Renate Gegner: Lernen durch Lehren (LdL) |
Hartwig Lechle: Großgruppenunterricht - die Alternative für den Lateinunterricht! |
Friedrich Maier: Griechisch - ein europäisches Bildungsgut |
Heinz Munding: Suche nach kultureller Identität |
Helmut Quack: Zum Melanchthon- Jahr 1997 |
Franz Strunz: Epikureische Lebensberatung |
Zimmermann, Herbert: Aus der Praxis für die Praxis. "Fächerübergreifender Unterricht " |
SchülerInnen übernehmen Lehrfunktionen.
Die neue Verantwortung fördert Selbständigkeit und soziales Lernen.
Der theoretische Ansatz
Die Methode Lernen durch Lehren (LdL) ist Anfang der 80er Jahre von Jean-Pol Martin, Fachdidaktiker an der Universität Eichstätt, ursprünglich für das Fach Französisch aus der Unterrichtspraxis heraus entstanden. Zu diesem Zeitpunkt war die Methodendiskussion im Fremdsprachenunterricht vom kommunikativen Ansatz Piephos geprägt. Davon ausgehend entwickelte Martin einen eigenen Ansatz. Er nützte Erkenntnisse der Kognitionspsychologie über Informationsverarbeitung und arbeitete für den Unterricht ein didaktisches Konzept aus. Die SchülerInnen stehen als Lernende im Zentrum des Interesses. Die LehrerInnen haben die Aufgabe, den dynamischen Faktor "Informationsinteresse" zu sichern und die entsprechenden linguistischen und didaktischen Kompetenzen der SchülerInnen schrittweise und systematisch aufzubauen. Wenn SchülerInnen den Auftrag erhalten, die in den Lehrwerken vorhandenen Inhalte mit Hilfe der LehrerInnen zu bearbeiten und ihren MitschülerInnen zu vermitteln, dann wird eine Reaktionskette in Bewegung gesetzt, die dem dynamischen Zyklus des Informationsverarbeitungs-Ansatzes entspricht: Informationsinteresse, Informationsaufnahme, Informationsspeicherung, Reaktivierung der gespeicherten Information, Informationsanwendung. Durch diese Art der Stoffvermittlung übernehmen die SchülerInnen Verantwortung gegenüber den Inhalten und der Gruppe. Individuelle Lernerfahrung und soziale Interaktion werden gefördert (Martin 1986).
Die Umsetzung in die Praxis
Die meisten Erfahrungen mit LdL wurden bisher in den geisteswissenschaftlichen Fächern des Gymnasiums gesammelt. Das didaktische Prinzip lässt sich auch auf verschiedene Unterrichtsfächer aller Schularten übertragen. Beispiele aus der Unterrichtspraxis sind beschrieben in "Lernen durch Lehren" (Graef/Preller 1994), in Seminararbeiten von Referendarinnen und Referendaren, in Fachzeitschriften und in Kontaktbriefen.
Das Kontaktnetz
Es besteht seit 1987 und verbindet über Brief, Fax oder Mailbox interessierte Kolleginnen und Kollegen in ganz Deutschland. Sie informieren sich gegenseitig über Projekte und Probleme und tauschen Erfahrungen sowie Materialien aus. Auf diese Weise entstand ein von allen Teilnehmern/Innen finanziertes (derzeit 45,- DM pro Jahr), sich ständig erweiterndes Kommunikationsnetz. Die Vorteile des Systems beruhen auf Offenheit, Vielseitigkeit und Kontinuität. So wurde aus dem Kontaktnetz eine Fortbildungseinrichtung mit zweimonatigen Kontaktbriefen, regionalen Zusammenkünften und einem jährlichen Bundestreffen.
Adresse:
PD Dr. Jean-Pol Martin, Universität Eichstätt,
Fax Uni: 08421/89 912,
Tel. Uni: 0842/93-1536,
Mailbox: 0841/9611168,
E-Mail: Jean-Pol.Martin@T-online.de
LdL im Lateinunterricht
Schrittweise mache ich die SchülerInnen mit der Methode bekannt. Zuerst überlasse ich ihnen die Vorstellung der Vokabeln, die Leitung von Übungen und die Hausaufgabenbesprechung. Es erhalten immer mehrere Schüler den gleichen Arbeitsauftrag. Relativ rasch stellen sie fest, dass Zweierteams am besten kooperieren. Gemeinsam besprechen wir ihre Tätigkeiten und Funktionen und üben sie konsequent im Unterricht in Gruppen- oder Partnerarbeit ein. Ein zusätzliches "Info" mit fachspezifischen Ratschlägen soll Ausgangspunkt und Denkanstoß für weitere Ideen sein.
Beispiel: "Info" zur Vorstellung der Vokabeln
Lies die Vokabeln genau durch und überlege, welche Wörter Besonderheiten aufweisen oder sich schwer merken lassen.
Schreibe die neuen Wörter auf eine Folie.
Schreibe zu jedem Wort eine Erläuterung, wenn möglich auf lateinisch.
Du kannst natürlich die Vokabeln auch mit Bildern, Zeichnungen oder anderen Materialien vorstellen. Deiner Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Das einzige Ziel ist, dass die Wörter beherrscht werden. Je interessanter der Weg dahin, desto besser!
Frage den Lehrer, wie die Wörter ausgesprochen werden.
Im Anschluss können die neuen Wörter (eventuell mit den Erklärungen) ins Heft oder auf Karteikarten eingetragen werden.
Diese Eingewöhnungsphase erfordert Geduld und Zeit, die alle Beteiligten benötigen, um in ihre neuen Rollen hineinzuwachsen. Erst danach gebe ich weitere Lehrfunktionen an die SchülerInnen ab: Entwerfen von Übungen, Erschließen von Inhalten, Erarbeiten eines Grammatikproblems, Analyse und Übersetzung eines Satzes, Abfassen von eigenen Sätzen oder Geschichten; in der Mittel- und Oberstufe Vorbereitung und Interpretation von größeren Texteinheiten.
Planung und Konzeption einer Unterrichtsstunde in der Lehrbuchphase
Als Beispiel wähle ich eine Unterrichtsstunde aus einer 7. Klasse, die Latein als 2. Fremdsprache in 5 Wochenstunden lernt. Das Lernpensum umfasst Informationen zum römischen Prozesswesen, die Einführung der Zeitstufe des Plusquamperfekts, die Wiederholung bekannter Zeitstufen und die Vorstellung der für die Übersetzung benötigten Vokabeln (Roma C I,32).
Die Klasse bekommt ca. eine Woche vorher einen Organisationsplan, der die für die gesamte Unterrichtssequenz notwendigen Arbeitsaufträge enthält. Die einzelnen Schülergruppen tragen sich für die von ihnen gewünschte Aufgabe ein. Diese Übersicht wird - mit Namen und ggf. Datum versehen - im Klassenzimmer ausgehängt.
Beispiel: Ausschnitt für diese Unterrichtsstunde aus dem Organisationsplan zu den Lektionen 31 und 32, Roma C I
Roma C I 32
Gruppen Namen Datum
Nr.: Aufgaben
1. Abfrage: S. 71 f) Nr. 2 Stefanie/ Katharina 28.3
2 "Alte Vokabeln" von 32L Uli/Bernd 28.3
3. neue Vokabeln 32 W(ortschatz) Tanja Silvia/ 28.3
4. Grammatikgruppe: Nicole/ 28.3 bekannte Zeiten in 32L Christian
5. Grammatikgruppe: Roland/ 28.3
Plusquamperfekt David
6. Sachwissen: Daniela/ 28.3
Römischer Prozess Sonja
Dieser Planausschnitt zeigt, welche Arbeitsgänge von den SchülerInnen bei der Durchnahme einer Lektion selbständig in häuslicher Vorbereitung geleistet worden sind.
Ablauf einer Unterrichtsstunde
Zu Beginn des Unterrichts übergab ich Raymar, der sich für die Leitung der Stunde freiwillig gemeldet hatte, eine Karte mit allen erforderlichen Anweisungen für den Ablauf der Stunde. Die freiwillige Übernahme einer Führungstätigkeit bestärkt die Eigenverantwortung und das Selbstbewusstsein des/der jeweiligen Leiters/Leiterin.
Karte für den Leiter / die Leiterin der Stunde
Datum 28.3
Leitung der Stunde: Name Raymar
1. Abfrage: S. 71f) Name Stefanie/ Katharina
Nr. 2: Wörter des Rechtswesens
2. Präsentation der Name Silvia/Tanja
Vokabeln: 32 W
3. Präsentation des Sachwissens: Name Daniela/ Sonja
Römischer Prozess
4. Texterarbeitung: Koordinator(in)- Saskia L32, 1-4
5. Präsentation der Name Roland/ David
Grammatik: Ind. und Konj. Plusquamperfekt
6. Spiel: "Formentelefon" Leitung Roland/ David
7. Hausaufgabe:
- 32 W lernen
- 32 c) und d) Grammatik lernen
- S. 72 a) Formenübung
Danke
Die Unterrichtsschritte
ad 1.: Die Abfrage hat Überleitungsfunktion und dient zur Wiederholung des "Rechtswortschatzes". Die beiden Schülerinnen, Stefanie und Katharina, wählten als Form der Abfrage den "heißen Stuhl": Der "Kandidat" wird inmitten der Klasse sitzend von seinen Mitschülern ausgefragt. Rasch und ohne zu zögern muss er Vokabeln und Wendungen übersetzen. Die beiden Leiterinnen kontrollierten die Antworten und achteten auf die Vollständigkeit der Abfrage.
Das setzt voraus, dass sie sich vorher gründlich mit dem Stoff auseinanderzusetzen hatten, um ihr Ziel zu erreichen. Nach mehrfacher Übung wird bei den SchülerInnen die Fähigkeit, begrenzte Aufgaben selbständig zu erledigen, gefördert.
ad 2.: Silvia und Tanja stellten die neuen Vokabeln auf Folie vor. Sie deuteten auf die entsprechende Zeichnung, ließen die MitschülerInnen die passenden deutschen Bedeutungen ermitteln und deckten erst dann die lateinische Entsprechung auf. Um zu testen, ob ihre Erklärungen verstanden wurden, wiederholten sie die neuen Wörter anhand ihrer Abbildung.
Die Folienbilder für die Stunde zeigen die sachbezogenen Vorüberlegungen der beiden. Durch die Präsentation im Unterricht lernten sie den Umgang mit den Medien und deren Wirkung kennen. In der Regel finden SchülerInnen einen unmittelbareren Zugang zu ihren Klassenkameraden, die sie zeichnerisch oder sprachlich je nach Fähigkeit überzeugen. So schafft Selbsttätigkeit neue Anreize und fördert verborgene Talente.
ad 3.: Die Information über das römische Prozessverfahren stimmt die Klasse auf den Inhalt der Lektion ein. Neben der Information im Buch (Roma C I, S. 71 + 73) über Gerichtsverhandlungen und Recht und Gesetze in Rom stellte ich in diesem Fall Daniela und Sonja Unterlagen zum Ablauf eines römischen Prozesses zur Verfügung. Für die schriftliche Absicherung verfassten sie einen Lückentext. So werden die SchülerInnen durch kurze Zusammenfassungen an die freie Rede gewöhnt und lernen es, das Wesentliche eines Textes zu erfassen.
ad 4.: Das Übersetzen ist "der Teil des Lateinunterrichts, der den Schülern die meisten Schwierigkeiten bereitet" (Glücklich 1978) und, wie die Praxis zeigt, der Teil, bei dem viele sofort abschalten, sobald der Lehrer/die Lehrerin eine/n aus ihrer Mitte aufruft (Gegner, AU 1994). Eine Lösung dieses Problems ist nur möglich, wenn die Klasse erkennt, dass die Arbeit an der Übersetzung ein Gemeinschaftswerk ist. Welche Arbeitsgänge können von den SchülerInnen bereits im 1. Lernjahr selbständig geleistet werden?
Raymar als Leiter der Stunde bittet Saskia, die Koordination während des Übersetzungsvorganges zu übernehmen. Ihre Aufgabe besteht darin, die SchülerInnen aufzurufen und - wenn nötig - die verschiedenen Gruppen, die Teile der Lektion vorbereitet haben (siehe Organisationsplan), mit einzubeziehen. Am Beispiel 1. Satz von 32 L (Spei plenus ad forum properaveram) stelle ich das Verfahren vor:
Saskia rief Alexander auf. Der neue Ausdruck "spei plenus" bereitete ihm Schwierigkeiten. Silvia und Tanja, die die neuen Vokabeln präsentierten, wurden von Saskia gebeten, ihm zu helfen. Roland und David stellten fest, dass im ersten Satz die Plusquamperfektform "properaveram" neu auftaucht. Sie hatten die neue Zeitstufe auf Folie vorbereitet und erklärten mit Hilfe der Zeitachse (Vorschlag der Lehrerin) ihre Funktion:
ad forum properaveram Prozess Gegenwart
Das Plusquamperfekt bezeichnet eine Handlung, die in der Vergangenheit bereits abgeschlossen war, als eine andere eintrat.
Aufgrund der inhaltlichen, sprachlichen und grammatikalischen Aufbereitung konnte Alexander den Satz übersetzen. Nicole und Christina, die für die bereits bekannten Tempora zuständig waren, mussten im nächsten Satz auf "cum" mit Konjunktiv Imperfekt hinweisen.
