Bild der Kirche weist und ihr den Auftrag gibt, diese Botschaft an die Priester zu übermitteln:
Et audivi vocem de coelo dicentem: Imago haec ecclesiam demonstrat. Quapropter tu, o homo, qui ista vides et audis plangentia verba, haec sacerdotibus qui ad regendum et docendum populum Dei constituti et ordinati sunt profer, quibus cum apostolis dictum est: (...)
Diese kurze Probe mag verdeutlichen, wie Vision, Audition und ausführliche Ausarbeitung des in der Audition empfangenen Bedeutungsgehaltes der Vision das ganze Prosawerk Hildegards bestimmen, so auch die zu aktuellen Anfragen von ihr verfassten Briefe und Predigten. Die ungewöhnlichen und dunklen Visionsbilder erfordern die Erklärung, doch sind sie auch illustrativ um gesetzt worden. Die Bilderhandschriften des ,Scivias' und des ,Liber divinorum operum' sind noch im 12. und 13. Jahrhundert geschaffen worden. In ihren hochwertigen Illustrationen zeigen sie im anderen Medium des Bildes ein Pendant zur Schilderung durch das Wort, da sie in Farbe und Anordnung der Bildsujets der Textbeschreibung folgen.
Die Nachwirkung von Hildegards Schriften in den Jahrhunderten nach ihrem Tod ist relativ bescheiden. Erst mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Abtei St. Hildegard in Eibingen neu erbaut wird (1900-1904), hat sich das Tochter- und Nachfolgekloster der Pflege ihres Andenkens wie auch der wissenschaftlichen Aufarbeitung ihres Werkes angenommen.
Internet-Adresse: Hildegard von Bingen
Ausstellung zum Hildegard-Jahr 1998:
17. April bis 8. August 1998
Hildegard von Bingen - Leben und Werk
Dom- und Diözesanmuseum Main.
Leseempfehlungen:
H. Schipperges, Hildegard von Bingen, Beck'sche Reihe 2008, München 1995
H. Schipperges, Die Welt der Hildegard von Bingen. Panorama eines außergewöhnlichen Lebens, Freiburg i. Br. 1997 (mit guter Bibliographie)
Deutsche Mystik, ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Louise Gnädinger, Zürich 1994
Mittelalterliche Visionsliteratur. Eine Anthologie. Ausgewählt, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Peter Dinzelbacher, Darmstadt 1989
G. Brinker-Gabler, Deutsche Literatur von Frauen, Bd. 1, 1988
Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. II: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit, München 1993
Karin Lerchner, Wuppertal
Peter von Moellendorff: Wenn der Diaulos erklingt ...
Münchener Dionysien am 22.7.1997
Hartmut Schulz: Vom "Arbeitsunterricht" zur "Handlungsorientierung"
Am Dienstag, dem 22. Juli 1997, konnte man in der Aula der Münchener Hochschule für Philosophie Ungewöhnliches sehen. Einen ganzen Tag lang inszenierten Studenten und Dozenten von neun Universitäten Dramen des Aischylos, des Sophokles und des Euripides in originaler Sprache. Das war auch die einzige Bedingung gewesen, die den Teilnehmern an diesem Wettbewerb gestellt worden war; ansonsten blieb es jedem selbst überlassen, ob er lieber als Solist oder in Gruppe, mit einem gekürzten Werk oder mit einem Ausschnitt, mit Chor oder mit Schauspielern oder gar beidem, singend oder sprechend, kostümiert oder unkostümiert auftreten wollte. Und so konnten die Zuschauer - unterstützt durch ein griechisch-deutsches Textheft und kurze Einführungen zum Inhalt des jeweils dargebotenen Stückes - ein abwechslungsreiches Programm erleben, das sie von Aischylos' Agamemnon (Zürich, Wien und Heidelberg) über Sophokles' König Ödipus (Rostock), Elektra (Princeton) und Spürhunde (FU Berlin) bis zur Alkestis (München), zur Andromeda (HU Berlin) und schließlich zu den Bakchen des Euripides (Münster) führte.
Diese Beschränkung aufs Tragische und Satyrische war ursprünglich nicht vorgesehen gewesen; doch zeigte sich beim Eintreffen der Anmeldungen, dass für die Inszenierung einer Komödie offensichtlich größere innere Widerstände zu überwinden sind: hier - und nicht nur hier - eröffnet sich also für kommende Projekte dieser Art noch ein weites Betätigungsfeld.
Schon im Sommer 1995 hatten sich zu einem ähnlichen Ereignis - einem Wettbewerb in der (ebenfalls griechischsprachigen) Rezitation der Ilias - zahlreiche Universitätsgruppen auf Einladung der FU und der HU in Berlin eingefunden. Das Münchener Institut, das damals den ersten Preis davontragen konnte, nahm nun die Verabschiedung von Professor Hellmut Flashar zum Anlass, einen dramatischen Agon auszurichten und damit das in Berlin Begonnene einen Schritt weiter auf dem Weg zu einer Tradition voranzubringen.
Entsprechend war der Rahmen des Wettbewerbs dem Repräsentativen gewidmet. Am Vorabend fand ein Festakt anlässlich der Emeritierung von Hellmut Flashar statt, am Abend nach dem Agon ein Konzert des Hochschulorchesters mit Orffs Catulli Carmina und Jan Nováks Aesopia.
Dazwischen lagen sieben Stunden ,dramatischen Geschehens' und die Siegerehrung im Teatrino und im Garten des benachbarten Münchener Orff-Zentrums.
Schon am Morgen füllten zahlreiche Besucher, darunter einige Schulklassen, die für rund 250 Personen ausgelegte Aula der Hochschule für Philosophie. Damit stand schon für die ersten Schausteller ein großes und gespanntes Publikum bereit - und dies blieb so, mit wechselnden Zuschauern, bis zum Abend. Man sieht: das Interesse selbst für das oft schon tot geglaubte Griechisch ist stark und lebendig, hatte sich doch die Werbung aufgrund eines traurigen Desinteresses der Medien auf das Internet, auf kurzfristige Plakatierung und - für die Schulen - auf ein Mailing beschränken müssen. Immerhin hatte das Spektakel bereits im April im SPIEGEL angekündigt werden können.
Den Anfang machte Samuel C. Zinsli von der Universität Zürich mit dem Prolog des Wächters aus dem Agamemnon des Aischylos. Bedächtig gewählte Worte, lange Pausen, wechselnde Reflexionen des auf dem Dache liegenden Wächters, der Tag für Tag und Nacht für Nacht nach dem Siegesfeuer Ausschau halten
muss, das dann endlich bei Tagesanbruch aufflackert: die Monotonie dieses Daseins und das freudig-erschrockene Zusammenbrechen der scheinbaren Distanz zu dem unheilvollen Geschehen im Atridenpalast verbanden sich in Zinslis Vortrag zu einem eindrucksvollen Ganzen.Marschschritte, das rhythmische Stampfen von Stöcken und der näselnde Klang eines Diaulos: die Parodos, das Einzugslied der alten Männer, die den Chor des Agamemnon bilden, hatte begonnen. Vom Foyer aus zogen die Choreuten der Universität Wien, der Koryphaios auf einen ðá¦ò gestützt, in die Orchestra - Verzeihung: die Aula - ein. Schwarz-weiß gewandet brachten sie die ersten 63 Verse des Liedes zur Darbietung, das Metrum und die Akzentuierung des Textes präzise im Gesang abbildend. Die Zuschauer waren von der archaischen Strenge, der optischen wie akustischen Harmonie und Geschlossenheit, schließlich dem unabweislichen Eindruck besonderer Authentizität aufs Äußerste gefesselt. Hierzu trug nicht zuletzt die im Eigenbau gefertigte Doppelflöte bei: den Klang dieser Musik einmal gehört zu haben, so zahlreiche Stimmen aus dem Publikum, bleibt unvergesslich.
In direkter Konkurrenz führten darauf Choreuten der Universität Heidelberg die vollständige Parodos des Agamemnon auf. Ein Stimmungswechsel, wie er krasser nicht vorstellbar war! Vor den Augen und Ohren der Zuschauer entzündete sich ein Feuerwerk synkopischer Rhythmen, zerrissen-schriller Melodik und wirbelnder tänzerischer Bewegung, kurz: hatten die Wiener den Text ritualistisch-gemessen zelebriert, so rückten die Heidelberger stärker den orgiastischen Aspekt des Tragischen in den Vordergrund.
Den Reigen der Sophokles-Inszenierungen eröffneten Schauspieler der Universität Rostock mit der Anagnorisis- und der Blendungsszene des König Ödipus. Die Rostocker hatten sich für eine klassizistische Aufführung entschieden: helle antikisierende Gewänder in schönem Kontrast zu einem künstlerisch sehr gelungenen) Bühnenbild, das den Palast zu Theben in dunklen Farben andeutete, die Aussprache des Griechischen in humanistischer Tradition. Im Mittelpunkt: Ödipus, dem die Wahrheit über die Vergangenheit zu däm
mern beginnt und der allmählich seine würdevolle Gefasstheit verliert. Eine Inszenierung eher der leisen Töne, zurückhaltend auch im Pathos.Die Darbietungen des Vormittages schlossen mit zwei Monologen der Titelheldin der Elektra (86-120.254-309). Katharina Volk (Princeton) intonierte nicht nur professionell Metrum und 'pitch-accent', sondern vermittelte auch überzeugend die Vereinsamung, die Trauer und zugleich die wilde Entschlossenheit der Agamemnonstochter.
Hatte der Morgen der Inszenierung von Ausschnitten aus Dramen gegolten, so war die "Nachmittagsvorstellung", zu der wieder ein zahlreiches Publikum erschien, den gekürzten Fassungen einzelner Werke gewidmet. Sie begann mit dem Auftritt einer Schauspielergruppe der Freien Universität Berlin, die Sophokles' Satyrspiel Die Spürhunde als fulminantes Spektakel auf die Bühne brachten. Die gesamte Aula war in eine exotische Bühnenlandschaft in sattem Dunkelgrün und Braun verwandelt worden, in der sich weibliche und männliche Satyrwesen räkelnd dem Nichtstun hingaben, bis sie sich - plötzlich aufgeschreckt durch einen über den Diebstahl seiner Herde erbosten Apoll, der goldgeschminkt wie ein ,deus ex machina' von der Galerie aus die Belohnung für den Finder verkündete - angeführt von einem brillant agierenden Papposilen auf die Suche nach dem Übeltäter machten. Altgriechische Sprache und Gesang, 'chorus-line' und Musik verschiedenster Epochen und Gattungen verbanden sich zu einem perfekt inszenierten Musical, dessen zwischen Laszivität und Unschuld changierende Ausgelassenheit sich immer weiter steigerte, um schließlich in den Auftritt eines homerischen Aöden zu münden, der dem wilden Treiben mit dem zur Leier vorgetragenen Schluss der Geschichte, wie ihn der Hermeshymnos erzählt, ein Ende im ästhetischen Kontrast setzte.
Nach einer kleinen Pause inszenierten dann die Gastgeber aus München eine gekürzte Fassung der Alkestis des Euripides. Zu der eigens für diesen Anlass komponierten und 'life' aufgeführten Musik von Christian Auer zeigten die Münchner - unter Verzicht auf extremen Aufwand in Requisit und Kostüm - den Tod und die Wiederauferstehung der Alkestis. Vor dem Hintergrund eines in lyrisch-ruhiger Gemessenheit singenden und agierenden Chores erweckten eine bestechende schauspielerische Leistung in Verbindung mit einem wie selbstverständlich geläufigen Griechisch in den Zuschauern die Empfindung wirklicher Tragik.
Einen ganz anderen Zugang wählten hingegen die Schauspieler der Humboldt-Universität Berlin in ihrer anschließenden Aufführung der Fragmente der Euripideischen Andromeda. Wer sich bei der Lektüre des Programms gefragt haben mochte, wie es wohl gelingen könnte, die rund 40 Bruchstücke des Werkes zu einem ästhetischen Ganzen zusammenzufügen, erlebte eine Überraschung. Die Berliner inszenierten gerade den fragmentarischen Charakter des Werkes als integrativen, wenn nicht gar konstitutiven Bestandteil des Werkes, wie wir heutigen es eben (nur) kennen. Und so versuchen die Personen, Figuren und Schauspieler zugleich, aus der Retrospektive (des vereinigten Paares) zu rekonstruieren, was denn eigentlich ,damals' wirklich geschehen ist, geschrieben wurde. Der griechische Text der Fragmente - kontrastiert mit dem Deutsch der eigentlichen Bühnenhandlung - wurde hier zur Parodie auf seinen eigenen Anspruch auf Authentizität: Unendliche, die Bühne überflutende Papierfetzen eines nie mehr zu legenden Puzzles - nur der ironisch echoende Chor blätterte gelassen in einer vollständigen Zeit-ung (!), während das Drehbuch des Regisseurs niemandem Aufschluss zu geben vermochte - verbanden sich mit den Wortfetzen des Überlieferten und der (von philologischen Einwänden aus dem Publikum konterkarierten) Erinnerungsarbeit der Figuren zu einem Teufelskreis, dessen diabolische Dynamik schließlich das Haupt der Medusa in stellaren Konstellationen erstarren ließ.