Die jeweils Übersetzenden wissen, dass sie bei Problemen die Hilfe der MitschülerInnen erwarten können. Hinzu kommt, dass man einen Klassenkameraden schneller und selbstverständlicher um Rat bittet als den Lehrer/die Lehrerin. Diese(r) ist letzte Instanz und greift nur ein, wenn keiner eine Lösung für das Übersetzungsproblem findet. Seine/ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Zusammenarbeit aller Beteiligten arbeitsteilig zu organisieren und mit ihnen die Spielregeln der Kooperation und Kommunikation einzuüben. Meine Erfahrung zeigt, dass dieses Vorgehen den Übersetzungsvorgang verkürzt, anregender und motivierender macht.
ad 5.: Nach der Übersetzungsarbeit ließen Roland und David die neuen Formen des Plusquamperfekts durch die MitschülerInnen systematisieren. Anhand der im Text vorkommenden Plusquamperfektformen "properaveram, timueram, peroravisset" gelingt es ihnen problemlos, die Bildungsweise zu erkennen.
Für die Vorstellung eines Tempus stelle ich ihnen folgendes Grundraster zur Verfügung:
Singular Plural
1. Person
2. Person
3. Person
Schülerarbeit von David und Roland nach vorgegebenem Raster:
Indikativ Plusquamperfekt
Singular Plural
laudav-eram laudav-eramus
1. Person monu-eram monu-eramus
fu-eram fu-eramus
laudav-eras laudav-eratis
2. Person monu-eras monu-eratis
fu-eras fu-eratis
laudav-erat laudav-erant
3. Person monu-erat monu-erant
fu-erat fu-erant
laudaveram: ich hatte gelobt usw.
Konjunktiv Plusquamperfekt
Singular Plural
laudav-issem laudav-issemus
1. Person monu-issem monu-issemus
fu-issem fu-issemus
laudav-isses laudav-issetis
2. Person monu-isses monu-issetis
fu-isses fu-issetis
laudav-isset laudav-issent
3. Person monu-isset monu-issent
fu-isset fu-issent
laudavissem: ich hätte gelobt usw.
In der Lehrbuchphase präsentieren die Schüler überwiegend Grammatikbereiche, die vorher angesprochen und erklärt wurden (Tempora, Deklinationen, Präpositionen). Die selbständige Erarbeitung eines Grammatikproblems schärft das Wahrnehmungs- und Abstraktionsvermögen, Forderungen, die sicherlich nicht nur der Lehrplan für das bayerische Gymnasium an die SchülerInnen stellt (München 1990, S. 136).
ad 6.: Die Grammatikbesprechung wurde abgeschlossen, indem Roland und David mit Hilfe des "Formentelefons" die neue Zeitstufe einübten.
Beispiel:
1 ich 2 du 3 er 4 wir 5 ihr 6 sie
1 certare 2 habere 3 dare 4 esse 5 parere 6 flere
1 Ind. Plusquamperfekt 2 Konj. Plusquamp.
David schrieb die Telefonnummer 121 an die Tafel. Er rief einen Mitschüler auf, der die richtige Form "habueram" nannte. Dieser wählte dann die nächste Telefonnummer 342 usw. Die richtigen Antworten kontrollierten weiterhin die beiden Leiter der Übung. Bei Fehlern war es ihre Aufgabe, nicht einfach mit "falsch" zu antworten, sondern durch genaue Hinweise wie Person, Numerus, Modus, falscher Perfektstamm ihre MitschülerInnen zur richtigen Lösung zu führen.
Der Lehrer/die Lehrerin darf bei der Fehlerverbesserung die SchülerInnen nicht übergehen und vorschnell eingreifen, sondern muss ihnen erläutern, wie wichtig takt- und sinnvolles Korrigieren ist. Wird es konsequent praktiziert, fördert es die gegenseitige Rücksichtnahme und die Reflexion über die Sprache.
ad 7.: Raymar als Leiter der Stunde schrieb die Hausaufgabe an die Tafel.
Lehrende und Lernende in neuen Rollen
LdL wünscht sich LehrerInnen und SchülerInnen, die bereit sind, sich auf neue Interaktionen innerhalb der Lerngemeinschaft einzulassen. Der Lehrer/die Lehrerin gibt Lernverantwortung für Unterrichtseinheiten ab, die von den SchülerInnen übernommen werden. Dieser Funktionswechsel bedarf der Gewöhnung, Training ist erforderlich. Manchen SchülerInnen fällt es anfangs schwer, die Freiräume des Unterrichtsstils, der von ihnen mehr persönliche Disziplin abverlangt, eigenverantwortlich zu füllen. Sie ziehen sich zurück, schalten ab oder stören durch aktive Unruhe, weil sie den "Schülerlehrer" nicht akzeptieren. In der Regel ändern sie ihr Verhalten, wenn sie selbst Leitungsaufgaben übernommen haben. Die zunehmende Vertrautheit mit der neuen Rolle reduziert störende Verhaltensweisen. Zwischenmenschliche Spannungen sollten, wenn sie auftreten, nicht unterdrückt, sondern offen angesprochen werden.
Für den eigentlichen Ablauf des Unterrichts sind andere Schwerpunkte als bisher bei Vorbereitung und Planung zu setzen. Der Lehrer/die Lehrerin entwickelt und erstellt allgemeine und fachspezifische Arbeitsanweisungen, die die SchülerInnen auf ihre neuen Aufgaben vorbereiten (vgl. auch Graef/Preller 1994, Ruep 1995 und Stroh 1996).
Beispiel:
Beherzigt folgende Ratschläge:
Bereitet Euch gut vor, denn Ihr seid für den Erfolg der Stunde verantwortlich!
Sprecht klar, deutlich und laut!
Geht höflich miteinander um!
Lobt Eure Mitschüler für richtige, gute Beiträge!
Reagiert taktvoll auf Beobachtungen, Antworten, Fehler der Klassenkameraden!
Lest den Sachverhalt genau durch! Beschafft Euch ggf. Informationen und wählt sie sinnvoll aus! Notiert Euch Probleme/Fragen/Ideen!
Überlegt gut, wie Ihr den Sachverhalt der Klasse "beibringen" könnt!
Möglichkeiten: Unterrichtsgespräch
(Frage - Antwort)
Beispiele/Versuche
Entwerfen eines eigenen Textes
Entwerfen eines Schaubildes
Tafelanschrieb mit den wichtigsten Informationen usw.
Bereitet Euch in Eurer Gruppe so gut auf das Thema vor, dass Ihr es den anderen erklären könnt!
Vergesst nicht, die Arbeit innerhalb der Arbeitsgruppe sinnvoll aufzuteilen (Der eine kümmert sich z. B. um Informationen, der andere entwirft ein Schaubild usw.)!
Macht Euch Gedanken über einen Hefteintrag!
Möglichkeiten: einen Text (mit eigenen Worten) zu dem besproche- nen Sachverhalt verfassen
Auflisten wichtiger Gesichtspunkte in Stichworten
Ausfüllen eines Lückentextes
Tafelanschrieb/Folientext abschreiben/mitschreiben
Denkt an eine sinnvolle Hausaufgabe!
Für die stoffliche Aufgliederung einer Unterrichtseinheit entwirft er/sie einen Organisationsplan (siehe oben). Er verbindet Aufgabenverteilung und Terminplanung. Bei seiner Umsetzung steht der Lehrer/die Lehrerin den SchülerInnen beratend und helfend zur Seite, um ihnen methodische und kommunikative Kompetenzen zu vermitteln. Da der Lehrer/die Lehrerin als alleinige(r) WissensvermittlerIn zurücktritt, hat er/sie mehr Zeit, das Verhalten der einzelnen SchülerInnen zu beobachten und durchschaut schneller das soziale Gefüge. Zugleich gibt es ihm/ihr Gelegenheit, ihre Aufnahme- und Leistungsfähigkeit differenzierter wahrzunehmen. Alle Beteiligten lernen sich besser kennen. Das schafft eine Atmosphäre des Vertrauens, die zu einem angenehmen Arbeitsklima führt.
Literatur:
Roma, Ausgabe C, Bd. 1 von Reinhold Ernstberger und Hans Ramersdorfer, Bamberg 1990.
Dörner, D., Kreuzig, H. W., Reither, F., Stäudel, T. (Hrsg.). Lohhausen. Vom Umgang mit Unbestimmtheit und Komplexität. Bern: Huber 1983.
Gegner, R.: Lernen durch Lehren. Ein Weg zu handlungsorientiertem Lateinunterricht. In: Der Altsprachliche Unterricht (AU) XXXVI 3+4/94, S. 14-31.
Glücklich, H.-J.: Lateinunterricht. Didaktik und Methodik, Göttingen 1978.
Graef, R. / Preller, R.-D. (Hrsg.): Lernen durch Lehren, Rimbach, Verlag im Wald 1994. Bezugsadresse: Dr. Jean-Pol Martin, Universität Eichstätt, 85071 Eichstätt.
Martin, J.-P.: Zum Aufbau didaktischer Teilkompetenzen beim Schüler. Tübingen: Narr 1985.
Martin, J.-P.: Für eine Übernahme von Lehrfunktionen durch Schüler. In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts 4/86, S. 395-403.
Martin, J.-P.: Vorschläge eines anthropologisch begründeten Curriculums für den Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Narr 1994.
Piepho, H.-E.: Kommunikative Didaktik des Englischunterrichts. Sekundarstufe I. Limburg 1979.
Auswahl aus den Kontaktbriefen:
Dr. Ruep, M.: LdL - Ratschläge für eine 10. Klasse zur Unterrichtsvorbereitung
Stroh, H.: Grund- und Hauptschule Fichtenberg: Neue Unterrichtsformen an der GHS Fichtenberg: Schüler unterrichten Schüler (1996).
Hartwig Lechle: Großgruppenunterricht - die Alternative für den Lateinunterricht!
Spätestens seit dem Heft 1/1997 des Altsprachlichen Unterrichts sind auch die Lehrer der alten Sprachen aufgefordert, sich intensiver mit der Frage auseinanderzusetzen, inwieweit die neueren Unterrichtsmethoden, die im Grundschulbereich entwickelt worden sind, nun in breiterem Umfang Eingang in den gymnasialen Unterricht auch im Bereich der alten Sprachen finden sollen und müssen. Freiere Formen des Unterrichts hat es in unterschiedlicher Form zwar schon eh und je gegeben. Ist dies aber jetzt vielleicht endlich der Weg, auch den Lateinunterricht aus seiner Dauerkrise herauszuführen?
Nimmt man das zum Maßstab, was unsere Fachvertreter insbesondere auf den oft ungeliebten Werbe- oder Informationsveranstaltungen vor der Wahl der 2. Fremdsprache für das Lateinische ins Feld führen, so möchte man durchaus das eine oder andere Fachspezifikum als geeignet ansehen, im Rahmen von Freiarbeit und Wochenplan zur Entfaltung gebracht zu werden.
Dennoch habe ich meine Bedenken, dass die Übernahme auch in den Lateinunterricht für diesen das Allheilmittel darstellt. Im Folgenden möchte ich jedoch die neuen Verfahrensweisen nicht so sehr kritisieren als vielmehr eine andere freiere Unterrichtsform dagegenstellen. Dazu knüpfe ich an die Ausführungen an, die J. Klowski im 3.Heft des MDAV von 1996 gemacht hat1. Klowski hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, mit welcher Strategie der altsprachliche Unterricht auf den heutigen Schülertyp reagieren sollte. Es ist zu wünschen, daß dieser lesens- und bedenkenswerte Aufsatz von möglichst vielen Vermittlern der alten Sprachen zur Kenntnis genommen wird, geht es doch um die Frage, inwieweit sich auch der altsprachliche Unterricht auf den Schülertyp unserer Tage neu einstellen muss.
Klowski sieht die Lösung in der Großgruppenarbeit. Das heißt, es soll wie bisher mit der ganzen Klasse gearbeitet werden, die Klasse soll sich aber durch die Arbeit und bei der Arbeit in eine Großgruppe verwandeln bzw. sich am Ende dazu verwandelt haben. Da Klowski in seinen Ausführungen den Frontalunterricht nicht prinzipiell ablehnt, möchte der eine oder andere dies gleich so verstehen, als dass hier an den traditionellen, lehrerdominierten Lateinunterricht alter Prägung gedacht ist. Dies wäre ein fatales Missverständnis, ist doch gerade an ein Unterrichtsverfahren gedacht, das zwar die tradierte Form des Klassenunterrichts favorisiert, dort aber all die pädagogischen Grundprinzipien zur Geltung bringt, die für einen modernen Unterricht unabdingbar sind, wie Kooperation, Autonomie, Offenheit und kritische Diskussion. Es handelt sich also um einen in jeder Hinsicht schülerorientierten Unterricht.
Ich möchte die These, die Klowski noch mit gewissen Vorbehalten vorbringt, zu der eine Zeit zwingt, die alte Formen nur allzu schnell als unrettbar überholt bewerten möchte, durch einige weitere Überlegungen unterstützen und möchte deutlich machen, wie sich der Unterricht in der Großgruppe in der alltäglichen Praxis vollziehen kann. Ich beziehe mich dabei insbesondere auf die Erfahrungen, die ich seit anderthalb Jahren im eigenen Unterricht gemacht und in der Anregung 1/19972 ausführlicher dargelegt habe.
Der Erfolg eines Unterrichts misst sich u.a. daran, ob es gelingt, die Begegnung der Schüler mit dem Lerngegenstand zustandekommen zu lassen. Diesem Ziel scheint auch die Freiarbeit in hohem Maße nahezukommen, da hier gewährleistet scheint, was als Grundvoraussetzung für Offenheit der Schüler gegenüber dem Unterrichtsstoff zu gelten hat, nämlich entspannte und autonome Auseinandersetzung damit. Und auch die Verifizierung der erbrachten Leistung könnte man als gegeben ansehen, wenn dem Schüler die Möglichkeit eingeräumt wird, die Richtigkeit seiner Lösung z. B. anhand von Lösungsblättern zu überprüfen. Genau hier aber liegt auch der zentrale Mangel dieser Unterrichtsorganisation: Es fehlt ihr in der Regel an der eigentlichen dialektischen Vertiefungsphase, die sich ausschließlich im schülerinternen (seitens des Lehrers allenfalls kanalisierten) Dialog vollziehen kann.