Am Ende des Agons stand die Verführungs- und Verzauberungsszene aus den Bakchen des Euripides. Die schwarzgekleideten Choreuten und Schauspieler der Universität Münster, als einzige Gruppe mit (weißen) Masken, vertrauten ganz auf die Macht der (griechischen) Sprache, so dass der dramatische Tag mit dieser Inszenierung im wahrsten Sinne des Wortes ,ausklang': ein würdiges Finale auch deshalb, weil hier endlich der Schutzherr des Agons, Dionysos, auf die Bühne kam und seine Macht zeigte.
Beeindruckend war die große Bandbreite der Möglichkeiten, antikes Theater auf die Bühne zu bringen, und das professionelle Niveau, auf dem sich dabei alle Darbietungen bewegten. Besonders prägend aber war vielleicht doch die Erfahrung, dass das gesprochene Altgriechisch in alldem - unabhängig davon, ob die Inszenierung eher zum Archaisieren oder zum Exotisch-Orgiastischen, zur Einbindung von Musik und Tanz oder zur Konzentration auf das Verbale neigte - stets vitaler Bestandteil, nie Ballast oder Fremdkörper war. Es hat sich gezeigt, dass sich das reine Verständnisproblem durch entsprechende Hilfsmittel zum einen, durch die Illustration im Spiel zum anderen fast völlig entschärfen lässt, so dass sich ein weiter Raum für den ästhetischen Genuss am Klang, an der Intonation, an ,Sprache pur' eröffnet, ja dass das Griechische sogar - wie die Andromeda zeigte - in eine lebendige Auseinandersetzung und Konfrontation mit dem Deutschen treten kann.
Es bliebe zu wünschen, dass solche Tage zur festen und regelmäßigen Einrichtung würden; die Publikumsresonanz hat gezeigt, dass im Kulturleben durchaus ein Interessepotential für das Faszinosum Griechisch vorhanden ist. Die griechische Literatur hält noch viele Texte bereit, die einer solchen Form der Veröffentlichung harren: und es muss nicht immer der Sieger eines Agons sein, der den nächsten Konvent ausrichtet. Zuletzt aber eine (selbst)kritische Anmerkung: Das agonale Prinzip mag eine Attraktion eigener Art darstellen, aber gerade die, wie die obige Schilderung gezeigt haben dürfte, zumindest im Bereich des Dramas nur allzu schlechte Vergleichbarkeit der Einzeldarbietungen hat zur Folge, dass jedes Ergebnis - hier lautete es: FU Berlin (1. Platz), HU Berlin (2. Platz), Univ. Heidelberg und Univ. München (3. Platz pari passu) - im letzten zu vieles unberücksichtigt und ungesagt lässt. Es wäre zu überlegen, ob man nicht andere Anreize schaffen könnte, etwa durch Aussetzung von Preisen beispielsweise für die beste chorische oder schauspielerische Leistung, die gelungenste sprachliche Gestaltung, das qualitätsvollste Bühnenbild und anderes. Eine Würdigung der einzelnen Leistung wäre, so meine ich im nachhinein, auf diese Weise genauer und angemessener möglich gewesen.
Ich möchte diesen kurzen Bericht beschließen mit einem Dank an alle Mitwirkenden, die weder Kosten noch Mühen gescheut haben und manche Unbequemlichkeit auf sich genommen haben, um dabei sein zu können; an die Elisabeth J. Saal Stiftung und die Schenkung Lautrach, die finanzielle Unterstützung gewährten; an das Orff-Zentrum München für seine Gastlichkeit; und zuletzt an die anonymen Helfer, die immer im rechten Moment mit anpackten.
Dokumentation:
(a) Tonbandaufnahme (3 Kassetten) der gesamten Dionysien
(b) Videoaufnahme der gesamten Dionysien; leicht erhöhte frontale Perspektive
(c) Videoaufnahme mit Ausschnitten aus den Dionysien; wechselnde Perspektiven
(d) Dokumentationsband mit Texten und Photos (in Vorbereitung)
Aus Kosten- und Personalgründen ist es selbst gegen Bezahlung nicht möglich, von diesen vier Teilen der Dokumentation Ablichtungen oder Reproduktionen herzustellen. Bei Übernahme der Versandkosten (Porto/Verpackung) ist jedoch Ausleihe (nicht länger als sechs Wochen) möglich; es wird gebeten, das Material auch selbst nicht zu vervielfältigen. Für nähere Informationen wenden Sie sich bitte an:
Dr. Peter v. Möllendorff, c/o Institut für Klassische Philologie, LMU München, Geschwister-Scholl-Platz 1, D-80539 München. Tel.: 089/2180-3558. Fax: 089/2180-2355. e-mail: moellendorff@ lrz.uni-muenchen.de
Peter von Möllendorff, München
Arbeits- und Sozialformen als methodisches und didaktisches Problem des altsprachlichen Unterrichts
"Sie können ja nichts dafür, dass Latein so ein langweiliges Fach ist ..." Die junge Lehrerin, die gerade eine Klasse übernommen hat, hört es mit Erstaunen. Nun ist das Lehrwerk, das ihr vorliegt, nicht gerade das allerneueste, aber es gäbe Möglichkeiten, andere anschauliche Materialien einzubeziehen, die die Sprache Latein mit Leben erfüllen könnten; doch das ist ihren neuen Schülern bisher nicht oft widerfahren. Und die "Sachtexte" in ihrem Unterrichtswerk finden sie von allem am langweiligsten. Es sind wohl auch gar nicht so sehr die Materialien allein für den öden Eindruck verantwortlich, sondern die Rituale des Unterrichtsablaufes, das immer gleiche vom Lehrer ausgehende ,Frage-und-Antwort-Spiel', das - wenn auch für den Gymnasialunterricht insgesamt typisch - dieses Fach insbesondere auszuzeichnen scheint. An anderer Stelle hat Hartwig Lechle ähnliche Beobachtungen mitgeteilt: "Nicht die Inhalte sind es, selten auch nur die Lehrbuchtexte, die unsere Schüler vergraulen, sondern die meist unbewußte, häufig auch von Demotivation der Lehrer getragene, seelenerstickende Bevormundung eines Unterrichts, der die persönliche Begegnung der Schüler mit dem Objekt des Lernens nicht zustande kommen läßt."1
Diese Beobachtungen sind umso erstaunlicher, als vor fast einem Dreivierteljahrhundert die Frage einer Neuorientierung der Arbeitsformen im altsprachlichen Unterricht nicht nur mit Dringlichkeit gestellt, sondern auch in den preußischen Rahmenrichtlinien für fast zwei Drittel der Schüler im damaligen Deutschen Reich als Forderung festgeschrieben wurde: "Der Unterricht ist grundsätzlich Arbeitsunterricht. Er fordert vom Lehrer, daß er bei der Stoffauswahl niemals die Stoffübermittlung allein als Ziel seiner Arbeit betrachtet, sondern stets prüft, welche Kräfte des Zöglings in der Schularbeit entwickelt und gesteigert werden können, insbesondere Selbständigkeit des Urteils, Gemüt, Gefühl und Wille."
"Die natürliche Spannung zwischen dem Erwerb sicheren Wissens, ohne das höhere geistige Tätigkeit nicht möglich ist, und dem Erwerb der Fähigkeit selbständigen Arbeitens, ohne die bloßes Wissen unfruchtbar bleibt, zu überbrücken ist die ernste und große Aufgabe des Arbeitsunterrichts."2
"Arbeitsunterricht" ist eine der zentralen Forderungen der Rahmenrichtlinien, ein schulpädagogischer Reformbegriff, dessen konkrete Bedeutungsbreite von materieller Tätigkeit und Güterproduktion bis zur "freien geistigen Tätigkeit" der höheren Schule reicht.3 Vor allem Hugo Gaudig hat diese Ideen für die Ziele des Fachunterrichts fruchtbar gemacht, kritisch setzt er sich dabei mit dem allgemein üblichen Klassenunterricht auseinander:
"Die ,Klasse' arbeitet gut; ohne daß es der Lehrer oft merkt, erzielt er ein gutes Gesamtergebnis (vielleicht eine glänzende Leistung) nur, indem er die Rollen so verteilt, daß die entscheidenden Schritte immer von derselben kleinen Minderheit getan werden, während das Gros nur die Zwischenarbeit leistet."4
Gaudig fordert demgegenüber eine Individualisierung der Schülerarbeit, eine Einführung und Einübung in unterschiedliche Arbeitstechniken, die auch arbeitsteilig an unterschiedlichen Objekten angewandt werden können.5 In diesem Sinne geben auch die Rahmenrichtlinien von 1925 konkrete methodische Hinweise zur Durchführung des "Arbeitsunterrichts": Auf allen Klassenstufen soll der Schüler eine "zweckmäßige Arbeitstechnik" gewinnen, die Arbeit soll in "Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung" organisiert werden, der "Schülerfrage" soll ein möglichst breiter Raum gelassen werden.6 Ist das Ziel Gaudigs vornehmlich die Heranbildung einer individuellen Arbeitsdisposition beim einzelnen Schüler, geht es Fritz Karsen vor allem um die Einübung planmäßiger und effektiver Bearbeitung längerfristiger Aufgaben, Arbeitsteilung in kleinen Gruppen ist dabei selbstverständlich, Begriffe wie "Werkstatt" und "Werkmeister" kennzeichnen die neue Arbeitssituation in der Klasse.7 Von der in den Rahmenrichtlinien und der schulpädagogischen Literatur zumindest angeregten Vielfalt der Aktions- und Sozialformen der Unterrichtsarbeit ist im altsprachlichen Unterricht jedoch in der Folge wenig zu spüren: "Mündlicher Arbeitsunterricht" heißt künftig das Zauberwort, das eine zu weitreichende Umstellung der Gewohnheiten vermeiden hilft. Der Lehrer-Schüler-Dialog wird von Wilhelm Hartke in seinem Beitrag zum "Handbuch des Arbeitsunterrichts für höhere Schulen" in Abgrenzung von den arbeitsteiligen Verfahren Karsens und Gaudigs gar zum "platonischen Unterricht", zum "Mysterium" und "Sakrament" stilisiert.8 Es kam den Altphilologen dabei sehr entgegen, dass Georg Kerschensteiner, einer der Hauptverteter der "Arbeitsschulbewegung" das Übersetzen lateinischer Texte für ein besonders geeignetes Mittel erachtete, "die Gewohnheiten des empirischen Denkens in Gewohnheiten logischen (oder, was das gleiche ist, wissenschaftlichen) Denkens umzuwandeln ... ein Grundmerkmal der Arbeitsschule, wie es eine Grundforderung der Charakterbildung ist"9. Schon von seinem Gegenstand her war der altsprachliche Unterricht damit als Arbeitsunterricht legitimiert, Fragen der Arbeitsorganisation konnten in den Hintergrund treten: "Überlege, wie du die jeweilige Unterrichtsaufgabe unter möglichst selbsttätiger innerer Beteiligung des Schülers lösen kannst, wie du die Vermittlung des neuen Stoffes in möglichst selbsttätige Arbeit der Schüler umsetzen kannst", lautete der Rat, den Max Krüger den Lesern seiner "Methodik" mit auf den Weg gab.10 Das bedeutete für den lateinischen Sprachunterricht vor allem das Vorherrschen der "induktiven" Herleitung der grammatischen Phänomene gegenüber deduzierenden oder analogiebildenden Verfahren. Angestrebt wurde auch eine eher freie Form des Klassengesprächs, deren Schwierigkeiten Hartke bei den auch damals überfüllten Klassen realistisch einschätzte11.