Kaum ein Fach bietet sich so dafür an, argumentativ schlüssig und konkret Probleme auszudiskutieren, wie der Lateinunterricht. Gerade schon in der Phase der Satz- und Texterschließung läßt sich nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit schlüssiger Beweisführung in der disziplinierten Form von Rede und Gegenrede, von These und Gegenthese, wenn man so will auch von Pro und Contra - sofern die Textstelle ambivalente Qualität hat - evident machen. Das dafür notwendige Instrumentarium stellt insbesondere die Formenlehre bereit, deren Wert und Bedeutung m. E. in den letzten Jahren zugunsten der Methodendiskussion z. T. arg unterschätzt worden ist3. Einen hohen Stellenwert hat allerdings auch die Beachtung der Wortfolge.
Damit deutlich wird, wie ein Großgruppenunterricht realisiert werden kann, wiederhole ich noch einmal einige dafür wesentliche Grundgedanken. Ich gehe hier von der Übersetzung eines Satzes aus, betone aber, dass diese Grundsätze für jedes Unterrichtsgeschehen zu gelten haben.
1. Dem Schüler muss ausreichend Zeit für die Lösung seiner Aufgabe gegeben werden. Die ersten "Melder" haben zurückzustehen. Damit wird erreicht, dass sich jeder auf seine Art mit der Aufgabe hat vertraut machen können und zur dann angebotenen Lösung auch Aussagen machen kann. Dieses fordert vom Lehrenden ein hohes Maß an Geduld. Er muss sich selbst in dem Sinne disziplinieren, dass er nicht die vorschnelle Erreichung der selbst gesetzten Ziele zuungunsten der autonomen Lernprozesse in den Vordergrund stellt.
2. Grundsätzlich darf kein Fehler negativ bewertet werden. Wenn er gemacht wird, hat das eine Ursache. Und man sollte nicht so vermessen sein, diese Ursache so eindeutig analysieren zu können, dass man dabei auch dem Schüler gerecht wird. Dieses Verhalten macht die Arbeit für die Schüler auf Dauer angstfrei. Nur wenn die Freiheit eingeräumt wird, auch absurde oder scheinbar absurde Fehler zu machen, besteht überhaupt die Möglichkeit, eine Leistungs- und Fehlerquellendiagnose für die Lerngruppe zu schaffen und Wege für Verbesserungen zu entwickeln.
3. Der Lehrer hat sich seinerseits ganz aus der Beurteilung zurückzuziehen. Die Pflicht der Beurteilung kommt ausschließlich dem Schüler zu.
Zur Verdeutlichung sei ein solcher Unterricht in aller Kürze skizziert:
Nach ausreichender Zeit für alle Schüler, sich mit einem Satz auseinanderzusetzen, wird eine erste Lösung vorgebracht. Danach sagt der Lehrer gar nichts, sondern wartet, oder er bittet die Mitschüler um Anmerkungen. Diese führen häufig zu Verbesserungen, Alternativen o. ä, aber bisweilen auch zu Verschlechterungen. Der Übersetzer hat sich mit diesen Anmerkungen auseinanderzusetzen. Der Lehrer enthält sich auch hier seinerseits jeder Bewertung.
Den Schülern wird dieses Eingehen auf den anderen im Laufe der Zeit so selbstverständlich, dass sie dann auch ohne Aufforderung ausdrücklich auf den Mitschüler eingehen, so dass sich dialektische Positionen und Diskussionen dabei von selbst ergeben. Zu denen nehmen dann wiederum andere von selbst Stellung. Am Ende dieser Phase wird ein anderer Schüler zur Stellungnahme zum erreichten Ergebnis aufgefordert. (Der klaren Unterscheidung zwischen Anmerkung = Ergänzung/Kritik im Detail und Stellungnahme kommt dabei eine hohe Bedeutung zu.) Jetzt muss er Farbe bekennen. Denn sind im erreichten Ergebnis noch Fehler enthalten, gibt er durch eine positive Bewertung zu erkennen, dass ihm diese Fehler entgangen sind und er seinerseits Denkfehler gemacht hat. Und dieser Peinlichkeit möchte er nach allgemeiner Erfahrung entgehen. Insofern wird er allein aus dieser Befürchtung heraus in aller Regel konzentriert und konstruktiv mitarbeiten wollen.
Erreicht wird dies, wie deutlich gemacht werden sollte, dadurch, dass die Verantwortung für das Unterrichtsergebnis ausschließlich auf die Schüler oder die Lerngruppe verlagert wird. Dem Lehrer ist allenfalls am Ende des Lösungsprozesses die Bemerkung erlaubt, dass noch Fehler enthalten sind - man sollte dies möglichst mit Tempus, Modus-, Sinnfehler durch falschen Satzbau usw. qualifizieren. Dies bewirkt für die erneute oder weitere Motivation der Schüler wahre Wunder. Sie wollen nämlich eine richtige Lösung erzielen4.
Welche weitreichende pädagogische Bedeutung dem selbst geschafften Artefakt zukommt, hat gerade die Arbeitsschule zu Recht immer wieder betont5. Wo aber das Ergebnis nur durch die Führung des Lehrers - und sei sie an noch so langer Leine - zustande gekommen ist, kann sich bei Schülern kein rechter Stolz entwickeln6. Aber auch dort, wo man sein eigenes Ergebnis nur mit dem richtigen Lösungsblatt vergleichen kann - wie es z. T. Praxis bei der Freiarbeit ist - und dabei u. U. sein Cannae erlebt, dürften die Lernerfolge höchst zweifelhafter Art sein. Wenn die Aufgabe dann aber doch aus eigener Kraft gelöst wird, entwickeln sich der Stolz und die Befriedigung, die die Grundlage und Voraussetzung für weitere motivierte Mitarbeit bilden.
Gerade auch dann, wenn eine Erstübersetzung richtig war, muss sich der Lehrer der eigenen Wertung enthalten. Die Offenheit der Stellungnahme durch die Mitschüler muss auch jetzt gewahrt bleiben. Und es wird sich in aller Regel ergeben, dass in Anmerkungen der Mitschüler trotz der Richtigkeit der Übersetzung viele Ungereimtheiten ans Tageslicht kommen, dass der Satz also noch längst nicht so durchdrungen ist, wie es für alle erreicht werden muss. Dies beweist sich natürlich auch dann, wenn man von jemandem sofort oder auch nach einem Sinnabschnitt in Bezug auf einen ganzen Absatz eine Zweitübersetzung verlangt. Denn die wird die noch bestehenden Unsicherheiten allemal erweisen. Die Reaktion des Lehrers ist dann häufig ein gequältes Aufstöhnen, weil vom Schüler doch nicht mehr verlangt worden ist, als das ohnehin schon richtig Vorgemachte nun seinerseits noch einmal zu wiederholen. Dass diese pädagogische Theatralik unbegründet ist, sollte jedem einleuchten. Denn wie sollte ein Schüler nachproduzieren können, was er rational noch nicht bewältigt hat7. Wenn dies dann bei einer sofort nach der Erstübersetzung verlangten Nachübersetzung deutlich wird, ist die Folge davon in der Regel ein äußerst ungeduldiges und halbherziges Richtigstellen, entweder durch den Lehrer selbst oder durch die wenigen, die alles verstanden haben, schlechtestenfalls sogar durch den Erstübersetzer, mit dem der Lehrer dadurch gegen seine Mitschüler eine unheilvolle Verbrüderung eingeht. Aber auch wenn man die Probleme im Nachgang wirklich aufarbeitet, geht bei dieser Verfahrensweise mehr Zeit verloren, als wenn man etwaige Irrationalitäten in den Köpfen gleich im Anschluss an die Erstübersetzung durch das Einfordern von Anmerkungen, die in diesem Falle Verschlechterungen sein müssen, und dann einer abschließenden Stellungnahme aufdecken läßt. Auf die Techniken, wie man darüber hinaus das bis in Einzelheiten korrekte richtige Satz- und Textverstehen absichern kann, muss ich hier nicht eingehen. Das Hauptmittel wird sicher immer wieder die Formenidentifizierung sein.
Es werden in der Großgruppe damit nicht nur die Formen der autonomen wie vorwiegend in der Freiarbeit, sondern gleichzeitig die Formen der intellektuellen Kooperation geübt. Und der geistige Wettkampf vollzieht sich am gemeinsamen Gegenstand. Alle Schüler sind gleichzeitig Akteure und kritische Zuschauer des "geistigen Trimmpfades". Und der Unterrichtende hat stets Einblick in die ablaufenden Lern- und Arbeitsprozesse.
Vielleicht ist auch noch ein weiteres Spezifikum der Arbeit in der Großgruppe hervorzuheben: Während in der Freiarbeit zumindest die Gefahr besteht, dass sich die ohnehin unsere Zeit prägende Individualisierung bis hin zur Vereinsamung weiter ausleben kann, findet in der Großgruppe Kommunikation und Diskussion auf hohem Niveau statt. Das Gespräch als Teil der Kultur wird systematisch geübt, und zwar nicht in einer relativen Unverbindlichkeit und außerhalb der Lehrerkontrolle, sondern in dialektischer Weise und disziplinierter Verantwortlichkeit. Dies sind die Tugenden gerade des Lateinunterrichts.
Ziel der Pädagogik sollte die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes sein. Die wiederum kann nur gelingen, wenn sie in einen Raum disziplinierter Freiheit gestellt wird. Aber die selbstdisziplinierende Wirkung des Lateinunterrichts wird bei den Schülern nur dann wirken, wenn der Lehrer es schafft, sich selbst zu disziplinieren und seine Rolle als Lenker der Lernprozesse zurückzunehmen. Daraus aber den Schluss zu ziehen, die Schüler ganz in die Freiheit zu entlassen, würde die erzieherischen Möglichkeiten der disciplina linguae Latinae für wertvolle Zeiteinheiten in fataler Weise außer Kraft setzen. Das Ergebnis wäre nicht die propagierte Autonomisierung des Unterrichts, sondern ihre Atomisierung unter Verlust der dialektischen Disziplinierung. Daher kann der Vorrang der Arbeit in der Großgruppe nicht deutlich genug betont werden, will man dem Lateinischen nicht sein einzigartiges gymnasiales Gepräge nehmen.
Mit diesen Ausführungen soll nicht die freie Form von Unterricht per se ausgeschlossen werden, sondern deutlich gemacht werden, dass die eigentlichen Tugenden des Faches Latein am besten in der Großgruppenarbeit zu realisieren sind.
1) J. Klowski: Überlegungen zu den von den neuen Sozialisationsbedingungen geprägten Schülern und dem Lateinunterricht, MDAV 1996, Heft 3, S. 120f.
2) H. Lechle: Lehrerverhalten und Schülermotivation im Lateinunterricht, Ein Plädoyer für humanes Lehren und Lernen, in Anregung 1997, Heft 1, S.10ff.
3) Nach meinen Erfahrungen hat es sich als außerordentlich effektiv erwiesen, nahezu jede Stunde damit zu beginnen, einen oder mehrere Schüler schriftlich an der Tafel - je nach Stand im Grammatikpensum - etwa deklinieren zu lassen "is portus magnus", "eadem turris alta" oder aber Verbformen in die Verbsystematik einordnen zu lassen oder "spero, speras, sperant" in allen Tempora und Modi bilden zu lassen. Die Mitschüler bearbeiten die Aufgabe entsprechend im Heft. In der Regel werden die ersten Ergebnisse erschreckend sein. Die Schüler sind aber dankbar für derartige Aufgaben und Übungen. Nach einigen Wochen schon wird auch die Übersetzungsarbeit wieder auf solide Grundkenntnisse zurückgreifen können. So banal diese Anmerkungen auch scheinen, sie enthalten einen zentralen Aspekt erfolgreichen Lateinunterrichts.
4) Hier stellen sich dann die Erfolgserlebnisse wahrer Freude ein, deren Bedeutung Klowski zu Recht herausstellt (a.a.0., S.124f.). - Ich habe noch nie erlebt, dass Schüler das ungelöste Problem bzw. den noch enthaltenen Fehler nicht von sich aus wieder angesprochen und am Ende die richtige Lösung vorgelegt haben. Der Ärger, etwas nicht geschafft zu haben, sitzt offenbar tiefer, als wir es manchmal wahrnehmen wollen.
5) siehe auch Klowski, a.a.0., S.125
6) Dass systematisierende lehrergelenkte Phasen hier und da unverzichtbar sind, sollte als selbstverständlich gelten, ohne dass davon aber die Grundsätze dieser Form des Großgruppenunterrichts berührt werden (siehe auch Anregung 1997, S.11, Anm.2).
7) Aus dieser Fehleinschätzung resultiert dann auch in der Regel die Erwartung, dass die Schüler für Klassenarbeiten und Klausuren eigentlich aufs beste vorbereitet sind, und die zwangsläufige Enttäuschung, die sich bei Kenntnisnahme der dann doch katastrophalen Ergebnisse einstellt.
Hartwig Lechle, 21379 Scharnebeck
Friedrich Maier: Griechisch - ein europäisches Bildungsgut
Unseren Kontinent Europa müsste es nicht geben. Der französische Historiker Jacques Le Goff schreibt in seinem Buch "Das alte Europa und die Welt der Moderne" (München 1996, 9): "Die Individualisierung eines Kontinents Europa war kein Zwang der Geographie. Afrika und die beiden Amerika wurden durch den Verlauf ihrer Küsten bestimmt. Europa ist an der Spitze des unermesslichen asiatischen Kontinents, den man deshalb Eurasien nennen muß."