Ein Unterrichtsprotokoll vom Anfang der 30er Jahre zeigt, wie "Arbeitsunterricht" bei der Übersetzung deutscher (!) Sätze ins Lateinische damals aussehen konnte:
"Ein Schüler las zunächst das Stück Satz für Satz deutsch vor. Nach jedem vorgelesenen Satz stellten er selbst und einige Mitschüler Fragen nach unbekannten Ausdrücken ohne besondere Aufforderung. Die passenden Wörter wurden lateinisch und deutsch selbständig angegeben, zum weitaus größten Teil von den Schülern ... Fehler wurden von den Mitschülern selbständig verbessert und sogleich richtig wiederholt. Nachdem das ganze deutsche Stück so vorbereitet war ... , wurden zunächst zwei bessere Schüler bestimmt, die je einen Satz mit dem Buch in der Hand an die Tafel schriftlich zu übersetzen hatten, bei den folgenden Sätzen zwei neue Schüler usw. ... Währenddessen blieben die übrigen Schüler auf ihre Aufgabe, den Rest der Sätze mündlich zu übersetzen, konzentriert ... Es wurde dann für jeden Satz hinreichend Zeit gegeben, und nochmals waren kurze Fragen gestattet. Wer den Satz zu bewältigen können glaubte, stand auf und hatte nun das Wort bei der mündlichen Übersetzungsleistung. Fehler wurden anschließend sofort selbständig verbessert, und der Satz wurde richtig wiederholt, diesmal von dazu aufgerufenen Schülern, die seither zurückhaltender gewesen waren. ... Gegen Ende der Stunde wurden die Sätze an der Tafel (die Anschreiber hatten wieder Platz genommen) von einem Schüler vorgelesen und an der Tafel sofort deutlich verbessert."12
Die vorgestellte Stunde zeigt durchaus Merkmale von "Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung" in der Form einer Kombination von (dominierendem) Großgruppengespräch und Einzelarbeit. Dass dies sicher nicht die Regel war, zeigt die einleitende Bemerkung, die pädagogischen Anstöße aus der Arbeitsschulbewegung seien "in Gefahr, ihre Energie zu verlieren" und auch das defensive Resümmee, "daß der Arbeitsunterricht nicht daran denkt, eine neue Methode zu sein und Altbewährtes etwa ersetzen möchte, sondern nur eine neue Gesamteinstellung, die bewährte Methoden in freierer Form zur Wirkung kommen lassen will".13 Immerhin ähnelt die hier vorgestellte Kombination unterschiedlicher Arbeitsformen dem bereits von Hartke entschieden bekämpften "individualistischen" Arbeitsunterricht.14
Was Hans Richert und das preußische Bildungsministerium vor mehr als 70 Jahren in die Rahmenrichtlinien schrieben, ist heute wieder ein großes Thema der Bildungsdiskussion: "Der Schlüssel zum besseren Unterricht liegt in der Methode" z. B. lautet die Überschrift eines grundsätzlichen Artikels zur Lehrerbildung im Berliner ,Tagesspiegel'. Für den Autor, lange Jahre als Seminarleiter für die schulpraktische Phase der Lehrerausbildung verantwortlich, ist die Alltagssituation der Schule auf allen Schulstufen durch "Stoffmengen, Methodenmonotonie und zu geringe Übungsintensität" gekennzeichnet: "Lernen erfolgt im Alltag gleichsam zu alltäglich, zu gleichförmig, eben nicht intelligent genug".15
Die methodischen Hilfsangebote sind vielfältig, die Begriffe fast schon zum Überdruss strapaziert: Projektmethode, Offener Unterricht, Handlungsorientierung, Freiarbeit, Lernen durch Lehren. Für die Bedeutungsvielfalt und die Begriffsüberschneidungen, die sich dahinter verbergen, soll exemplarisch ein Blick auf die "Handlungsorientierung" geworfen werden. Einflussreich ist hier die Position von Hilbert Meyer, dessen "Leitfaden zur Unterrichtsvorbereitung" und "Unterrichtsmethoden" zu den Standardwerken der Lehrerausbildung zählen: "Handlungsorientierter Unterricht ist ein ganzheitlicher und schüleraktiver Unterricht, in dem zwischen dem Lehrer und den Schülern vereinbarte Handlungsprodukte die Organisation des Unterrichtsprozesses leiten, so daß Kopf- und Handarbeit der Schüler in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gebracht werden können."16 Herbert Gudjons schwächt demgegenüber den "handgreiflichen", materiellen Aspekt ab, für ihn sind die materiellen Produkte nur der Ausgangspunkt der im handlungsorientierten Unterricht angestrebten Ziele: "Denken, Verstehen, Lernen".17 Gleichwohl bleiben die Ansprüche an die Unterrichtenden sehr hoch: "die Reinform handlungsorientierten Unterrichts ist das Lernen in Projekten".18 Solche großangelegten Projekte sind sicherlich auch im altsprachlichen Unterricht möglich, bis hin zur Simulation der Gründung einer römischen Stadt.19 Derartige "Handgreiflichkeit" bleibt jedoch die Ausnahme. Im altsprachlichen Schulalltag ist die Unterrichtssituation selbst das naheliegende Handlungsfeld: Der Akzent verschiebt sich vom außerschulischen "Lebensbezug" zu den durch das Fach vorgegebenen Zielen: Handlungsorientiert ist jetzt z. B. das Erstellen von Übungen von Schülern für Schüler20 oder das Übersetzen als "kooperatives Handeln", hier wieder mit deutlichem Rekurs auf Kerschensteiner.21 Im letztgenannten Fall bleibt die Frage der Organisation dieser "kooperativen" Arbeit allerdings wieder offen. In seinem Bezug auf die schulische Lernsituation selbst als Handlungsfeld ist auch gerade das von Jean-Pol Martin entwickelte und von Renate Gegner im Lateinunterricht eingeführte Konzept "Lernen durch Lehren" grundlegend handlungsorientiert.22