Dass Europa dennoch als Kontinent besteht, ja dass es für zwei Jahrtausende als der bedeutendste Erdteil der bewohnten Welt galt, dass von hier aus sogar auf Asien, Afrika und Amerika Einflüsse ausgingen, die diese auf einen anderen zivilisatorischen Standard brachten oder zu bringen versuchten, dafür zeichnet ein kleines Volk am Anfang unserer Geschichte verantwortlich, die Griechen. Sie haben den Teil, der wie ein Wurmfortsatz am asiatischen Kontinent hängt, nach einer ihrer mythischen Figuren, nämlich der Tochter des Phönikerkönigs, mit "Europa" bezeichnet. Sie haben damit den westlichen Teil Eurasiens als eigenständig bestimmt, womit sie bekunden wollten, dass sich ihr Land, das Land der Hellenen, das sie anfangs mit Europa identisch setzten, erheblich vom übrigen Asien unterschied.
Die Kriterien, die sie dabei anwandten, waren offensichtlich zutreffend; denn sie wurden im Laufe der Zeit, also in den folgenden Epochen der Geschichte, tatsächlich als die Charakteristika Europas bestätigt. Sie setzten sich mit aller Kraft durch; Europa wuchsen durch sie gewissermaßen Führungsqualitäten zu, oder anders ausgedrückt: Europa machte sich selbst zum Maßstab, nach dem es die anderen Kontinente beurteilte oder auch verurteilte. Dieser Europazentrismus hat sich allerdings in unserem Jahrhundert, vor allem in seiner zweiten Hälfte, als unangebracht erwiesen. In einer Welt, die über alle Erdteile hin durch die technischen Möglichkeiten zusammenwächst, im Zuge der Globalisierung, wie man
sagt, ist nicht nur der Austausch zwischen den Kontinenten erforderlich geworden, sondern auch ein gegenseitiges Verstehen und Anerkennen der verschiedenen Kulturen.Der indische Philosoph Ram Adhal Mall fordert deshalb in seinem Buch "Philosophie im Vergleich der Kulturen" den "interkulturellen Dialog", d. h. "im Zeitalter der globalen technologischen Formation" die Fähigkeit und die Bereitschaft, sich über die Identifikation mit der eigenen Kultur hinaus mit den anderen Weltkulturen auseinanderzusetzen, sie in ihrer Eigenart zu verstehen und auch gelten zu lassen. Das sei die notwendige Voraussetzung zu einer erdteilübergreifenden Kommunikation und letztlich zur wechselseitigen Toleranz unter den Menschen. Für Ram Adhal Mall muss jedoch mit dem Bemühen um ein Verständnis der fremden Kulturen das Ziel einhergehen, die früheren Epochen der eigenen Kultur zu verstehen. Ich muss mir erst der Identität der eigenen Kultur bewusst sein, ehe ich mich mit der anderen verstehend auseinandersetzen kann. "Ohne den Blick auf das Eigene kann die Begegnung mit dem Fremden nicht gelingen." So hat es jüngst ein Heidelberger Pädagoge formuliert.
Was macht also, so müssen wir fragen, Europa zu Europa? Was ist das Paradigma Europas, jenes kennzeichnende Element, das diesem Minimalkontinent eine solche Mächtigkeit verlieh, dass er sich seit etwa 500 v. Chr. dauerhaft von seinem weitaus größeren Gegenstück abheben konnte? Der europäische Einigungsprozess, der seit Jahrzehnten im Gange ist, wird heute zutiefst und immer mehr mitbestimmt von der Frage nach der Identität Europas. Laufend äußern sich dazu in Büchern, Vorträgen, Zeitungsartikeln, Fernsehsendungen namhafte Persönlichkeiten. Man ist sich darin einig, dass diese Identität nicht nur eine wirtschaftliche Dimension hat, sondern auch eine politische und vor allem eine kulturelle. Nikolaus Lobkowicz, ehemaliger Präsident der Universität München, stellt in seinem veröffentlichten Vortrag "Die Wurzeln der europäischen Kultur" (München 1987) drei Kräfte fest, die das Werden Europas entscheidend geprägt haben, die Griechen, die Römer und die Christen.
Die Griechen sind, naturgemäß als das Volk am Anfang, nicht nur wegen der Namensgebung, sondern auch, wie bereits angedeutet, weil sie dem Kontinent die identitätsstiftenden Wesensmerkmale zuwiesen und in ihm zur Entfaltung brachten, die ersten Europäer; im Griechischen begegnet erstmals das Wort ï Åñùðá¦ïé . Die Griechen sind die Initiatoren Europas. Dies lässt sich bis in den Begriff und die Sprache hinein nachweisen. Es sind uns dafür herausragende Texte überliefert.
Herodot, der erste griechische Historiker, "der Vater der Geschichtsschreibung", wie man ihn genannt hat, lässt vor Beginn des 2. Perserkrieges (anfangs des 5. Jht. v. Chr.) am Hellespont, also an der Schnittstelle zwischen Asien und Europa, den Perserkönig Xerxes ein Gespräch mit einem in seinem Heer befindlichen Griechen namens Demaratos führen. Während der Heeres- und Flottenparade fragt er seinen Gesprächspartner etwa folgendermaßen: "Wie können die paar Griechen drüben in Europa meiner Armee in Millionenstärke gewachsen sein? Noch dazu sind mir meine Leute - wie von der Peitsche gezwungen - gehorsam, während jene der Freiheit und Willkür ausgeliefert sind und deshalb weder Zucht noch Ordnung kennen?" Darauf Demaratos: "Frei sind die Griechen, mein Herr, gewiss, doch nicht in allem frei, über ihnen steht als Herrscher das Gesetz. Ihre Leistungskraft kommt zustande durch "Freiheit" und durch "Weisheit".
In diesen beiden Begriffen treten uns hier die Werte entgegen, die für Europa konstitutiv werden sollten: die durch das Gesetz gebundene Freiheit, also die Demokratie, und die Kultur des Geistes in ihren verschiedenen Ausformungen. Damit hat Herodot eine Vision entworfen, deren Verwirklichung schon in jener Zeit einsetzte, die sich im Grunde aber bis heute nirgends in allem erfüllt hat.
Die Bedeutung der Griechen für Europa und die Welt liegt, dies dürfen wir aus diesem Herodot-Text zusätzlich ableiten, überhaupt in ihrer Fähigkeit, Visionen zu entwerfen, also gedankliche Konzepte über Möglichkeiten des Menschen zu entwickeln und damit Zukunft vorzubereiten und zu gestalten. Lassen Sie mich dies an einigen Beispielen holzschnittartig vor Augen führen, und zwar auf den beiden erkannten Gebieten der "Freiheit" und der "Weisheit", also der Politik und der Kultur.
In Athen stand, wie man heute mit Recht sagt, die Wiege der Demokratie. Der Geschichtsschreiber Thukydides, dessen Werk zum Maßstab geschichtlicher Forschung geworden ist, hat ihr Ideal, ihr Modell für die Zukunft, in einer Rede des Perikles, des größten Staatsmannes der griechischen Antike, gezeichnet:
"Wir leben in einer Verfassung, die Vorbild für andere ist. Ihr Name ist Demokratie, weil sie nicht auf einer Minderzahl der Bürger beruht. Vor dem Gesetz sind bei persönlichen Rechtsstreitigkeiten die Bürger gleich. Und wie in unserem Staatsleben die Freiheit herrscht, so begegnen wir uns auch in der Privatsphäre frei und ungezwungen. Aber bei aller Weitherzigkeit im persönlichen Verkehr, verbietet uns die Ehrfurcht vor dem Gesetz, die Gesetze zu übertreten."
Thukydides zeigt aber zugleich auch - und das ist nicht weniger visionär - die Gegenseite des Ideals, indem er in die Abgründe der menschlichen Seele hineinleuchtet, die im Übermaß der Freiheit Macht vor Recht setzt und sogar Menschen vernichtet.
Der Philosoph Platon, heute noch als einer der größten seiner Zunft anerkannt, hat, weil sein Lehrer Sokrates an den Auswüchsen der Demokratie, wie er meinte, zugrunde gegangen war, in seinem Staatswerk "Politeia" diese Staatsform sehr gering eingeschätzt, eine Entscheidung, die für Europa weitreichende Folgen hatte. Die Römer haben die Demokratie wegen der ihr eigenen Gefahr, rasch zu einer Willkürherrschaft der Masse zu entarten, nicht zur Grundlage für die Verwaltung ihres Imperiums genommen; Freiheit spielte in der römischen Republik gewiss eine Rolle, unter der Kaiserherrschaft vergaß man aber den Begriff allmählich, Demokratie war aus dem Bewußtsein der Menschen geschwunden.
Erst 2000 Jahre später begann der Lichtfunke von Freiheit und Demokratie, der im Dunklen der griechischen Geschichte glimmte, auf der politischen Landkarte Europas wieder sichtbare Signale auszusenden. In der französischen Revolution von 1789 bekam das Wort Freiheit neben Gleichheit und Brüderlichkeit wieder Leuchtkraft und politische Dynamik. Dies geschah nicht ohne Rückbesinnung auf ihre antiken Wurzeln und nicht ohne Wirkung von Griechenland her. Seither hat sich die Demokratie als ein allerdings ganz sensibles Instrument zur Organisation menschlichen Zusammenlebens in Europa entwickelt. Die griechische Vision hat sich hier erfüllt. Demokratie ist ohne Zweifel der politische Anteil im Volumen der europäischen Identität. Deshalb sind Thukydides, Platon und Aristoteles, wie Jacques le Goff feststellt, "noch immer fruchtbare Quellen für die europäische Reflexion über die Demokratie."
Die Griechen entwarfen ihre Visionen auch in jenem anderen Raum, der von "sophia" erfüllt ist, von Einsicht, Weisheit, Vernunft, Rationalität, Wissenschaft. Zwei Beispiele mögen dies hier verdeutlichen.
Eine Schöpfung griechischer Weisheit ist der Mythos, jene erzählerische Gestaltung einer phantastischen Welt, wo sich Menschen und Götter in urtümlichen Situationen begegnen, als Hassende, voll Intrige, voll Grausamkeit und Leidenschaft, aber auch in Liebe, in Vertrauen und Treue, in gegenseitiger Fürsorge. Durch ihre Vorstellungskraft versuchten die Griechen hier zu ergründen oder sich gläubig zu vergegenwärtigen, wie es am Anfang der Welt hätte sein können. Sie projizierten ihre eigenen Sehnsüchte und Ängste in solche Bilder der Vergangenheit und schufen so unsterbliche Gestalten wie Odysseus, Ödipus, Prometheus, Orpheus und Eurydike, Sisyphus, Medea, Antigone, Kassandra, Dädalus und Ikarus, Narziss, Europa auf dem Stier. Die griechische Vision erfüllte sich hier darin, dass uns diese Gestalten und ihre Geschichten zu Erklärungsmodellen für Existenzweisen des Menschen geworden sind (auch zur Heilung der erkrankten Seele). Manchen von ihnen, wie Ikarus, Sisyphus, Orpheus und eben Europa gelten als europäische Chiffren und Symbole, in Russland ebenso verwendet wie in England oder Spanien. Die allen ins Auge springende Verwirklichung des visionären Impulses, der vom griechischen Mythos ausgeht, ist zu erkennen in seinen ununterbrochen neuen Gestaltungen in Literatur, Malerei, Plastik und Musik. Man denke an Joyce, Strawinsky, Picasso, Kokoschka, Rodin, Orff, Mattheuer, Christa Wolf und viele andere.
Der griechische Mythos ist hier unübertroffen und durch nichts zu ersetzen: "Warum ist dies so?", fragt der weltbekannte Literaturwissenschaftler George Steiner. "Wie können wir diesen außergewöhnlichen Vorrat der fundamentalen Themen und Motive, diese unaufhörliche Rückbesinnung auf griechische Stoffe und Quellen in einer positivistischen, technisch-wissenschaftlichen Ära erklären? Sind wir modernen Menschen unfähig, Mythen und beispielhafte Situationen selbst machtvoll zu bilden und zu formulieren, daß sie so beschwörend wirken wie einst in Argos oder Thessalien?" Lassen wir diese Frage so stehen!
Der zweite Raum, in dem die griechische "Weisheit" ihre visionäre Kraft entfaltet hat, ist der des Logos, der der Vernunft, der Berechnung und der Wissenschaft. "Die griechische Welt hat grundlegende Werte geliefert, die noch heute intellektuelle und ethische Instrumente für die Europäer sind." So wieder Jacques le Goff. Griechischer Geist bemühte sich von Anfang an, die Natur, die Physis, zu erklären, ihren Geheimnissen auf die Spur zu kommen.
Einer der ersten scharfen Denker ganz zu Beginn war der Naturphilosoph Heraklit. Er dachte sich hinein in die Natur und nahm - aus den sichtbaren Erscheinungen folgernd - an, dass alles, auch das scheinbar Feste, einem ständigen Prozess des Werdens und Vergehens unterworfen ist. "Alles fließt" und "Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen" sind seine klassischen Sätze dafür. Aber er nahm an, dass hinter der Welt, die er als gewaltiges Kampffeld ansah ("Der Krieg ist der Vater aller Dinge"), ein ordnendes Prinzip wirksam ist, ein Geist, eine abstrakte Realität, die verhindert, dass alles in Chaos versinkt, die für die Balance zwischen den Gegensätzen verantwortlich ist und damit Ordnung, Kosmos gewährleistet. Das war Heraklits Vision, die er den Menschen seiner Zeit und später gab und deren Richtigkeit, heute sagt man: deren Realitätsadäquanz, zu überprüfen die nachfolgenden Generationen aufgefordert waren.
Die heutige Physik hat diesen Sachverhalt der Natur durch empirische Forschung als zumindest im Ansatz zutreffend nachgewiesen. Unsere Realität, so die heutige Erkenntnis, ist nichts Festes, sondern in den kleinsten fassbaren Elementen in ständiger Bewegung, aber von einem ordnenden Prinzip gehalten. "Das Universum, in dem wir leben, würde die Merkmale des absoluten Chaos aufweisen; es wäre ein ungeordneter Tanz von Atomen, die sich verkoppeln und einen Augenblick später wieder entkoppeln würden, um unablässig in ihre unsinnigen Strudel zurückzusinken. Und da der Kosmos auf das Bild einer Ordnung verweist, führt uns diese Ordnung ihrerseits zur Existenz einer Ursache und eines Endes, die ihr äußerlich sind." Jean Guitton, der französische Philosoph und Theologe, der dies in seinem Buch "Gott und die Wissenschaft" (1993) schreibt, zieht daraus im Gespräch mit zwei Physikern den Schluss auf die Existenz eines Gottes. Heraklit nannte dieses ordnende Prinzip eben Geist, Logos, der in allem waltet, die Weltvernunft.
Tritt uns in diesem Verhältnis zwischen Heraklit und der modernen Physik, so dürfen wir weiter fragen, nicht überhaupt das Gesetz des naturwissenschaftlichen Forschens entgegen? Dass man zunächst eine Vision hat, ein im Geist vorgedachtes Konzept, ein Erklärungsmodell, das man dann durch die empirische Forschung als wahr oder falsch erweist? Nicht anders verhält es sich ja bei der griechischen Atomlehre des Demokrit und Epikur und ihrer modernen "Verwirklichung".
Es liegt auf der Hand anzunehmen, dass es ohne den griechischen Trieb zur wissenschaftlichen Erforschung der Welt, den Logostrieb zu den Erfolgen der modernen Naturwissenschaft und Technik vielleicht gar nicht gekommen wäre. Manche Forscher meinen dies; einige setzen freilich sarkastisch hinzu, dass dann der Menschheit so manches Unheil erspart geblieben wäre. Doch dies ist reine Spekulation. Feststeht, dass uns die Griechen zur Wissenschaft hinzu noch etwas anderes gegeben haben, worauf man gerade heute großen Wert legt. Die naturwissenschaftliche Forschung ist in unserer Zeit an Grenzen gelangt, die zur Erkenntnis zwingen, dass nicht alles wissenschaftlich Machbare auch ethisch vertretbar ist. Parallel und in Spannung zur Naturlehre hat sich damals im alten Griechenland ein anderes Denken radikal stark gemacht. Es begegnet uns erstmals im klassischen Satz der Sophokles-Tragödie "Antigone", wo das Chorlied über die Geistbegabung und Technikfähigkeit des Menschen mit folgendem kaum übersetzbaren Satz beginnt: "Vieles ist gewaltig. Nichts aber ist gewaltiger als der Mensch."
Die Übersetzung dieser von vielen in Anspruch genommenen und zitierten Stelle ist heute so etwas wie ein Indikator für unser Urteil über den Forschungsstandard der Wissenschaft.
Die eher optimistische Deutung kommt vom Psychologen Erich Fromm (1960). Er übersetzt:
"Der Wunder sind viele. Der Wunder größtes aber ist der Mensch."
Die eher skeptisch-pessimistische Deutung stammt vom Technikphilosophen Hans Jonas (1980). Er übersetzt:
"Ungeheuer ist viel. Und nichts ist ungeheurer als der Mensch."
Eine ganz dunkle Färbung erhält der Satz beim Kulturkritiker Rudolf Schottländer (1966):
"Schrecken bereitet vieles - Nichts tieferen Schrecken als der Mensch."
Diese Wiedergabe wäre zwar möglich von der Bedeutung des Wortes deinos ("fähig, gewaltig, schrecklich") her, sie ist aber falsch. So schrecklich haben die Griechen vom Menschen nicht gedacht. Was wollte der Tragödiendichter Sophokles lediglich sagen? Die menschliche Klugheit, seine Technikfertigkeit hat ein Doppelgesicht. Der Mensch kann, so der griechische Dichter, damit bald den guten, bald den schlechten Weg gehen. Zur Klugheit gehört die Vernunft, das rechte Maß. Sophokles hat in dieser Auffassung sehr bald einen Partner gefunden, nämlich im Philosophen Sokrates. Dieser hat sich ausdrücklich von den sogenannten Naturforschern (sophisteis) distanziert und es als vordringlich angesehen, bevor man sich um die Dinge am Himmel und in der Natur kümmert, zunächst die Aufmerksamkeit auf die Frage zu richten: Was ist gut, was schlecht? Was ist anständig, was schändlich? Was ist gerecht, was ungerecht? usw. Er berief sich dabei auf eine Instanz in seiner Seele, auf eine Art von göttlicher Stimme (daimonion), die ihm vom Schlechten und Negativen abriet. Sokrates hat etwas Neues entdeckt, gewissermaßen ein moralisches Entscheidungszentrum im Inneren des Menschen. Das war eine epochale Tat.
Der Römer Cicero hat dies 500 Jahre später gebührend gewürdigt, indem er schrieb: "Sokrates hat die Philosophie vom Himmel herabgeholt und in den Städten angesiedelt und in die Häuser der Menschen gebracht." Diesen Schritt von der Natur zum Menschen hat man die "Sokratische Wende in der europäischen Geistesgeschichte" genannt. Sokrates gilt als der Begründer der Ethik. Von ihm glaubt man heute wieder lernen zu können, dass jede Wissenschaft, besonders die Naturwissenschaft als Pendant der Ethik, der Kontrolle durch die moralische Verantwortung bedarf.
Nicht von ungefähr ist damals fast zu gleicher Zeit der Hippokratische Eid des Arztes geschrieben, in dessen Zentrum erstmals die Gedanken sowohl von der Würde des Menschen wie auch von der Ehrfurcht gegenüber dem Leben anklingen und der auch heute noch in seiner Substanz jeden Mediziner in die Pflicht nimmt. Auch Sophokles, Sokrates und Hippokrates erwiesen sich also als visionäre Denker, deren Aktualität außer Frage steht. Die Griechen haben fast gleichzeitig neben dem Logos das Ethos, neben dem Gehirn das Gewissen, neben der Wissenschaft die sittliche Verantwortung entdeckt.
Freiheit und Weisheit sind, das hat sich uns erwiesen, die Mitgift Griechenlands für Europa. Vielleicht ist durch die knappen Andeutungen auch klar geworden, wie sehr die Visionen griechischer Dichter und Denker für Politik, Kultur und Wissenschaft Europas konstitutiv geworden sind, welchen Anteil Griechenland am Paradigma Europas hat.
Heute wird beim Aufbruch ins 21. Jahrhundert von maßgeblichen europäischen Politikern mit Nachdruck festgestellt: "Wir brauchen wieder Visionen." Diese Forderung ist vor allem an unsere Jugend gerichtet, denen die Gestaltung ihrer Zukunft ans Herz gelegt wird. Damit ist ein fundamentaler Bildungsauftrag formuliert, an alle Fächer der Schule gerichtet und europaweit verbindlich. Wie aber bringt man in die Herzen junger Menschen die Bereitschaft und Fähigkeit, Visionen zu entwerfen? Dass sie fähig und bereit werden, über den Augenblick hinaus Gedankenentwürfe zu machen, auf uns Zukommendes planend in den Griff zu nehmen, also Zukunft zu gestalten?
Ich meine, eine gute, weil elementare Möglichkeit dazu liegt darin, sie an den Beispielen griechischer Visionen zu trainieren, indem man sie an den überlieferten Texten die Denkmodelle der Griechen denkend nachvollziehen lässt, indem man ihnen die Erfahrung vermittelt, wie politische und geistig-kulturelle Entwicklungen Europas mit diesen ursprünglichen Gedanken der Griechen in einem kausalen Zusammenhang stehen. Sie verspüren etwas von dem, was Europa zu Europa macht.
Auf solcher Grundlage entsteht dann ohne Zweifel auch so etwas wie die Veranlagung zum interkulturellen Dialog, zum Verständnis für andere Kulturen jenseits der Grenzen Europas.
Die Zukunft verlangt - so wird immer stärker betont - nicht so sehr umfängliches Wissen, dies gewiss auch, aber noch viel mehr das Können, mit dem gespeicherten Wissen denkend, kreativ, innovativ, verantwortungsvoll und im kommunikativen Austausch mit anderen umzugehen. Griechischunterricht ist deshalb, so betrachtet und konsequent zu Ende gedacht, Europaunterricht und Zukunftsunterricht. Griechisch ist in der Tat ein europäisches Bildungsgut.
Deshalb haben wir in Bayern und für ganz Deutschland ein modernes Lehrbuch dafür verfasst, mit dem schönen und einfachen Titel: HELLAS - GRIECHENLAND. Und wir beantworten in der Werbung für das Fach Griechisch die Frage: "Was ist heute modern?" mit der klaren Antwort: "Griechisch ist modern!" Der Deutsche Altphilologenverband, dessen Präsident ich bin, hat seinen nächsten Bundeskongress in Heidelberg 1998, an dem sich auch sehr viele andere europäische Nationen beteiligen, unter das Motto gestellt: "Die Wurzeln unserer Kultur - Latein und Griechisch für die Jugend Europas!"
Eine provokante Forderung gewiss. Aber warum sollten wir für die griechische Antike, die uns durch ihre Visionen das politische und kulturelle Europa in seinem jetzigen Standard großenteils ermöglicht hat, nicht auch eine Vision entwer
fen dürfen, nämlich die, dass das Fach Griechisch zumindest als Angebot in allen Nationen Europas erhalten oder geschaffen wird. Dies sind wir der Jugend schuldig, dies sind wir Europa schuldig und dies sind wir nicht zuletzt den Griechen schuldig.* Festvortrag, gehalten am 18. 7. 1997 in München anlässlich der Gründung der Stiftung PALLADION zur Förderung der griechischen Bildung, Kunst und Kultur - in Anwesenheit des griechischen Außenministers Georgios Papandreou.
Friedrich Maier, Berlin
Heinz Munding: Suche nach kultureller Identität im globalen Zusammenprall der Kulturen
Kurz vor der Jahrtausendwende liegt es nahe, noch einmal auf das zu Ende gehende 20. Jahrhundert zurückzublicken. Fragt man, was denn wohl in diesem Zeitraum der weltweit wichtigste Vorgang gewesen sei, so drängen sich zwei Stichworte auf: rasanter technischer Fortschritt und Globalisierung. Genauer könnte man etwa sagen, dass die enormen technischen Fähigkeiten von Europäern und Amerikanern, die sich etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts kontinuierlich und in einmaliger Präzision entwickelt hatten, sich seit dem Ende des zweiten Weltkriegs beschleunigt als auf den ganzen Globus übertragbar erwiesen haben. Die Folge war und ist, dass das zivilisatorische Gefälle, das noch um 1900 zwischen dem industrialisierten Westen und dem Rest der Welt bestanden hatte, fast völlig verschwunden oder doch zumindest erheblich eingeebnet worden ist.
Es muss daher überraschen, wenn jetzt ein namhafter amerikanischer Politologe in einem kürzlich erschienenen Buch1 neben dem zivilisatorischen plötzlich wieder den kulturellen Aspekt betont.2 Huntington sieht zwar nüchtern, daß heute z. B. in den islamischen Ländern wie in Westeuropa, in Indien wie in Südostasien, in China wie in Japan dieselben Waffen produziert, dieselben Computer benutzt und sogar zum Teil dieselben Filmstars bewundert werden. Worauf es ihm aber ankommt, ist, zu zeigen, dass sich die Menschen in diesen Ländern in ihrer angestammten Mentalität noch immer deutlich unterscheiden. Seine (uns Deutsche vor allem an Oswald Spengler erinnernde) Unterscheidung von mehreren "Kulturkreisen", in denen sich die Menschen unter dem Firnis zivilisatorischer Angleichung verstärkt auf ihre jeweilige kulturelle Identität besinnen, findet inzwischen zunehmend Resonanz. Ich meine, dass seine Thesen auch von uns Altsprachlern zur Kenntnis genommen werden sollten.