Auch im Unterricht moderner Fremdsprachen kann übrigens der Begriff "handlungsorientiert" gerade so gebraucht werden: Echte Schülerdialoge aus der Handlungssituation des Unterrichts heraus statt künstlich simulierter Gesprächssituationen.23 In allen diesen "reduzierten" Beispielen von Handlungsorientierung ist die Orientierung auf ein Handlungsprodukt und die selbständige Planung und Durchführung des Arbeitsprozesses ein verbindendes Merkmal. Mir scheint diese Reduzierung legitim, weil realitätsbezogen, entsprechend der Transformation des Begriffs der Arbeitsschule von der ökonomisch orientierten Produktionsschule zu Gaudigs "Schule der Selbsttätigkeit" zu Beginn des Jahrhunderts. Ein Streit um den Begriff lohnt sich nicht, es ist kein aus einer einheitlichen Theorie geborener Terminus, sondern eher ein Generalnenner für unterschiedliche Praxisformen des Unterrichts mit mehr oder weniger großen Überschneidungen.24
Die bewusste Integration unterschiedlicher methodischer Ansätze, wie sie z. B. Jean-Pol Martin für "Lernen durch Lehren" vorgenommen hat, erscheint mir von den Bedürfnissen des Unterrichts her eher als eine wünschenswerte Perspektive denn als verwerflicher Eklektizismus.25
In diesem Sinne möchte ich noch einmal auf die anfangs zitierte Kritik am Motivationsverlust im altsprachlichen Unterricht zurückkommen. "Freiheit, Zeit und Geduld" fordert Lechle als Alternative zur "Bevormundung".26 Seine konkreten methodischen Vorstellungen sehen freilich anders aus, als die, die mir selbst naheliegen würden: Er plädiert für einen Großgruppenunterricht unter größtmöglicher Zurückhaltung des Lehrers, manches erinnert an den "mündlichen" Arbeitsunterricht der 20er Jahre.27 Mir scheinen angesichts der gewandelten Schülerschaft des Gymnasiums Formen der Binnendifferenzierung und der Kleingruppenarbeit demgegenüber dringend geboten, so eindrucksvoll die Bemerkungen Lechles zur Zurückhaltung in der Lehrerrolle auch sein mögen. Gerade der Großgruppenunterricht mit der auf dassselbe Lern- und Arbeitstempo festgelegten Klasse muss sich immer wieder fragen lassen, ob er den individuellen Lernmöglichkeiten der einzelnen Schüler gerecht wird. Für verheerend würde ich es halten, wenn der Gesprächsunterricht mit der nicht differerenzierten Gesamtklasse nun wieder zur typischen Arbeitsform des altsprachlichen Unterrichts oder gar zur "gymnasialen" Methode schlechthin hochstilisiert werden sollte. Das Gymnasium krankt ja gerade an der Unflexibilität seiner Methodik und wird damit weder seiner differenzierten Schülerschaft noch den Anforderungen einer auf Selbständigkeit und Kooperation zielenden Didaktik gerecht: Die Anbahnung von methodischer Kompetenz und formalen Arbeitsqualifikationen in der Schule braucht ein breites Repertoire der Formen unterrichtlichen Lehrens und Lernens. Auch abgesehen von jeder Debatte um eine veränderte Schülerschaft haben vom Großgruppenunterricht abweichende Arbeitsformen vor allem eine didaktische Legitimität: Unterrichts-, Ausbildungs- und Arbeitssituationen auch jenseits der Schule verlangen die Einübung in vielfältige Lern- und Arbeitsformen. Es geht hier um eine allgemeine, fächerübergreifende Zielgerichtetheit schulischen Handelns, der auch der Lateinunterricht unterliegt. Die Situation der mit demselben Arbeitsziel konfrontierten "Großgruppe" wird nur eine von vielen möglichen Organisationsformen sein, viele Arbeitstechniken sind in dieser Weise kaum sinnvoll zu erwerben oder zu üben, Einzel- oder Partnerarbeit oder gerade das kleine Team sind dafür der geeignete Rahmen. Gerade auch das Einüben eines so komplexen Vorgangs wie des Übersetzens braucht solche Phasen der "Freiheit" zur relativ unbeeinträchtigten, doch um nichts weniger methodisch angeleiteten Problemlösung.
Es ist erfreulich, dass unter den für den altsprachlichen Unterricht Engagierten die Methodendiskussion in letzter Zeit einen größeren Stellenwert bekommen hat. Beiträge wie die von Lechle und Gegner im letzen "Forum Classicum" sind dafür ein positives Beispiel: Wichtiger als ein Streit um die "exklusive", unverwechselbare Methode für den altsprachlichen Unterricht erscheint mir der Austausch über eigene methodische Versuche, auch gerade über die Schwierigkeiten, attraktive Konzepte unter den eigenen Unterrichtsbedingungen umzusetzen: Häufig haben ja die in den fachdidaktischen Publikationen beschriebenen "Versuchssituationen" besonders günstige Voraussetzungen, z. B. Teamteaching oder niedrige Klassenfrequenzen ("Die Schüler und Schülerinnen einer Klasse verteilen sich in drei Fünfergruppen... im Raum"28), die für viele Unterrichtende ein Wunschtraum bleiben werden.
Der Alltag wird meist bescheidener aussehen, Schulversuche und Projekttage sind selten und nicht jedes "Produkt" muss gleich ein Wettbewerbsbeitrag sein. Kooperative Arbeitsformen sind anspruchsvoll und anstrengend, sie zum Erfolg zu bringen erfordert Geduld und Realismus.
Immerhin wird man hoffentlich durch einen Gewinn an Motivation belohnt: "Sie können ja nichts dafür, dass Latein so ein langweiliges Fach ist", diese freundlich gemeinte Schüleräußerung gegenüber einer jungen Kollegin sollte vermeidbar sein: Nicht durch eine Steigerung des Unterhaltungswertes des altsprachlichen Unterrichts, sondern durch eine stärkere Nutzung der Aktivität der Lernenden, die Sprache und Inhalte zu ihrer eigenen Sache machen, die zwar mit Anstrengung, aber auch mit Freude zu bewältigen ist.
1) Hartwig Lechle: Lehrerverhalten und Schülermotivation im Lateinunterricht, Anregung 43 (1997), S.16
2) Hans Richert (Hrsg.): Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens, 1. Teil: Grundsätzliches und Methodisches, 1925, S.7
3) Einen Überblick über die vielfältigen Richtungen der Arbeitsschule bietet z. B. Wolfgang Scheibe: Die Reformpädagogische Bewegung, 7. Aufl. 1980, S.171ff.
4) Hugo Gaudig: Der Begriff der Arbeitsschule (1911), in: Hugo Gaudig: Die Schule der Selbsttätigkeit, hrsg. v. Lotte Müller, 1963, S.13f.