Das Buch (Kaufpreis: 68 DM) ist reich an Literaturhinweisen, im Text breit angelegt und daher nicht frei von Wiederholungen. Ich habe es (diagonal) durchgelesen und mich dabei immer wieder gefragt, was wohl Lehrer oder Lehrerinnen, die in den Fächern Latein und Griechisch unterrichten, diesem Buch entnehmen könnten. Meine diesbezüglichen Notizen möchte ich im Folgenden in drei Punkten kurz zusammenfassen:
1. Bei der Suche nach kultureller Identität im Rahmen unseres westlichen Kulturkreises haben Altphilologen, allen Unkenrufen zum Trotz, noch immer ein Wort mitzureden. Denn mit ihrem spezifischen Forschungsgegenstand verfügen sie, auch wenn dieser immer nur durch eine "geschichtliche Brille" in den Blick gebracht werden kann, über ein relativ klares Modell von Kultur, das seit der italienischen Renaissance immer wieder von hervorragenden Gelehrten in seinen einzelnen Aspekten studiert und so allmählich als ein besonders einleuchtendes Kulturganzes begriffen worden ist.3
2. Modell kann dieses Kulturganze zwar nicht mehr in einem präskriptiven Sinn von "Vorbildlichkeit" sein - schon gar nicht dann, wenn man etwa einen solchen Anspruch über den westlichen Kulturkreis hinaus auf die gesamte Menschheit ausdehnen wollte. Aber dasselbe gälte dann offenbar auch für etwaige ähnliche "Modelle" in den anderen Kulturkreisen, sofern diese sich bei ihrer Identitätssuche auf die für sie jeweils grundlegenden älteren Hochkulturen zurückbesinnen wollten (also z. B. Inder auf das alte Indien oder Chinesen auf das alte China). Denn die Industriekultur ist inzwischen so mächtig, so weltgeschichtlich "durchschlagend" geworden, dass nicht nur für die griechisch-römische Antike, sondern überhaupt für alle früheren Hochkulturen der schon vor 30 Jahren ausgesprochene Satz von S. B. Robinsohn gelten muss: "Man kann in den Verhältnissen einer Zivilisation, deren Produktionsbedingungen, deren gesellschaftliche und politische Verhältnisse und deren Weltbild von unserem so radikal verschieden sind, Normen für Weltverständnis und Verhalten nicht mehr gewinnen."4
3. Aber mit diesem Befund kann für diejenigen, die nicht nur soziologisch, sondern auch historisch und geistesgeschichtlich denken, noch nicht das letzte Wort gesprochen sein. So könnten z. B. Religionshistoriker darauf hinweisen, dass Theologen in weiten Teilen der Erde schon früh gelernt haben, die von ihnen betreuten alten Texte oder Symbole dergestalt zu interpretieren und auszulegen, dass sie in den jeweils Angesprochenen, allen historischen Unterschieden zum Trotz, das Gefühl des "nostra res agitur" zu erzeugen vermochten. Und jeder Literaturhistoriker weiß, dass neben diese theologische ars interpretandi später dann auch weltliche Varianten traten, die zwar nicht mehr an sakrale Texte oder Symbole gebunden waren, aber trotzdem zu einer ähnlichen Wirkung in den säkularen Bereichen führen konnten. Diese weltlichen Varianten sind zwar bisher auf der Erde noch nicht so weit verbreitet wie die theologische Urform. Es liegt aber m. E. in der Natur der Sache, dass sie in einer Welt von "Kulturkreisen", die sich jetzt unter den industriellen Verhältnissen um ihre jeweilige kulturelle Identitätsfindung bemühen, zunehmend an Bedeutung gewinnen müssen. -
Überlegungen wie die vorstehend angedeuteten stellt Huntington selber in seinem Buch naturgemäß nicht an. Trotzdem könnte sein Buch uns Altphilologen dazu anregen, globales Denken, das einstweilen vorwiegend im wirtschaftlichen und nachrichtentechnischen Sinn verstanden wird, auch einmal auf der kulturellen Ebene zu versuchen (wobei wir aber möglichst darauf verzichten sollten, von dem inzwischen schon allzu abgegriffenen Schlagwort "multikulturell" Gebrauch zu machen). Natürlich dürften wir die einzelnen Thesen Huntingtons nicht unbesehen übernehmen. Aber in einem Punkte sollten wir uns von ihm in einem tieferen Sinne "provozieren" lassen. Huntington scheint nämlich bei den obersten Werten der einzelnen Kulturkreise, also dort, wo sich die Menschen sozusagen im Absoluten verankern möchten, an keine "prästabilierte Harmonie" zu glauben. Es wäre m. E. nicht zuletzt für Altphilologen eine wichtige Frage, ob der Amerikaner hier recht hat oder nicht, und falls ja, welche Konsequenzen dann daraus für einen sich immer noch als "humanistisch" verstehenden altsprachlichen Unterricht zu ziehen wären.
1) Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen, Europa-Verlag 1997 (englischer Originaltitel: The Clash of Civilizations).
2) Der deutsche Sprachgebrauch von "Kultur" und "Zivilisation" entspricht bekanntlich nicht genau dem englischen und französischen. Darum sah sich der deutsche Übersetzer des Buches von Huntington hier zu gewissen Freiheiten genötigt (siehe die Vorbemerkung auf S. 14), denen ich mich hier und im folgenden anschließe.
3) "Einleuchtend" bleibt das Modell allerdings nur, wenn man die christlichen Autoren der Spätantike entweder ausklammert oder als Dokumente eines Kontrasts zur "heidnischen" Antike klar herausstellt. Will man dies nicht, so muss man m. E. konsequenterweise die Linien über das Mittelalter bis in die Neuzeit hinein durchziehen und dann auch von den für die Entstehung der Industriekultur so bedeutsamen "Säkularisierungen" christlicher Denkformen sprechen. Ich verweise hier auf die einschlägigen Ausführungen in meiner Broschüre "Antike als Gegenbild" (Speyer 1990), besonders auf deren drittes und fünftes Kapitel.
4) Vgl. Robinsohn, S. B.: Bildungsreform als Revision des Curriculum, Berlin 1967, S.19.
Heinz Munding, 67365 Schwegenheim
Helmut Quack: Zum Melanchthon-Jahr 1997
Deutschland gedenkt in diesem Jahr eines Altphilologen mit einer Vehemenz, wie sie diesem Berufsstand sonst gegenwärtig nicht zuteil wird. Eine Gedenkmünze ist ihm zu Ehren geprägt worden, eine Briefmarke herausgegeben, in über 80 Großveranstaltungen und unzähligen anderen wird seiner gedacht - alles unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten. Können sich Altphilologen bessere public relations wünschen? Wenn man etwas näher hinschaut, fällt einem eine erstaunliche Tatsache auf: Jene Tat, mit der sich der Gefeierte am tiefsten in die deutsche Geistesgeschichte eingeschrieben hat, wird auf keiner der zentralen Zelebrierungen gewürdigt, wird nur nebenbei im Rankenwerk der Feiern erwähnt.
Denn als Theologe wurde er zwischen den streitenden Eiferern zerrieben und verschlissen, als Autor in großen Folianten beerdigt, als Humanist von anderen weit überstrahlt. Dass er aber das Griechische in das deutsche Schulwesen eingenistet hat, das hat eine Spur hinterlassen, die, sei sie noch so dünn geworden, bis in unsere Tage reicht. Für diese Tat lässt sich die historische Weltsekunde genau angeben: der 29. August 1518. An diesem Tag hält der Einundzwanzigjährige seine Antrittsvorlesung vor den Studenten der Universität Wittenberg "de corrigendis adolescentiae studiis"1 und erobert mit der Glut seiner jugendlichen Begeisterung Jung und Alt in einem Schlage. Luther ist von ihm hingerissen zu einer lebenslangen Freundschaft, die jungen Scholaren strömen ihm zu, um Griechisch zu lernen. Schon zwei Jahre später sollen 500-600 Studenten in seinem Griechischkolleg gesessen haben, die bald danach die neuen protestantischen Gelehrtenschulen mit Leben erfüllten. Hören wir kurz zu: In primis hic eruditione Graeca opus est, quae naturae scientiam universam complectitur, ut de moribus apposite ac copiose dicere queas. Plurimum valent Aristotelis Moralia, Leges Platonis, Poëtae, atque ii sane, qui et optimi sunt, et in hoc legi possunt, ut animos erudiant. Homerus Graecis fons omnium disciplinarum ... Superest igitur, Iuvenes, ut audiatis, quamquam ita se res habeat, et difficilia sint, quae pulchra sunt, tamen ita vincet industria difficultatem, ut longe minore impendio bona quam mala vos sperem assecuturos ... Modo succisivas aliquot horas Graecis date, ego faxo studio ac labore meo, ne opera vos vestra frustretur ... veteres Latinos colite, Graeca amplexamini, sine quibus Latina tractari recte nequeunt.2 Die in die Rede eingestreuten griechischen und hebräischen Zitate scheinen die Begeisterung noch geschürt zu haben, obwohl sie fast allen unverständlich sein mussten.
Hat Philipp Melanchthon als Archeget des Griechischen uns heute noch etwas zu sagen? Trotz der beachtlichen Editionen und der Bücherfülle zum Jubiläumsjahr ist der originale Zugang zu ihm für eine breitere Öffentlichkeit unter den Interessierten schwer zu finden. Nur ein einziger Text ist für jeden schnell, leicht und sehr preiswert zu erreichen: Nr. 8609 in Reclams Universalbibliothek.3 Dort kann man nachlesen, was Melanchthon 1549 bereits zum wiederholten Mal zum Bildungswert des Griechischen geäußert hat.4 Seine Gründe seien in lockerer Anlehnung an die zitierte Übersetzung aufgezählt:
1) Gott hat dieser Sprache das Neue Testament anvertraut, die Unterweisung seines ewigen Sohnes an uns Menschen.
2) Die griechische Sprache war dafür geeignet, weil sie schon vorher die Lehre von einem sittlichen, bewusst gestalteten und wahrhaft menschlichen Leben in sich aufgenommen hatte.
3) Gott hat diese Sprache mit Reizen und vielen einladenden Merkmalen überhäuft, ... keine Sprache klingt angenehmer, keine dringt mit sanfteren Lauten ins Ohr.
4) Aus Griechisch schöpft man auch die übrigen Künste und Wissenschaften, die für das Leben so notwendig sind wie Luft und Feuer.
5) Das Innere des Menschen kann nur mit Hilfe der Sprache gebildet werden. Reinheit und Deutlichkeit des Ausdrucks sind der Weg zu Wahrheit und Gewissheit. Diese Fähigkeiten werden tatsächlich die nie erlangen, denen die Unterstützung der griechischen Sprache fehlt.
Alle diese Gründe werden in der Gegenwart sicher der Mehrheit der Zeitgenossen als zeitbedingt, veraltet und völlig überholt vorkommen, soweit sie überhaupt zur Kenntnis genommen werden. Eine solche Meinung lässt sich im einzelnen leicht nachzeichnen:
1) Griechisch war zur Zeit der ersten Christen zufällig die Sprache der Ökumene, der Welt um das Mittelmeer. Also mussten sie sich in der damaligen Weltsprache verständlich machen.
2) Wie kann man Teile der klassischen Literatur der Griechen mit der Lehre des Christentums in eine innere Verbindung bringen, da doch spätestens die dialektische Theologie nachgewiesen hat, wie der griechische Geist das Kerygma verfälscht hat?
3) Wer kann wagen, nach dem Klang eine Sprache gegen die andere auszuspielen, zumal eine Sprachform, die nicht mehr als Muttersprache
eines Volkes existiert? Mit solch subjektiven Eindrücken kann man alles und nichts beweisen.4) Künste und Wissenschaften brauchen als ihre Grundlage längst nicht mehr die griechischen Texte. Sie leben aus ihrer eigenen modernen Substanz.
5) Es ist eine unerträgliche Anmaßung, den Menschen ohne Griechischkenntnisse die Reinheit und Deutlichkeit des Ausdrucks abzusprechen. Nach Wittgenstein kann es selbst philosophisch gesehen nur als prähistorisch anmuten, die Sprache als Weg zu Wahrheit und Gewissheit anzupreisen.
Deutlicher, monolithischer kann das Verdikt über die Ansichten Melanchthons nicht ausfallen. Wieso dann einen solchen Menschen mit solchem Aufwand feiern? Hat er das wirklich verdient? Doch halt! Leben wir nicht nach der Entdeckung des Historischen? Wissen wir nicht schon lange, dass die Wahrheit heute oft der Irrtum von morgen ist? Darf sich vielleicht doch eine leise, scheue Palinodie schon jetzt hören lassen?
1) Es existieren in unserem Lande Kirchen, es gibt Menschen, die sich Christen nennen und Christus als Sohn Gottes bekennen. Sind sie wirklich in der Lage, die historische Situation, in der Jesus und die Apostel lebten, für zufällig zu halten? Muss nicht für sie die Ursprache der Evangelien einen besonderen Rang besitzen?
2) Dass für die europäische Welt zum ersten Mal eine höhere Schriftkultur, die fast alle Lebensbereiche durchdrang, unter den Griechen begann, ist eine unbezweifelte historische Tatsache. Ihre Sprache wurde im Munde der Dichter und Redner, unter der Feder von Philosophen und Wissenschaftlern zu einem Idiom, das alle Schattierungen des Lebens seismographisch genau wiederzugeben imstande war. Wieso sollte eine solche Sprache nicht auch ein Gefäß werden, dem die Geheimnisse einer tiefsinnigen Religion anvertraut werden konnten? Wer sich auch nur ein wenig in verschiedenen Sprachen auskennt, weiß, was in einer bestimmten Sprache leicht oder nur schwer sagbar ist.
3) Sprachen, diese Werkzeuge einer Kommunikation unter den Menschen, haben die seltsame, offensichtlich unaufhebbare Eigenschaft, Menschen emotional an sich zu binden. Das gilt natürlich in erster Linie für die Muttersprache, aber nicht nur für sie. Für den Zweck der Verständigung ist diese Faszinationskraft der Sprachen unnötig, vielleicht sogar störend. Man kann sie aber auch als Hinweis darauf nehmen, dass der Sinn von Sprache über diesen Zweck weit hinausgeht. Wieviel Nachsicht bringen wir auf gegenüber einem Menschen, der in seiner Verzauberung durch das Griechische die Hand Gottes spürte?
4) Ist man sich wirklich so einig darin, dass die Wissenschaften dem Menschen so nötig wie Luft und Feuer sind? Das Gefühl, durch Wissenschaften auch bedroht, vielleicht überrollt zu werden, ist deutlich gewachsen. Und die Künste? Jedermann preist die Werte "des Musischen", und doch ist oft die Kunst des einen dem anderen ein Greuel. Also dominieren subjektive Standpunkte in beiden Bereichen. Sollte das nicht eine Situation sein, die aus sich heraus von den Menschen verlangt, sich beim Urteilen, soweit wie möglich, von seiner eigenen zeitgebundenen Sicht zu befreien? Wie könnte das anders möglich sein, als wenn man sich in die Perspektive anderer Regionen oder - noch besser - früherer Zeiten versetzt? Wenn man das will, könnte da nicht eine so reiche Kultur wie die der Griechen eine besonders geeignete, vielleicht sogar unverzichtbare Hilfe sein?
5) Will man heute mit sprachlicher Bildung auf das Innere eines Menschen wirken? Sicher nicht, wenn als Ziel dieser Sprachbildung das erfolgreiche Bewerbungsschreiben gilt. Auch nicht, wenn das Parlierenkönnen über das alltäglich Nötige beim Fremdsprachenlernen das Maß der Dinge abgibt. Genügt es wirklich, das Innere von Menschen mit ethischen Belehrungen und staatsbürgerlichen Appellen in die rechte Form zu bringen? Empfinden, Wollen, Nachdenken - alles das ist an Sprache gebunden. Je feinere sprachliche Nuancen jemand unterscheiden kann, umso differenzierter kann er fühlen, handeln und verstehen. Ein reiches Sprachvermögen ist ein sozialer Wert. Ob vielleicht dazu eine Sprache wie die griechische doch einiges beitragen könnte? Der römische Dichter Ennius sagte von sich, er habe drei Herzen, und meinte damit sein sprachliches Können im Lateinischen, Oskischen und Griechischen. Wie viele Herzen wollen wir haben, wie viele brauchen wir?
Wie ist es? Dürfen wir doch den magister Philippus in diesem Jahr feiern, auch weil er den Deutschen das Griechische ans Herz gelegt hat?
1) Melanchthons Werke im: Corpus Reformatorum XI, 15-25, ed. Bretschneider und Bindseil, Halle 1834-1860
2) a. a. O. Sp. 22, 24-25
3) Philipp Melanchthon, Glaube und Bildung, Texte zum christlichen Humanismus, ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Günter R. Schmidt, Stuttgart 1989.
4) a. a. O. S. 182-203
Helmut Quack
Franz Strunz: Epikureische Lebensberatung
Schmerz, Tod und Fortleben, diese drei, sind der im Tagesgetriebe zumeist nicht wahrgenommene Angst- und Besorgnishinter- und -untergrund des denkenden Lebens und womöglich Ursache allen philosophischen Fragens überhaupt. Das Tier verkriecht sich zum Sterben oder sucht die Nähe eines Gefährten oder auch des Menschen. Der Mensch weiß um sein Sterben, seit er den ersten flüchtigen Überblick über sein Leben, seine Zeitlichkeit und Unabgesichertheit gewonnen hat. Der nun verstorbene Psychotherapeut Walter Schindler sagte als Achtzigjähriger in einem Vortrag: "Wir schreien als Kind nach der Mutter, wir rufen sie als Erwachsener, wenn wir in Not sind, und wir werden noch auf dem Sterbebett nach ihr rufen." Wenn wir niemandes Kinder mehr sein können, sind wir genötigt, wir selbst zu sein, ausgeliefert, verurteilt.
In Augenblicken der eigenen Infragestellung, des Alleinseins, der Krankheit präsentieren diese drei dem Menschen ihre Sicht und Perspektive der Dinge, die er nolens volens zu der seinen zu machen gezwungen ist. Schmerz und Vernichtung, die möglicherweise vollständige und endgültige, formieren und färben den emotionalen Untergrund, der noch die geglücktesten Stunden mit gradueller Bitternis durchflicht: den der Angst. Ihm kann durch den menschentypischen returnierenden Reflexionskreislauf nicht entronnen werden.
Angst erzeugt die Vorstellung des Schreckens jener drei apokalyptischen Bedrohungen und wird wiederum durch eben die Vorstellung bestärkt, bekräftigt, in Mark und Herz befestigt. "Es ist absurd, daß wir geboren werden; es ist absurd, daß wir sterben."1 Der Mut sinkt nicht selten, weil Sinnhaftigkeit abhanden kommt. Wozu der ewige Kreislauf des Lebens: Schmerz, Tod, Vernichtung? Warum ist das immer wieder durchzustehen und zu bestehen?
"Wenn die Irrtümer verbraucht sind,
Sitzt als letzter Gesellschafter
Uns das Nichts gegenüber."2
Sinnfragen verlangen drängend ihre Beantwortung. Philosophien, Religionen stehen bereit, den Menschen zu beruhigen, ihn eines Sinns zu versichern, sein Leben vor der eigenen Verwerfung zu retten, anbietend Hoffnung und Glauben aufkeimen zu lassen.
Die Ägypter balsamierten die Leiber der Toten mit Spezereien ein, um der Verwesung Einhalt zu tun und sie für das jenseitige Leben zu bewahren. Ein unlängst aufgewickelter Mumienleichnam eines zu Tode gekommenen jungen Mannes hatte den Mund geöffnet und die Zunge an die Unterlippe gepresst, damit er bei der Ansprache durch die Götter in der anderen Welt den Mund auftue und rede und so von ihnen beachtet und ihrer Gesellschaft für wert befunden werde. Hat er den Augenblick der Anrufung versäumt, da er nun seit 3000 Jahren in der gleichen Stellung verharrt? Steht dieser erst noch bevor? Oder hat ihn sein und seiner Kultur Glaube getrogen?
Eine fünfundsechzigjährige Frau, die dem wohl nicht mehr allzu fernen Tod mit Beängstigung entgegensieht, stellt sich phantasierend vor, ihre Eltern sehen von oben mit wohlwollenden Gefühlen dem Treiben ihres Kindes zu und warten auf es. Da die Unsicherheit nur schwer zu vertreiben ist, fragt sie einen Akademiker auf ihrer Verwandtschaft: "Du hast doch so lange studiert: Müssen wir wirklich alle sterben? Gibt es keine Rettung vor dem Tod und keine Ausnahmen? Gibt es ein Leben nachher?".
Stanley Kubricks Film "2001: Odyssee im Weltraum", erste Szene: "Aufbruch der Menschheit". Drei bis fünf Millionen Jahre vor unserer Zeit dämmert den Pithezinen das Bewusstsein. Zu Straußens auflodernder Zarathustra-Musik entdeckt der Pithekanthropus den Werkzeuggebrauch als Mittel des Überlebens und als tödlichen Einsatz gegen weniger Intelligente. Die Entdeckung hat ihren Preis. Er erkennt seine Sterblichkeit. Fragen kommen auf: Woher kommt, wohin geht, wer erzeugt, wer erhält das Leben? Ein nicht von der Natur produzierter, glatt behauener Steinquader begleitet die Anthropiden hinfort beständig und fordert Verehrung. Bedeutet er Religion? Bewusstsein? Kultur? Das Bündel der aufgeworfenen Probleme, der notwendig gewordenen Fragen?
Jacques Annaud: "Am Anfang war das Feuer". 80 000 Jahre vor unserer Zeit. Der Neanderthal-Mensch, der Protagonist des Films, der unter vielen Gefahren die Bewahrung und die Produktion des Feuers gelernt hat, sitzt zu Ende der Geschichte mit seiner schwangeren Geliebten und starrt in den Mond. Das Gesicht ist angespannt. Fragen spiegeln sich in ihm, die gleichen Fragen, das gleiche Verstehenwollen, ehedem wie heute.
Aufgaben genug für die philosophische Praxis.
Eine Zeit intensiver philosophischer Lebensberatung ist die Antike. Seit Sokrates kreist das Denken und seine von ihm gegebenen Antworten um Probleme des Sinns, des Woher, des Wohin. Antworten werden in Form eingängiger und eindringlicher, beinahe propagandistischer, Ermahnungs- und Lebenshilfeschriften (Protreptikoi) der verschiedenen, Sokrates' Denken aufnehmenden und fortführenden Schulen gegeben. Sie widersprechen sich in ihren Grundannahmen, in ihren Folgerungen für die Lebenspraxis, in ihren Präskriptionen zur rechten Lebensführung. Alle versuchen eine Antwort für Sinn und Bedeutung, für Handhabung und Bewältigung dieser drei: Schmerz, Tod und Fortleben.
Die Schulen gleichen Psychotherapieausbildungsinstituten. Die Lehre und das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler (Übertragung) ist integraler Bestandteil der Lebensführung, des Überzeugungsgebäudes, des Zutrauens in die Richtigkeit der Antworten. Vertrauen erleichtert die Durchführung der anempfohlenen Lebenspraxis und heilt wie in heutigen Psychotherapien, wo nicht ganz, so doch in die intendierte Richtung.
Praktische Philosophie stützt und erleichtert die Lebensmühe. Gemeinsame Überzeugungen und gemeinsames Tun bringt Gleichgewicht, schafft Identität. "Handle stets so, als ob es Epikur sähe"3, war Grundsatz seiner Schüler. Glück, ja Glückseligkeit wird als Ergebnis und Ziel der philosophischen Praxis von allen antiken Lebenskunstschulen versprochen und wohl auch von einigen Individuen und graduell erreicht. In hymnischen Worten wird sie beschreiben, etwa von den Epikureern: "Glück und Seligkeit liegen nicht in einer Menge Goldes oder in der Gewichtigkeit der Geschäfte oder in Regierungsämtern und Macht, sondern in Schmerzlosigkeit, Ruhe der Leidenschaften und einer Seelenverfassung, die das Naturgemäße umgrenzt".4
Verweilen wir bei Epikur und seiner Handhabung der drei großen Fragen.
Tod.
Laßt euch nicht verführen!
Es gibt keine Wiederkehr.
Der Tag steht in den Türen;
Ihr könnt schon Nachtwind spüren:
Es kommt kein Morgen mehr.
"Der Tod geht uns nichts an"5, lehrt Epikur. Wir bestehen nicht aus Leib und Seele, wovon ersterer als vergänglich gilt, letztere als fortlebend, sondern wir verfallen dem Tod ganz und auf ewig. "Wir sind ein einziges Mal geboren. Zweimal geboren zu werden ist nicht möglich. Die ganze Ewigkeit hindurch werden wir nicht mehr sein".6 Ein Epikureer des 18. Jahrhunderts, Voltaire, wandelt den Gedanken ab: Unser kurzes Leben ist "zwischen zwei Ewigkeiten" lediglich eingeschoben oder eingefügt.7 Den Epikureer geht der Tod nichts an; "denn was sich aufgelöst hat, hat keine Empfindung. Was aber keine Empfindung hat, geht uns nichts an".8 Das schauerliche Übel Tod verliert den Schrecken: "Denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr. Er geht also weder die Lebenden an noch die Toten".9 Der Körper zerfällt in die gröberen Atome, aus denen er besteht, und die Seele in die feineren ihrer Zusammensetzung. Sie werden im Bau der Welt und ihren Veränderungen weiterverwendet.
Wenn der Tod uns nicht betrifft, ist der selbstgewählte Tod der Gipfel der menschlichen Unvernunft. "Was ist lächerlicher als den Tod zu suchen, nachdem du das Leben unruhig gemacht hast durch die Furcht vor dem Tode?"10 Die Angst vor dem Tod ist nichtig und ihre Beseitigung eine ständige Aufgabe. "Übe dich im Sterben"11, sagt Epikur und von der gegnerischen stoischen Schule hallt als Gemeinsamkeit herüber: "Ein Leben lang muß man sterben lernen".12
Schmerz.
Laßt euch nicht betrügen!
Das Leben wenig ist.
Schlürft es in schnellen Zügen!
Es wird euch nicht genügen
Wenn ihr es lassen müßt!
Das Leben ist nicht nur wenig, sondern voller Schmerz. Epikur predigt seine Vermeidung. Bleibe fern der Welt, die in Leidenschaften, Gier, Zank und Hader ein Phantomglück zu erjagen sucht. Schare Freunde um dich, die du liebst, und philosophiere über die dir bedeutsamen Fragen. Gemeinsame Besinnung kann sie in ihrer Bedrohlichkeit bezwingen oder wenigstens entschärfen. "Wer jung ist, soll nicht zögern zu philosophieren, und wer alt ist, soll nicht müde werden im Philosophieren. Denn für keinen ist es zu früh und für keinen zu spät, sich um die Gesundheit der Seele zu kümmern".13 Selbst wenn der Schmerz körperlicher oder geistiger Art uns befällt, ist der philosophisch Geschulte und Gestärkte zu kompetenter Bewältigung in der Lage. "Jeder Schmerz ist leicht zu verachten. Bringt er intensives Leiden, so ist die Zeit kurz bemessen, hält er sich lange im Fleische auf, dann ist er matt".14
Lust.
Laßt euch nicht vertrösten!
Ihr habt nicht zu viel Zeit!
Laßt Moder den Erlösten!
Das Leben ist am größten:
Es steht nicht mehr bereit.
Sie ist das größte Gut des Menschen, Schmerz sein größtes Übel. Der Philosoph wird selbstverständlich nach soviel Lust wie möglich streben, sofern sie mit Schmerzfreiheit vereinbar ist. Die meisten Vergnügungen haben allerdings auf die Dauer mehr Schmerz im Gefolge. Bedingungslose Lustjagd ist also zu bezahlen. Zu viel und zu gut essen schadet der Gesundheit. Zu viel haben wollen bringt in Konflikt mit anderen Menschen und den Normen der Gesellschaft. Zuviel Liebesgier bindet an Frauen und knechtet durch Begehrlichkeitsfixierung. Beides bringt Unfreiheit und Missbehagen. Darum "lebe im Verborgenen"!15 Lies, philosophiere und denke über die Natur der Dinge nach.