5) Ebd., S. 14ff.
6) Ebd., S. 8
7) Fritz Karsen: Sinn und Gestalt der Arbeitsschule, in: Adolf Grimme (Hrsg.): Wesen und Wege der Schulreform, 1930; S. 114f.
8) Wilhelm Hartke: Arbeitsunterricht in den beiden alten Sprachen Latein und Griechisch, 1925, S. 5
9) Georg Kerschensteiner: Der Begriff der Arbeitsschule, zitiert bei Max Krüger, Methodik des altsprachlichen Unterrichts, Frankfurt a. M. 1930, S.92; vgl. auch R. Nickel: Wesen und Wert des altsprachlichen Unterrichts in der Pädagogik Georg Kerschensteiners, AU 4/1984, S.39ff.
10) Krüger, a. a. O, S.94
11) Krüger, ebd., S. 9; Hartke, a. a. O, S. 8
12) Paul Sauer: Zum Arbeitsprinzip im Lateinunterricht. Eine Lateinstunde in Quinta in freier (arbeitsunterrichtlicher) Gestaltung, Die Erziehung, 8. Jg., 1933, S. 395f.
13) Ebd., S. 397
14) Hartke, a. a. O., S. 5f.
15) Joachim Schiller: Der Schlüssel zum besseren Unterricht liegt in der Methode, Der Tagesspiegel Nr.15943 v. 6.4.1997, S. 29
16) Hilbert Meyer: Unterrichtsmethoden, Bd. 1, 1987, S. 214
17) Herbert Gudjons: Handlungsorientierter Unterricht. Begriffskürzel mit Theoriedefizit?, Pädagogik 1/1997, S. 8
18) Ebd., S.9
19) Vgl. Dorothee v. Wulffen: Der zweite Blick. Handlungsorientierte Zugänge zur Antike und zum Lateinunterricht, Pädagogik 1/1997, S.16ff.
20) Vgl. Horst Dieter Meurer, Rekkehart Riebeling, Wolfgang Selbert: Handlungsorientiertes Üben, AU 2/1997, S. 48f.
21) Vgl. Rainer Nickel: Durch Handeln aus der Krise, AU 3+4/1997, S. 9f.
22) Vgl. z. B. Renate Gegner: Lernen durch Lehren. Ein Weg zu handlungsorientiertem Lateinunterricht, AU 3+4/1997, S.15ff.
23) Vgl. z. B. Armin Volkmar Wernsing: Kreatives Üben. Plädoyer für einen handlungsorientierten Französischunterricht (I), Fremdsprachenunterricht, 37.Jg. (1993), S. 273ff.
24) Vgl. Gudjons, a. a. O. S. 7
25) Jean-Pol Martin: Zur Geschichte von "Lernen durch Lehren", in: Roland Graef/WoIf-Dieter Preller (Hrsg.): Lernen durch Lehren, 1994
26) Lechle, a. a. O., S.16
27) Vgl. auch: Hartwig Lechle: Großgruppenunterricht - Die Alternative für den Lateinunterricht, Forum Classicum 3/97, S. 133ff.
28) Meurer/Riebelirg/Selbert, a. a. O., 49
Hartmut Schulz, Berlin
Kurt Selle : Latein I in der Defensive?
In seiner Berliner Grundsatzrede zur Bildungsreform vom 5. November 1997 behandelt unser Bundespräsident auch die Bedeutung fremdsprachlicher Kompetenz für die heutige Zeit: "Ich wünsche mir - drittens - ein Bildungswesen, das international ist. Dafür reicht die Einführung neuer, international anerkannter Hochschulabschlüsse, so wichtig sie ist, nicht aus. Alle unsere Bildungsstätten sind gefordert, sich noch mehr der Welt zu öffnen, kosmopolitischer zu werden. Wir müssen schon früh die wichtigsten Sprachen der Welt lehren; warum beginnen wir nicht mit dem Englischunterricht in der Grundschule? Sprachen lernt man am effektivsten in ganz jungen Jahren. Warum bauen wir nicht den bilingualen Unterricht an unseren Schulen konsequent aus?"
Es hätte dieser Worte nicht bedurft, um einen Impuls für die Förderung moderner Fremdsprachen zu geben. Schon länger verstärken der Aufstieg des Englischen zur Lingua franca in unserer Welt, die Globalisierung ökonomischen Handelns sowie das Zusammenwachsen der europäischen Völker zu einer wirtschaftlichen und politischen Einheit die Bestrebungen, in den Schulen den Unterricht in den modernen Fremdsprachen zu erweitern und zu intensivieren. Das schlägt sich u. a. in den inzwischen nicht mehr ganz neuen Bildungsangeboten nieder, die Prof. Roman Herzog anführt.
So nimmt die Zahl der Grundschulen, an denen im 3. Schuljahr mit Frühenglisch begonnen wird, allenthalben zu. In Niedersachsen gibt es heute bereits 300 Grundschulklassen mit Frühenglisch. Diese Möglichkeit stößt bei den bildungsinteressierten Eltern, deren Zahl anwächst, auf lebhafte Zustimmung. Es fällt ihnen leicht, besonders ihre sprachbegabten Kinder zur Teilnahme an diesem Unterricht zu motivieren.
Bei der Entscheidung für die erste Pflichtfremdsprache in Kl. 5 wird dann häufig Englisch gewählt, weil verständlicherweise der Wunsch aufkommt, das bisher Gelernte nicht wieder in Vergessenheit geraten zu lassen. In Orten, in denen auch Latein als 1. Pflichtfremdsprache angeboten wird, gerät diese Sprache dann leicht ins Hintertreffen, wenn die Interessen der Eltern nicht berücksichtigt werden. Es empfiehlt sich daher dringend, Englisch für L I-Schüler/innen als Arbeitsgemeinschaft im 5. und 6. Jahrgang fortsetzen zu lassen. Die Stundentafeln der Orientierungsstufen in Niedersachsen bieten dazu beispielsweise eine Gelegenheit: Sie sehen bis zu 3 Wochenstunden für eine AG und für wahlfreien Unterricht vor.
Die Lernkapazität der Schüler/innen, die sich für Latein ab Kl. 5 entscheiden, wird sicherlich eine solche Aufstockung des Sprachunterrichts bewältigen können. Auf diese Weise verlieren die Argumente, die wir für L I ins Feld führen können, nicht ihre Bedeutung.