In diesem Punkt der Lebenspraxis gehen die Wege der Epikurschüler in bestimmter Weise auseinander. Horaz, der den Wein und die Frauen mit dem gebührenden Maß, das der Meister aus Samos vorgab, liebte und begehrte, stand an dem einen epikureischen Extrempunkt, von dem aus er, sich selbst persiflierend, als "Schwein aus der Herde Epikurs" (epist. 1, 4, 16) bezeichnen kann, der die poetische Schilderung des herrlich prangenden Frühlings unvermittelt durch die aufrüttelnde Verszeile unterbricht: "Der bleiche Tod pocht mit dem gleichen Fuß an die Hütten der Armen und die königlichen Paläste" (carm. 1, 4). Epikureisches Lebensgefühl in seiner weiten Spannung. Carpe diem. An dem gleichen Kontinuumsende steht das Gedicht "Gegen Verführung"16 des Verfassers der "Hauspostille", dessen Strophen hier zu Eckmarken wurden, da ihr Dichter epikureischer Lebenspraxis am nächsten zu kommen scheint.
Am gegenüberliegenden Ende steht die Genügsamkeit Epikurs selbst: "Wenn man Brot und Wasser hat, dann darf man sogar mit Zeus an Glückseligkeit wetteifern".17
Fortleben.
Laßt euch nicht verführen
Zu Fron und Ausgezehr!
Was kann euch Angst noch rühren?
Ihr sterbt mit allen Tieren
Und es kommt nichts nachher.
Hofmannsthals Jedermann ängstigt sich vor dem Tod, da er doch kaum gelebt habe. Die Mehrzahl der Menschen verhält sich so unverständig, wie es Epikur beschreibt: "Jedermann geht aus dem Leben, wie wenn er eben erst geboren wäre".18 Er hat es nicht zu nutzen gewusst. Er hat die korrelative Polarität von Tod und Lust nicht gelebt. "Der Weise lehnt weder das Leben ab noch fürchtet er das Nichtleben. Denn weder belästigt ihn das Leben, noch meint er, das Nichtleben sei ein Übel."19
Im besonderen ängstigen sich die Menschen vor wiederkehrenden Toten, die sie im Traum heimsuchen und sie deshalb wirklich dünken. Eine falsche Anschauung, gegen die uns der römische Epikureer Lukrez verwahrt:
"daß wir nicht etwa meinen, die Seelen / kämen vom Acheron los und es gäb zwischen Lebenden, Schatten / oder etwas von uns könne nach dem Tode noch bleiben, / wenn der Körper zugleich und das Wesen der Seele vernichtet / auseinander tritt jeweils in die Körper des Ursprungs."20, die Atome nämlich.
Überdies ist dem Traum die Vorstellung der Götter zu verdanken, die sich als riesige und zürnende Menschen nächtens zeigen, den Sterblichen drohen und Furcht vor Strafe einflößen. Opfer, Religion, ständige Angst und schlimmes Gewissen folgen für die Menschen aus diesem Glauben. Sie leben in fortwährender Furcht vor den Göttern, "daß nicht etwa wegen schändlicher Tat oder herrischem Worte nahe gerückt ist die lastende Zeit der Zahlung der Sühne."21
Die Götter, wie sie die Schule der Stoiker konzipierte, sind zu moralischen Richterinstanzen geworden, die Epikurs Kritik herausfordern: "Denn wer soll nicht einen Gott fürchten, der alles plant, bedenkt, bemerkt und der in seiner Neugierde und Geschäftigkeit meint, daß ihn alles anginge?"22 Aber die Träume sind eitel und keine Indizien für das Wirken von Göttern. "Die Träume haben keine göttliche Natur und keine zukunftverkündende Kraft, sondern sie entstehen gemäß dem Einfallen der Bilder."23, der Abziehbilder aus feinen Atomen nämlich, die sich von den Dingen lösen und auf unser Auge treffen bzw. nächtlich durch die Poren des Körpers dringen und den Traum bilden.
Die epikureischen Götter sind anders. Feinstofflich aus Atomen zusammengesetzt wohnen sie in den Zwischenräumen der Gestirne, den Intermundien, und leben ein seliges Leben. Sie kümmern sich um ihre Erhaltung und ihre Lust, nicht um die der Menschen. Epikur beschreibt ihre Natur: "Was glückselig und unvergänglich ist, hat weder selber Sorgen noch bereitet es anderen solche. Es hat also weder mit Zorn noch mit Gefälligkeit etwas zu schaffen; denn alles Derartige gehört zur Schwäche".24 Die Götter sind vielmehr Paradigmen des epikureischen Ideals der lustvollen Seligkeit und Seelenruhe, an denen sich der Philosoph orientiert.
Unnötig also, sich wie der Pöbel zu benehmen, der, in Philodems Worten, "bei Traumerscheinungen sich ängstlich duckt".25 Unnötig, in Angst vor Tod und Höllenstrafen zu leben, so dass "sie die Fähigkeit für ihr weiteres Leben einbüßen, sich wohl zu fühlen".26 Der Philosoph, der sich mit Epikurs Lehre gewappnet hat, ist mit Philodem in der Lage, "ein Hohngelächter dem Tode gegenüber anzuschlagen".27 Und Metrodor, Freund und Gefährte Epikurs, sekundiert: "Ich bin dir zuvorgekommen, o Tyche. ... Wenn das Schicksal uns abruft, dann speien wir kräftig dem Leben ins Gesicht und den Leuten, die sich so erbärmlich daran klammern, und wir schreiten aus dem Leben mit einem schönen Päan, indem wir den Kehrreim dazu singen: ,Ach, wie war das Leben schön`!"28
Des epikureischen Praktikers und Beraters Aufgabe war also aus der Lehre vorgezeichnet. Wie der Arzt den Kranken, sollte er die Schüler und Klienten von der Furcht befreien und ihnen die Einrichtung in einem ausschließlich diesseitigen und einmaligen Leben ermöglichen. Er trifft sich hierin mit heutiger philosophischer Praxis, die eben erst wiederaufzuleben begonnen hat. Denn die Philosophen der letzten hundert Jahre "sind auf alle möglichen, auch brillanten Ideen gekommen, nur nicht darauf, sich all den Individuen dialogisch anzubieten, die mit der drängenden Frage durch die Welt laufen, wie sie ihr Leben führen sollen".29 Die "verbeamtete Denkerschaft" investiert ihre Energie in theorieverliebte und -verbohrte "Insiderdebatten", bleibt aber "gegenüber Fragen und Problemen konkreter Lebenspraxis"30 indifferent oder blind.
Philosophische Praxis als Lebensberatung geht auf "die praktische Selbsterschaffung und Selbstverwirklichung von Individuen"31, wie es in der Antike von Sokrates an geübt wurde, der reines Theoretisieren seiner zudringenden Fragetechnik unterzogen hätte. Philosophieren als Eigenbeschäftigung und als Beratung bringt nicht in einen endgültigen Zustand der Vollendung, "sondern ist eine perpetuelle Veränderung oder Erweiterung im Zeichen endlicher Existenz".32
Damit sind auch hier die Fragestellungen der drei eingangs aufgeführten Probleme, von denen alle übrigen als Abwandlungen betrachtet werden können, aufgegriffen. Psychologie trifft sich mit der seit und durch Freud abgewerteten Philosophie. Obwohl erstere noch verhalten in ihrem Bezirk zurücksteht, ist eine zukünftige fruchtbare Interaktion und Kooperation beider mühelos vorstellbar. Einzig die Rational-emotive Therapie von Albert Ellis, die Emotionalität intensiv über argumentative Techniken angeht, scheint eine Ausnahme. Ellis' Äußerung: "Ich würde sagen, die Philosophen hatten den größten Einfluß auf mich",33 macht ihn insoweit von den psychologischen Therapien zu einer Vermittlung am ehesten geeignet.
1) J.-P. Sartre: L'Etre et le Néant. Paris: Gallimard, 48. Aufl. 1955, S. 631.
2) Bertolt Brecht: Die Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1981, S. 99.
3) Epikur: Von der Überwindung der Furcht. Katechismus, Lehrbriefe, Spruchsammlung, Fragmente, übersetzt von O. Gigon. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 2. Aufl. 1985, S. 121. [Vgl. Sen. epist. 25,5; Anm. d. Red.]
4) ebd. S. 167.
5) ebd. S. 59.
6) ebd. S. 106.
7) Voltaire: Oeuvres complètes, vol. 16. Paris: P. Plancher, 1818, S. 160.
8) Epikur: a. a. O., S. 59.
9) ebd. S. 101.
10) ebd. S. 163.
11) ebd. S. 120.
12) Seneca: Die Kürze des Lebens, übersetzt von F. P. Waiblinger. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1976, S. 35 [= dial. 10,7,3].
13) Epikur, a. a. O., S. 100.
14) ebd. S. 106.
15) ebd. S. 167.
16) B. Brecht, a. a. O., S. 260.
17) Epikur, a. a. O., S. 168.
18) ebd. S. 111.
19) ebd. S. 101f.
20) Lukrez: Welt aus Atomen, übersetzt von K. Büchner. Zürich: Artemis-Verlag, 1956, S. 321 (4, 37-40)
21) ebd. S. 509.
22) Epikur: a. a. O., S. 126.
23) ebd. S. 107.
24) ebd. S. 123.
25) H. Diels: Philodemos, Über die Götter. Abhandlungen der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Nr. 7. Berlin: Verlag der Königlichen Akademie der Wissenschaften, 1916, S. 49.
26) ebd. S. 50.
27) ebd. S. 95.
28) ebd. S. 97.
29) R. Driever: "Philosophische Praxis ist ein Beitrag zur Lebenskunst oder sie ist gar nichts." Auszüge aus einem Gespräch von Peter K. Müller mit Ralph Driever. Agora Nr. 14/15, 1993, S. 5.
30) ebd. S. 6.
31) ebd. S. 8.
32) ebd. S. 9.
33) M. D. Yapko: Ein Interview mit Albert Ellis. M. E. G. a. Phon Nr. 19, 1994, S. 9.
Franz Strunz, 82041 Deisenhofen
Herbert Zimmermann: Aus der Praxis für die Praxis "Fächerübergreifender Unterricht"
"Fächerübergreifender Unterricht (FU)" und "Legitimation des Latein-Unterrichts (LU)" sind Themen, die zwar die Gemüter bewegen, zu deren vermeintlicher Förderung aber auch manches Irrige beigetragen wird. So in Forum Classicum 2/97, S. 85f. unter dem Titel: "Grundsätzliches zum Problem des fachübergreifenden (Latein)Unterrichts" von W. Erdt.
Über die Legitimation des LU ist in den letzten Jahrzehnten so viel diskutiert und publiziert worden, dass der Verf. des o. g. Beitrages wissen musste, dass es in gar keiner Weise hilfreich ist, zu diesem Thema lediglich "grundsätzliche" Erklärungen abzugeben. Man kann aus ihnen nichts herleiten, solange nicht die Umsetzbarkeit in der curricularen Praxis nachgewiesen ist.
Was nun den FU betrifft, so scheint mir, dass alle "grundsätzlichen" Erklärungen und wortreichen Auslassungen zu diesem Thema dasselbe Schicksal der Wirkungslosigkeit ereilen wird. Über FU lässt sich sinnvoll erst aufgrund von Modellen reflektieren.
Wenn aber W. Erdt in seinem o. g. Beitrag die Ringvorlesungen einer Universität in einem Atemzug mit dem FU am Gymnasium nennt, wenn er den FU als bloßes "Hinaussehen über den eigenen Gartenzaun" (!) bezeichnet und zum Schluss in einer sehr allgemeinen Weise die sprachlich-formale Seite des LU heute noch als dessen alleinigen Wert hinstellt, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er sich gar nicht praktisch mit dem Fachübergreifen auseinandergesetzt hat und die Prozessualität des "Fachübergreifens" nicht sieht.
Der FU liefert nicht köstliche Zutaten zum ansonsten harten Brot, sondern jedes Fachübergreifen bedeutet einen fortschreitenden Erkenntnisgewinn! Und das Erarbeiten dieses Gewinnes ist immer mit Schulung verbunden: sowohl der formalen Fähigkeiten als auch der inhaltlichen Fähigkeiten, die zu einer ganzheitlichen Didaktik hinzugehören. Natürlich verfalle ich jetzt nicht in denselben Fehler einer lediglich grundsätzlichen Erklärung, sondern äußere mich aufgrund einer Untersuchung, in der es meine Absicht war, einerseits entgegen dem bloßen Hinaussehen über den Zaun, andererseits entgegen dem bloßen Wildern in anderen Fächern methodische Möglichkeiten dieses fortschreitenden Erkenntnisgewinnes aus der anschaulichen schulischen Praxis heraus aufzuzeigen und die typischen stabilen Strukturen und damit die Seriosität des fachübergreifenden Verfahrens nachzuweisen. Es ist enttäuschend, wenn vorliegende Publikationen, die mehr als Berichte sein wollen, sich in narrativer Weitschweifigkeit ergehen, sich aber nicht um das Typische und Transferierbare eines fachübergreifenden Modells mühen, sondern jedes Modell wie einen Solitär in der didaktischen Landschaft stehen lassen. In meiner Untersuchung habe ich daher auf die bisher vermisste, aber dennoch dringend notwendige Sichtbarmachung der stringenten Logizität sowohl des methodisch übergreifenden Verfahrens als auch der Strukturen seiner Ergebnisse großen Wert gelegt und so 6 Methoden des Fachübergreifens mit Hinweis auf geeignete Texte entwickelt und für die Unterrichtsplanung in einen übersichtlichen Zusammenhang gestellt (in: Die Anregung, 1995, H. 6, S. 373-376).
Herbert Zimmermann, Jülich