Eine weitere Konkurrenz für L I stellt aber auch der bilinguale Unterricht dar, der vermehrt ab Kl. 7 eingerichtet wird. l0% der niedersächsischen Gymnasien verfügen über bilinguale Klassen. Ihre Zahl steigt langsam, aber kontinuierlich. Der Zuspruch an der einzelnen Schule zu diesem Angebot vertiefenden Sprachunterrichts ist so groß, dass die vorhandenen Stunden der dafür qualifizierten Lehrkräfte in der Regel nicht ausreicht, um alle interessierten Schüler/innen in den entsprechenden Klassen aufzunehmen.
Es gibt in Niedersachsen z. B. verschiedene Modelle für diesen Unterricht. In Wolfenbüttel - zwei von drei Gymnasien haben bilinguale Klassen - wird in Kl. 7 in Sport und Erdkunde, ab Kl. 8 in Geschichte der Unterricht in bilingualen Klassen in englischer Sprache erteilt. Damit die Ziele der Rahmenrichtlinien in diesen Fächern dabei ebenso erreicht werden wie in den parallel dazu muttersprachlich erteilten Fächern und ein Aussteigen aus der bilingualen Klasse möglich ist, wird die Zahl der Wochenstunden in Erdkunde und Geschichte um eine erhöht. Dieser Unterricht kann bei genügender Schüler- und Lehrerzahl bis ins Kurssystem fortgeführt werden. Auch Abiturprüfungen in Geschichte können u. U. in englischer Sprache abgelegt werden.
Aufgenommen in bilingualen Klassen werden nur solche Schüler/innen, die von der Orientierungsstufe in Englisch und in Welt- und Umweltkunde gute Leistungen mitbringen. Es ist leicht zu verstehen, dass die gleiche Schülerschaft auch für L1 gewonnen werden soll. Da die Eltern aber wissen, dass in Kl. 7 für den erstrebten Zugang zu bilingualen Klassen Englisch Voraussetzung ist, wenden sie sich vielfach von L1 ab. Es kommt hinzu, dass an manchen Orientierungsstufen z. T. im wahlfreien Unterricht in Englisch im Hinblick auf die bilinguale Perspektive besonders vorbereitet wird.
Mir erscheint es aus diesem Grunde sehr ratsam, auch an altsprachlichen Gymnasien und an Gymnasien, die neben dem Regelzweig Klassen mit L I führen, bilinguale Angebote einzurichten. Dies könnte in der Praxis so geschehen, dass ab dem 9. Jahrgang entweder die ganze Klasse am bilingualen Sachunterricht teilnimmt oder, wenn nicht alle teilnehmen wollen, in einer Arbeitsgemeinschaft das im Sachfach vermittelte Pensum noch einmal in englischer Sprache behandelt wird.
Aus der Entwicklung der Schülerzahlen an meiner früheren Schule in den letzten Jahren habe ich die Erkenntnis gewonnen, dass überall dort, wo die alten Sprachen mit den neuen Bildungsangeboten der modernen Fremdsprachen in einen Wettbewerb treten, das Festhalten am Prinzip des Entweder-Oder sich ungünstig für Latein und Griechisch auswirkt, dass aber das Akzeptieren neuer Möglichkeiten und die Erweiterung und Intensivierung der Lehrgänge in Ergänzung der alten Sprachen die Sicherung von Latein und Griechisch erleichtert. Denn ähnliche Erfahrungen mit Elternentscheidungen wie beim frühen Beginn mit einer Fremdsprache und beim bilingualen Unterricht kann man auch im Griechischen ab Kl. 9 machen. Hier stößt man bei dem Bemühen, Schüler/innen für dies Fach zu gewinnen, oft auf Schwierigkeiten, wenn ihnen nicht ab Kl. l0 (als AG) oder 11 (wahlfreier Unterricht) der Zugang zu Französisch IV eröffnet wird, damit sie wenigstens basale, später ausbaufähige Kenntnisse in dieser Amtssprache der Europäischen Gemeinschaft erwerben können.
Aus eigener Kenntnis habe ich für Frühenglisch und für den bilingualen Unterricht Niedersachsen als Beispiel gewählt. Für die Bundesländer Baden-Württemberg, Saarland und teilweise für Nordrhein-Westfalen könnte man Englisch durch Französisch ersetzen.
Der Einwand, die dargestellten Anregungen liefen auf eine Überforderung der Schüler/innen hinaus, dürfte zunehmend an Gewicht verlieren. Das öffentliche Bewusstsein, auch das der Bildungspolitiker, wächst inzwischen, dass die Schule als Freizeitpark ihre Funktion nicht erfüllt, sondern dass Bildung mit Fachwissen zusammen
hängt, das nur durch Anstrengung zu erwerben ist. Die Ergebnisse der TIMMS-Studie haben zu einer heilsamen Ernüchterung aus den Träumen von einer fachleistungsfreien Schule beigetragen. Prof. Roman Herzog plädiert in seiner eingangs zitierten Rede auch für die Verbreiterung der Palette der Schulpflichtfächer. Auf dem Niedersächsischen Philologentag am 18. November 1997 in Braunschweig sprachen sich unsere Bundestagspräsidentin und der Präsident der KMK, Prof. Wernstedt, die beide ganz unterschiedlichen bildungspolitischen Richtungen zuzuordnen sind, für generell drei verbindliche Sprachen am Gymnasium aus. Der DAV sollte sich eine derartige Forderung zu eigen machen, damit so eine vierte Fremdsprache als Wahlsprache angeboten werden kann.Wenn allerdings gleichzeitig die Schulzeit verkürzt werden soll, ist die Erhöhung der Zahl der Pflichtstunden pro Woche unumgänglich. Der Schlüssel zur effizienteren Schullaufbahn ist ohnehin weniger in der Verlängerung der Ausbildungszeit als vielmehr in ihrer Intensivierung zu finden. Wenn die Ressourcen Deutschlands ganz überwiegend in der Qualität von Bildung und Ausbildung liegen, stellt sich die Frage, ob das für uns lebenswichtige "Humankapital" mit nur 30 Wochenstunden Unterricht ausreichend "vermehrt" werden kann.
Kurt Selle, Braunschweig